Säbelrasseln an der Ostflanke
Ab Februar 2017 soll eine Panzerbrigade mit rotierenden Mannschaften die lokalen Verbündeten unterstützen. Das gab das US-Oberkommando für Europa vergangene Woche in Washington bekannt.
Ausserdem will der Oberkommandant der Nato-Streitkräfte in Europa, US-General Philip Breedlove, die derzeit im Luftraum der Baltenstaaten operierenden acht Patrouillenjets „zu einer kampfbereiten Streitmacht aufwerten“. Der litauische Verteidigungschef Jonas Zukas, ebenfalls ein General, sekundierte Breedlove bei einem Treffen in Vilnius. „Wir wollen kein multinationales Geschwader bloss als Versicherung oder politische Sichtbarkeit“, erklärte Zukas. „Wir wollen Kräfte mit dem klaren Auftrag, einen konventionellen Angriff abzuschrecken.“
Faustpfand der USA
Beide Seiten rasseln mit den Säbeln. Russland hat vor zwei Monaten die Stationierung von drei neuen Divisionen an seiner Westgrenze angekündigt. Der prominente russische Militärexperte Aleksander Golts meint jedoch, dass Moskau dafür gar nicht genügend Soldaten hat.
Die beschlossene Entsendung von bis zu 4500 Nato-Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen an die Grenze zu Russland wird das regionale Kräfteverhältnis kaum verändern. Es handelt sich eher um ein Faustpfand der USA für ihre Treue gegenüber allen Nato-Mitgliedern. Ähnlich hatte sich Washington während der Berlinkrise verhalten. Der damalige Kremlchef Nikita Chruschtschow drohte damals offen mit der Besetzung West-Berlins. Die im westlichen Teil der deutschen Hauptstadt stationierten US-Soldaten bildeten aber einen „Stolperdraht“, den die Sowjetunion nicht zu überschreiten wagte.
Angst im Baltikum
Die Annexion der Krim 2014 durch Russland und die Rolle des russischen Militärs bei der Abspaltung der Ost-Ukraine von Kiew haben in Polen und den Baltenstaaten Nervosität hervorgerufen. Könnte Russlands Präsident Wladimir Putin nicht durch seine leichten Erfolge in der Ukraine dazu verführt werden, das Szenario anderswo zu wiederholen?
Putin verwehrt sich gegen solche Unterstellungen. Die Halbinsel Krim mit ihrer mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung sei historischer Bestandteil Russlands seit ihrer Eroberung 1783 durch Katarina der Grossen in den Türkenkriegen, erläuterte er. Sein Argument liesse sich aber auch hinsichtlich Lettlands und Estlands verwenden. Beide Gebiete wurden bereits 1710 nach den Siegen Peters des Grossen gegen Schweden in das Zarenreich eingegliedert. Es waren diese Eroberungen, die den Bau von Sankt Petersburg erlaubten. Riga wurde im 19. Jahrhundert zur drittgrössten Stadt Russlands.
Misstrauen zwischen Polen und Russland
Die osteuropäischen Völker haben ein geschichtliches Langzeitgedächtnis, umrahmt von Heldenlegenden. Sie sind in dieser Hinsicht der Schweiz nicht unähnlich, wo letztes Jahr die üblichen Patrioten die 500 Jahre zurückliegende verlorene Schlacht von Marignano verklärten. Besonders tief verwurzelt ist das Misstrauen zwischen Polen und Russland. Die Polen verweisen stets auf die russische Zwangsherrschaft – zuerst unter den Zaren und dann unter den Kommunisten. Ihre tiefste Schmach war die Aufteilung Polens durch Russland, Preussen und Österreich 1795. Leicht vergessen wird dabei, dass im 15. und 16. Jahrhundert Polen in Union mit Litauen eine aggressive Grossmacht war, die ihr Herrschaftsgebiet bis Moskau ausdehnte.
Die derzeitigen nationalistisch-klerikalen Führer des polnischen Staats machen aus ihrer Abneigung gegenüber Russland kein Hehl. Jaroslaw Kaczynski glaubt entgegen den Untersuchungsberichten fest daran, dass die Russen am Absturz eines Regierungsflugzeugs 2010 vor Smolensk, bei dem sein Zwillingsbruder Lech umkam, schuld seien. Viele Polen fühlen sich von Amerika vernachlässigt und nicht ausreichend vor den empfundenen Gefahren geschützt.
"Grüne Männchen"
US-Präsident Barack Obama trägt jetzt mit seiner militärischen Geste den Befürchtungen am östlichen Rand des Nato-Bündnisses Rechnung. Umsetzen muss sie ohnehin seine voraussichtliche Nachfolgerin Hillary Clinton. Gleichzeitig nimmt Obama auch seinen konservativen Gegner Wind aus den Segeln. In amerikanischen Denkfabriken kursieren Berechnungen, wonach die russischen Streitkräfte Estland in 36 Stunden einnehmen könnten.
Putin wird aber kaum das Risiko eingehen, durch einen Einmarsch in die Baltenstaaten den Dritten Weltkrieg auszulösen. Eher würden dort wie auf der Krim „grüne Männchen“ ohne Abzeichen auf den Uniformen auftauchen, die von Teilen der russischstämmigen Minderheit begrüsst werden. Gegen ein solches Drehbuch könnten auch Nato-Panzer und -Flugzeuge nichts ausrichten.
Propaganda herunterfahren
Der beste Schutz vor einem „hybriden Krieg“ im Baltikum wäre die volle Integration der russischen Minderheit in die Gesellschaft. Ausserdem müssen Russland und der Westen ihre Propaganda herunterfahren. Am Ende der Ost-West-Konfrontation schlossen die Nato und der Warschauer Pakt 1990 einen „Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa“ (KSE). Er sollte sicherstellen, dass kein Staat die militärischen Mittel hat, einen anderen aus dem Stand anzugreifen. Warum sollte das heute unter veränderten Umständen nicht wieder möglich sein?
Mit dem Säbel rasselt vor allem Washington. Und dies permanent als globale Drohung. 47 000 Mann US-Besatzungstruppen stehen etwa immer noch in unserem Nachbarland Deutschland auf Duzenden abgeriegelter Militärbasen. Dass auch US-Truppen längst in Polen stationiert sind, weiss man inzwischen, weil sich ein Konvoi von Tanklastwagen der US-Army mit Ziel Polen im Osten Deutschlands dem "Navi" hinterher so übel verfahren hatte, dass die Orts- und sprachunkundigen GIs fast nicht mehr zurück fanden. So sieht die Realität aus. Und der Oberbefehlshaber der Nato-Truppen in Europa ist nicht etwa ein Europäer- sondern natürlich ein US-Amerikaner. Da rasselt der US-Säbel doch wohl etwas weit vom US-Homeland entfernt. Aber das ist für viele Kommentatoren offenbar kein Problem und keine Ursache für Spannungen… Wenn hingegen Russland Truppen an seiner Westgrenze stationiert, geht ein grosses Lamento los. Bitte schön: Wir stationieren auch dauernd Schweizer Panzertruppen an unserer Nordgrenze zu Frankreich in Bure (JU). Zum Glück weiss dies der US-General fürs Oberkommando in der EU Philip Breedlove nicht. Sonst würde er eventuell noch eine US-Panzerdivision zwischen Monbéliard und Audincourt im französischen Jura auffahren lassen. Aber das würde dann wohl sogar die schwache derzeitige Regierung in Paris verhindern. Estland, Lettland und Litauen hingegen haben ihre Souveränität und Eigenständigkeit militärisch schon wieder aufgegeben. Sie lassen US-Truppen auf ihren Territorien mit Panzerketten rasseln und sich vor den Streitwagen jener militaristischen US-Denkfabrikanten spannen, für die jedes Problem wie in Nagel aussieht - und darum jede Lösung wie ein (militärischer) Hammer (hat ein gescheiter US-General so gesagt). Unser Problem ist, dass die schwachen UE-Machthaber bei diesen Spielchen der USA immer noch willfährig mitmachen. Dabei könnte ihnen schon nur die folgende Frage die Augen öffnen: Zieht der böse Russe an der Grenze zu den USA Truppen zusammen, oder umgekehrt der nette Amerikaner an der Grenze zu Russland? Und wenn je oder nein, wieso und warum und in wessen Interesse? Niklaus Ramseyer
Genau, es liegt an uns Westeuropäern, den Letten und Esten die "volle Integration" der integrationsunwilligen ehemaligen Invasoren zu empfehlen. Diese Völker erinnern sich heute noch mit Trauer an die Taten ihrer unwillkommenen "Befreier".
In einem Krieg zwischen der NATO und Russland würde Europa kaputt gehen, auch Russland, aber nicht die USA. Ob den Osteuropäern das bewusst ist? Sie spielen mit dem Feuer. Jeder Krieg wurde durch Provokation und Fahrlässigkeit ausgelöst. Hinterher ist man gescheiter oder auch nicht.
Für mich hat die ewige Verteufelung Putins mit politischer Ratlosigkeit zu tun. Russland ist seit Menschengedenken ein diktatorischer Staat. Das weite Land zu demokratisieren und für mehr Wohlstand zu sorgen, dafür sollte sich der Westen auch aus volkswirtschaftlichen Gründen stark machen. Was aber tut er im Verbund mit der NATO? Im Tempo des Gehetzten wird die NATO-Grenze bis an die russische Grenze und in die Ukraine verschoben und in Polen und Rumänien Raketenbasen gegen Moskau aufgebaut. Putin warnt umsonst, die NATO sei wortbrüchig, habe sie doch bei der Implosion des Warschauerpaktes verbindlich versprochen, ihren Einflussbereich nicht auszudehnen. Die EU und die NATO schnüren Russland ein. Dass Putin mit der Besetzung der Krim und dem Donbass reagiert, dürfte eigentlich niemand verwundert. Auch Putin kann den Kalten Krieger markieren, wenn es dem Westen in dieser Rolle gefällt. Der russische Herrscher ist gewiss kein Saubermann. Würde man ihn jedoch in die Mitverantwortung für Osteuropa und den Nahen Osten einbinden, er würde mit der ihm zugestandenen Bedeutung zu viel mehr kooperativen Eingeständnissen bereit sein.