Sind wir der Schweiz überdrüssig?

Beat Allenbach's picture

Sind wir der Schweiz überdrüssig?

Von Beat Allenbach, 31.07.2014

Drei Besonderheiten der Schweiz sind mir wichtig. Doch was halten wir heute vom Zusammenleben verschiedener Kulturen und Sprachen, vom Föderalismus und von der direkten Demokratie?

Bis vor gut 50 Jahren verbrachten viele junge Frauen und Männer nach der obligatorischen Schulpflicht ein Jahr in der Westschweiz, seltener im Tessin, bei einer Familie, auf einem Bauernhof, bei einem Handwerker oder in einer Schule. Dabei entstanden Freundschaften, die manchmal ein Leben lang dauerten. Heute reisen die jungen Schweizerinnen und Schweizer eher in englisch sprechende Länder, und sie haben recht, die Welt zu entdecken. Dadurch kommt allerdings der Austausch zwischen unseren Sprachregionen zu kurz.

Englisch als erste Fremdsprache - abwegig

Seit über 20 Jahren werden in Europa und anderswo wiederum ganze Bevölkerungsgruppen nach Sprachen, Religion und Volkszugehörigkeiten getrennt; durch gewalttätige Verfolgung werden Minderheiten zur Flucht gezwungen. Angesichts der vielen ethnischen Säuberungen könnte die Schweiz ein Modell sein für das friedliche, wenn auch nicht immer einfache Zusammenleben von Menschen verschiedener Sprachen und Kulturen. Es scheint jedoch, dass das Bestehen verschiedener  Bevölkerungsgruppen innerhalb der Schweiz nicht mehr als Reichtum betrachtet wird, denn die Nützlichkeit ist heute der entscheidende Massstab.

So ist in mehreren Kantonen, z.B. in Zürich, englisch die erste Fremdsprache, sicher eine wichtige Sprache, die man aber später und mit Französischkenntnissen leichter lernen kann. Wenn das wirtschaftliche Interesse für die Wahl der Sprache den Ausschlag gibt, geht ein Wesensmerkmal  unseres Landes verloren. Wenn Schweizer und Schweizerinnen zum Englisch greifen müssen, um sich zu verstehen, kommt das einem Verrat an der Schweiz gleich.

Von der Solidarität zum reinen Egoismus

Auch der Föderalismus ist ein wertvolles Erbe. Er bietet z.B. die Möglichkeit, verschiedene Tätigkeiten auf  Gemeindeebene, also nahe bei der Bevölkerung, zu organisieren wie beispielsweise die Wasserversorgung. Die Raumplanung hingegen ist in den Gemeinden am falschen Ort, denn die lokalen Behörden sind wenig geneigt, das Gebot der  Bundesverfassung durchzusetzen, wonach der Boden sparsam zu gebrauchen ist.  Auf kantonaler Ebene war die Solidarität wichtig, denn einige Kantone sich aufgrund ihrer Lage privilegiert, andere liegen fast ganz in den Bergen.

Seit einiger Zeit heisst das Zauberwort jedoch Wettbewerb, ein unerbittlicher Steuerwettbewerb. Seit Jahrzehnten zieht der Kanton Zug Briefkastenfirmen an, aber auch  Konzerne, Rohwarenhändler sowie reiche Personen. Das bewirkte, dass sich der Kanton infolge des starken Wirtschaftswachstums und der frenetischen Bautätigkeit tiefgreifend verändert hat und weiterhin verändert. Viele wenig begüterte Einwohner mussten wegen der steigenden Mietzinse den Kanton verlassen und anderswo eine Wohnung finden. Am Wettrennen um die tiefsten Steuern beteiligen sich auch andere Kantone, z.B. Schwyz. Das wiederholte Senken der Steuern für Grossverdiener bescherte dem Kanton Schwyz und Gemeinden mit vielen Millionären erhebliche Defizite.

Sogar  der Schwyzer CVP-Regierungsrat Othmar Reichmuth ist überzeugt, dass ein Missverhältnis geschaffen wurde zwischen Arm und Reich, und in einem Interview in „Das Magazin“ sagte er weiter, dass die Rechnung „von tiefen Steuern für Reiche profitieren alle“ nicht mehr stimme. Es ist eindeutig, dass der übertriebene Steuerwettbewerb nicht im Interesse der Bevölkerung ist, und schon gar nicht in jenem der Kantone, die nicht in der Lage sind, die Steuern zu senken, sofern sie ihren Kanton fair verwalten wollen. Doch viele bürgerlichen Politiker wollen das nicht anerkennen.

Die Souveränität des Volkes ist nicht absolut

Wir haben das Privileg, Volksinitiativen lancieren zu können, um die Bundesverfassung zu erneuern. In letzter Zeit wird dieses Instrument allerdings allzu oft leichtfertig benützt, es werden den Bürgerinnen und Bürgern Volksinitiativen vorgelegt, die in Widerspruch zu unserer neuen Verfassung stehen, welche von Volk und Ständen am 18. April 1999 angenommen wurde. Ein Beispiel unter vielen: Die Ausschaffungsinitiative für kriminelle Ausländer, die im November 2010 angenommen wurde. Sie verlangt, dass Ausländer, die wegen einer bestimmten Art von Delikten verurteilt wurden, z.B. wegen Totschlag, aber auch wegen Diebstahl und missbräuchlichem Bezug von Sozialhilfe, die Schweiz verlassen müssen. Diese Forderung steht in Widerspruch zur Bundesverfassung, welche in Artikel 5 die Verhältnismässigkeit vorschreibt. 

Bei unserem Beispiel bedeutet das, in einer Interessenabwägung ist zu prüfen, ob das öffentliche Interesse an einer Wegweisung oder das Private Interesse der verurteilten Person am Verbleib in der Schweizer höher zu gewichten ist. Wie lässt sich dieser Widerspruch überwinden? Sofern eine Volksinitiative mit der geltenden Verfassung unvereinbar ist, hätte das Parlament die Pflicht, sie als ungültig zu erklären oder sie an die Initianten zurückzuweisen. Die Parlamentarien haben jedoch grossen Respekt vor den vielen Bürgerinnen und Bürgern, welche Volksinitiativen unterschreiben und ziehen es vor, das Risiko einzugehen, dass eine Initiative nicht wortgetreu umgesetzt werden kann, obschon das Ärger und Streit auslöst.

Volksinitiative und Bundesverfassung

Natürlich haben jene Recht, welche auf eine korrekte Umsetzung eines neuen Verfassungsartikels pochen, doch ebenso streng soll man darüber wachen, dass die bestehende Verfassung beachtet wird. Es wäre deshalb falsch und unhaltbar, ein in der Verfassung verankertes Prinzip durch einen neuen Artikel auszuhebeln. In diesem Dilemma könnte das Parlament folgenden Ausweg finden: Gleichzeitig mit dem Verfassungsartikel dem Volk eine zweite Vorlage unterbreiten, welche im Falle unseres Beispiels die Suspendierung des Verhältnismässigkeitsprinzip hinsichtlich krimineller Ausländer verlangen würde. Die Stimmberechtigten müssen demnach zwei Fragen beantworten und wären sich bewusst, was ihr Ja oder ihr Nein bedeutet.

Jene, die glauben, die wahren Patrioten zu sein, die Spitze der SVP und ihre Anhänger, stellen die Ergebnisse bestimmter Volksabstimmungen  über alles, auch über die Bundesverfassung. Doch nicht bei allen Volksinitiativen pochen sie auf eine strikte Umsetzung des Volkswillens, wie die Beispiele Zweitwohnungen und Alpeninitiative aufzeigen. Der Volkswille kann grundsätzlich nicht als absoluter und einziger Wert über alles gestellt werden. In der Eidgenossenschaft gibt es viele Aufgaben, die in der Kompetenz des Bundesrats liegen, andere in jener des Parlaments, manchmal sind die Bürger zuständig, in anderen Fällen das Bundesgericht. Nur wenn alle diese Instanzen sich in einem Gleichgewicht befinden, haben wir eine wahre Demokratie.

Auch vor 50 Jahren war nicht alles in Butter und vor genau 100 Jahren schon gar nicht. Da hat man einen General gewählt, der keine einzige Landessprache sprach und es gab deswegen wirkliche RöstiGrabenkriege.

Wieder ein kluger Artikel vom Autor. Deutlich stärkere Subsidiarität und Bürgerbeteiligung an Gemeindeentscheiden, wie bei uns vorhanden, ist in vielen Ländern zweifellos ein höchst erstrebenswertes Ziel. Ich teile jedoch des Autors Ansicht, dass man - von rechts (früher von links) - auch Volkssouveränitat übertreiben bzw. missbrauchen kann, wie erwähnte Beispiele zeigen. Wie oft wird "die Souveränität des Landes" (nicht des Volkes, dessen Vertretung allerdings beansprucht wird) bei missliebigen internationalen Beziehungsproblemen in der Vordergrund geschoben, verabsolutiert eben (womit der Anspruch leer wird). Das ist genauso falsch wie die sogenannte Volkssouveränität zu verabsolutieren (bzw. für eigene politische Zwecke zu missbrauchen).

Konstante ständig zunehmende Opferung. Wir neigen dazu den Erhalt des materiell Erreichten durch ständig neue verschärfte Gesetze zu sichern. Opfern freiwillig die Freiheiten des Einzelnen. Ob das auf Dauer gut geht? Heimat bedeutet selbstverständlich auch sich geborgen zu fühlen. Einbezogen zu sein in eine Gesellschaft die sich bedingungslos an Rechtsstaatlichkeit und die Verfassung hält ohne sich den ständig neurotisch erzeugten Ängsten durch Minderheiten und deren inquisitorischen Verhaltensweisen zu beugen. Wenn ich an die strahlenden Augen der Favelas-Kinder denke frage ich mich manchmal, wie viel braucht es eigentlich um glücklich zu sein. Bei uns wären alle Voraussetzungen dazu gegeben, warum dann überall dieser „Lätsch“? Die Schweiz, eines der schönsten Länder der Welt…..aber es fehlt das Lachen! Wollen wir es wieder lernen? Ja, wir wollen, es lohnt sich!....cathari

Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass im Boomkanton Zug die Schweizer Bevölkerung sinkt, obwohl sie unter dem Strich weiter wächst (dank Immigranten und Entsandten) und dass man in der Stadt Zug immer mal wieder drauf gefasst sein muss, von Verkaufspersonal auf Englisch angesprochen zu werden - sei es im Kleiderladen oder in der Badi, wenn man sich eine Glacé kaufen will.

Das ist die Wirklichkeit, auf deren Boden das politische Hickhack um Ausländerpolitik gedeiht. So hirnrissig und überflüssig und kontraproduktiv vieles sein mag, so gut nachvollziehen kann ich es doch.

Und Englisch als erste Fremdsprache ist vielleicht gar nicht so falsch, wenn wir schon dabei sind unsere Heimat auszuverkaufen und die Käufer unsere Sprache nicht mehr sprechen.

“Wenn Schweizer und Schweizerinnen zum Englisch greifen müssen, um sich zu verstehen, kommt das einem Verrat an der Schweiz gleich.” Was für ein Quatsch! Ich war nie ein Hirsch im Französischen und als ich mich für Englisch als Freifach anmeldete hiess es: lern du besser Französisch, dann lassen wir dich Englisch lernen! Das war vor 40 Jahren, heute würde ein Lehrer gefeuert werden für solche 'intelligente' Äusserungen. So ging ich nach England und lernte Englisch. In der gleichen Klasse war ein Romand - er konnte nicht Deutsch, ich nicht Französisch, so sprachen wir eben Englisch. Die Freundschaft besteht immernoch, dank dem Englischen. Eine Sprache ist Mittel der Verständigung, so dachte ich zu mindest, aber zum Glück haben wir noch richtige Schweizer Patrioten wie der Autor offenbar einer ist, und bestimmt kann er alle vier Landesprachen fliessend.

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren