Soziales Kreditsystem

Peter Achten's picture

Soziales Kreditsystem

Von Peter Achten, Peking - 20.11.2018

Der totale Überwachungsstaat droht. Nach westlicher Ansicht natürlich in China. Und im Westen?

Seit einigen Jahren treibt der technologische Aufstieg Chinas den Westen um. Stichwort etwa «Künstliche Intelligenz». Die seit langem negative China-Berichterstattung wird so seit einigen Monaten neu angefacht. Es geht um das geplante Soziale Kreditsystem, das landesweit 2020 eingeführt werden soll. Noch bevor klar ist, worum es sich dabei genau handelt, qualifizieren es China-Experten, Diplomaten und Medienkorrespondenten als Neuerfindung der Diktatur oder als ein Überwachungssystem, schlimmer als es sich selbst Orwell in seiner Dystopie «1984» vorstellen konnte.

Das geplante Kreditsystem existiert noch nicht. In verschiedenen chinesischen Städten jedoch werden – allerdings nach unterschiedlichen Methoden und Parametern – Testläufe durchgeführt. Mit Kameraüberwachung oder schwarzen Listen, wie im Westen kolportiert, hat alles wenig zu tun, viel mehr aber mit Internet und mobilen Telephonen. Derzeit besitzen rund eine Milliarde Chinesinnen und Chinesen ein Handy, und über 700 Millionen surfen im Internet.

Krücke für fehlendes Vertrauen

Vor vier Jahren hat der Staatsrat (Regierung) das neue System erstmals grob skizziert mit dem Ziel, das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft zu stärken. Angesichts vielfach fehlender Ehrlichkeit soll Aufrichtigkeit in allen ökonomischen, sozialen und politischen Aktivitäten angestrebt werden. Das Vertrauen nämlich ist in China zwischen Bürgern, unter Firmen sowie natürlich zu den zensurierten Medien und zur Obrigkeit gering. Auch die Anti-Korruptionskampagne von Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping zeugt davon. Das disruptive Sozialverhalten hat mit der jüngsten Geschichte zu tun, angefangen mit den turbulenten Zeiten Maos bis hin zum extrem schnellen sozialen Wandel, dem rasanten Wirtschaftswachstum und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land.

Die Neuerung ist indes zunächst einmal ein datengestütztes soziales Bonitätssystem. Das Soziale Kreditsystem soll theoretisch die Reputation und Kreditwürdigkeit der Bürger messen, basierend auf ihrem Verhalten. Das sogenannten Financial Credit Scoring ist etwas, das in China – im Unterschied zu den USA, zur EU und der Schweiz – bislang fehlt. Das ist mit ein Grund, warum Kredite für KMUs oder Hypotheken selten bei Banken, sondern meist nur in der Familie und bei hohen Zinsen heischenden Verleihern aufgenommen werden können.

Erzieherischer Staat

Der chinesische Staat will – ganz konfuzianisch – mit einem moralischen Unterton das Verhalten gewöhnlicher Bürger verändern. Das geht im angedachten neuen System weit über die observierte finanzielle Situation der Bürger hinaus. Basis des Systems sind grosse chinesische Firmen wie etwa Alibaba (westliches Pendant: Amazon), Tencent (Facebook), Huawei (Apple), Baidu (Google) oder Meituan. Diese Datenkraken besitzen ungeheure Datenmengen und wissen (fast) alles: finanzielle Bonität, Zahlungsfähigkeit, Strafregister, Internetverkehr, illegale Müllentsorgung, Schwarzfahren, Verkehrsbussen, Internet-Fake-News oder gar das Nicht-Respektieren der Eltern.

Beim geplanten Punktekonto für alle Bürger werden so je nach Verhalten Punkte gutgeschrieben oder abgezogen. Die Folgen können sowohl kurzfristig (Drosselung des Internet-Tempos etwa) als auch langfristig (Karriere, Beruf) einschneidend sein. Ob ein landesweites Soziales Kreditsystem rechtzeitig 2020 eingerichtet sein wird, daran zweifeln selbst chinesische IT-Fachleute: Unterschiedlich aufgebaute Systeme in Kommunen, Provinzen und Unternehmen zusammenzubringen, sei ungefähr so schwer, wie isolierte Inseln zu verbinden.

Kreativ trotz Beschränkungen

Die meisten Chinesinnen und Chinesen fürchten sich kaum vor dem neuen System. Der Zwang wird nicht grösser, als er eh schon ist. Alle wissen, dass die Medien zensuriert werden, und alle wissen mittlerweile auch, dass auf dem Internet politisch Unkorrektes nicht geduldet wird.

Viele aus dem Westen verstehen deshalb nicht, dass das chinesische Internet dennoch ein Hort der wilden Kreativität ist, ganz nach dem östlichen Prinzip des Sowohl-als-auch. Nach dem westlichen Prinzip Entweder-oder ist auch schwer vorstellbar, dass China technologisch so innovativ sein kann wie das amerikanische Silicon Valley. Nach westlicher Vorstellung gehört zur Innovation zwingend Freiheit. Im Reich der Mitte jedoch funktioniert Innovation frei nach dem Prinzip Sowohl-als-auch. Und wie! Kein Wunder deshalb, dass viele Chinesinnen und Chinesen – selbst jene, die in den USA, Europa oder Australien studiert haben – den Westen oft als bevormundend und herablassend empfinden.

Westliche Datenkraken

Im Gegensatz zur Orwellschen Überwachungs-Dystopie funktioniert das chinesische Soziale Kreditsystem mit einem Belohnungsansatz. Ob das dann schon die im Westen heraufbeschworene ultimative Diktatur sein wird, kann zumindest angezweifelt werden. Wir im Westen sollten uns lieber um unsere eigenen Datenkraken kümmern und uns klar werden, wieviel diese privaten und staatlichen Datensammler schon über uns wissen – nämlich fast alles oder mindestens soviel wie – würde es mit Schweizer Perfektionismus verwirklicht – das chinesische Soziale Kreditsystem. Im Übrigen werden immer schärfere Überwachungsmassnahmen der Öffentlichkeit und den Medien als etwas durchaus Positives verkauft, als «Schutz vor Terrorismus» zum Beispiel.

Der YouTuber Serpentza berichtet seit Jahren über China. In jüngster Zeit stellt er eine zunehmend ablehnende Haltung gegenüber Ausländern dort fest. Für Ausländer wird das alltägliche Leben zunehmend schwieriger. Das beginnt schon mit dem Kauf einer Busfahrkarte. Ohne einen chinesischen Personalausweis hat man viele Schwierigkeiten. Zudem scheint es eine Rückbesinnung auf den Kommunismus zu geben. Symbole dieser Ideologie werden neu errichtet und erinnern an Sowjetzeiten.

Hat der Mensch nicht zuallererst das Recht darauf, allein gelassen, unbeobachtet und in seinen Entscheidungen, seiner Würde, Privatheit und Intimität und in seinem Körper unberührt zu bleiben und als unschuldig zu gelten? Sind wesentliche Grundrechte nicht auch, Geheimnisse und Beziehungen zu haben und diese über Kommunikationskanäle mit gesetzlich zugesichertem Briefgeheimnis nur ausgewählten Empfängern zukommen zu lassen? Haben wir nicht grundsätzlich das Recht darauf, über alle Belange, Verfahren und Entscheide, die uns betreffen, in angemessener Frist informiert zu werden und dazu Stellung nehmen zu können? Besteht der Staat nicht in erster Linie und ausschliesslich dazu, seine Bürger, ihre Freiheit und alle ihre Rechte zu schützen und zu wahren? Mit der auch nach Snowden und Binney ungehindert weiter gehenden illegalen Totalüberwachung durch NSA und Konsorten von allem und jedem, haben die Chinesen einen internationalen Freipass erhalten, die ganzen Verbrechen der Manipulationen des Verhaltens (mind control) und der totalen Unterdrückung der Menschen, exemplarisch für den Westen im grossen Stil an der gesamten chinesischen Bevölkerung anwenden zu können. Und das ist nur das, was bereits bekannt geworden ist. Denken wir zurück an die Fichen, Gladio und zu Mkultra und Cointelpro und extrapolieren das auf die westliche Form der chinesischen Vorgabe von heute, kommen wir zum Schluss, dass wir bereits zu ferngelenkten, willenlosen Maschinen verkommen sind. Wir müssen diese Weltordnung stürzen und wieder freie, naturbelassene, menschliche Säugetiere mit gesunden Instinkten, vernünftigem Verstand und erleuchtetem Wesen werden, die mit minimalen Bedürfnissen stressfrei und emissionslos in Liebe und Frieden in einer intakten, wachsenden und blühenden Umwelt leben.

Merci Herr Kälin, das sehe ich auch so. Die ganze "Vernetzerei", wo auch immer, finde ich bedenklich.
Sie fängt für uns Konsumenten schon relativ harmlos bei Cumulus- und Super-Card und allen sog. Kundenkarten an.
Auch wenn man diese Marketing-Instrumente ablehnt, wie kann frau sich sonst gegen das alles wehren?

Richtig, wir in den wenigen noch offenen Gesellschaften ( Popper) wollen diesen harmonischen, kommunistischen Staat nicht kritisieren, weil wir schlicht und einfach zu schwach sind. Bsp. die Franzosen mit ihren 35 Stunden Arbeitsstunden gegen die 56 Arbeitsstunden der Chinesen. La grande nation will unterliegen, siehe Houllebecq. Träumen ist nicht verboten, kann aber ein böses Erwachen ...........

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren