Was die Geschichte wirklich lehrt

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Was die Geschichte wirklich lehrt

Von Stephan Wehowsky, 14.01.2016

Europa steht vor dem Zerfall, und die Vergangenheit kehrt zurück - trotz aller Mahnungen auf zahllosen Gedenkveranstaltungen.

Es bedarf keiner seherischen Gaben, um den weiteren Niedergang Europas vorherzusagen. Als erstes steht der endgültige Zerfall des Schengenraumes auf der Tagesordnung. Denn die Flüchtlingsströme werden nicht versiegen. Und es hat sich gezeigt, dass die Mitglieder der EU nicht bereit sind, wenigstens einen kleinen Teil der Flüchtlinge unter sich aufzuteilen.

Ende des Euro

Parallel dazu breiten sich Ressentiments aus. Das jüngste Beispiel liefert Polen, das ganz offen gegen die EU Front macht und dabei von Ungarn unterstützt wird. Südeuropa wendet sich gegen Deutschland, und Deutschland repräsentiert die EU wie kein anderes Land. Sowohl in Ost- wie in Südeuropa ist es üblich geworden, nicht nur die deutsche Kanzlerin, sondern inzwischen auch Repräsentanten der Europäischen Union in Naziuniformen darzustellen.

Vor diesem Hintergrund ist es geradezu unwahrscheinlich, dass es den Euro noch lange geben wird. Das System der Transferleistungen ist auf parlamentarische Mehrheiten in den Geberländern angewiesen. Dafür schwindet die politische und mentale Bereitschaft von Tag zu Tag.

Wiederholung des Bekannten

Dieser Niedergang der europäischen Idee, des europäischen Ethos findet statt, nachdem in unendlich vielen Gedenkveranstaltungen an die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts erinnert wurde. Der gemeinsame Nenner aller dieser Veranstaltungen war das Bekenntnis, dass sich derartige Katastrophen nie wieder ereignen dürfen. Aber gibt es noch Kräfte, die sie verhindern können?

Trotz aller gegenteiligen Behauptungen wiederholt sich Geschichte. Was sich ändert, sind bloss die Drapierungen und Erscheinungsformen. Niemand geht mehr mit einer Pickelhaube auf ein Schlachtfeld. Überhaupt hat sich die Art der Kriegsführung in den letzten Jahren derartig gewandelt, dass man oft gar nicht genau sagen kann, ob jetzt gerade ein Krieg stattfindet oder nicht. Aber gemordet und gestorben wird in jedem Falle. Und die Produktion von Waffen und ihr weltweiter Handel sind lukrativer als die meisten anderen Geschäfte.

Triumph der Gewalt

Was lässt sich wirklich aus der Geschichte lernen? Ganz offensichtlich lernen wir nicht, ganz neue Verhaltensweisen und Konfliktlösungen zu erarbeiten, die den Rückfall in Gewalt obsolet machen. Ganz im Gegenteil ist die Gewalt immer noch die erste und plausibelste Option. Es erfordert einen hohen intellektuellen und argumentativen Aufwand, den Gewaltbefürwortern entgegenzutreten. Wo wir auch hinschauen, in die USA, nach Osteuropa, Afrika oder Asien: Überall bestimmen diejenigen die Tagesordnung, die sich der Gewalt bedienen.

Aus der Geschichte kann man eigentlich nur lernen, dass alles möglich ist, auch das, was wir für „undenkbar“ halten. Es scheint eine Drift der Geschichte zu geben, die sich gegen die besten Absichten durchsetzt. Dagegen bieten sich nur ganz wenige Gelegenheiten, bei denen es gelingt, destruktiven Tendenzen entgegenzutreten.

Atempause der Geschichte

Eine solche Atempause der Geschichte gab es nach dem Zweiten Weltkrieg, als europäische Politiker alles daran setzten, weitere innereuropäische Kriege zu verhindern. Der Preis, der in der Vergangenheit gezahlt worden war, konnte nun als Kapital in die Zukunft eingebracht werden. Darüber wurde ganz offensichtlich nach und nach die Drohung vergessen, die in der Geschichte liegt. Und nach 1989 glaubte der Westen, dass sich einige der letzten Konfliktpotenziale ein für alle Mal aufgelöst hätten. Prompt brauten sich – von den meisten unbemerkt – die ersten neuen Gewitterwolken zusammen.

Das „Ende der Geschichte“, das der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama triumphierend ausgerufen hatte, erweist sich jetzt als der Beginn einer neuen Gewaltgeschichte. Das Grauen der letzten 100 Jahre lehrt uns eigentlich nur, was jetzt nach und nach auf uns zukommt. Technisch haben die Menschen in den letzten Jahrzehnten unglaublich viel gelernt, aber diese Fortschritte finden keinerlei Entsprechung im Umgang mit Konflikten.

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«Eine solche Atempause der Geschichte gab es nach dem Zweiten Weltkrieg, als europäische Politiker alles daran setzten, weitere innereuropäische Kriege zu verhindern.» Vielleicht war das Mittel dieser Vereinigung falsch? Und die Vasallentreue zum transatlantischen Bündnis? Und die westliche Idee der Regime-Changes in Nah- und Mittelost?

Die EU wird doch nicht untergehen, denn jetzt kümmert sich die Spitze energisch um Polen ....
;(

Die Flüchtlingsströme gäbe es nicht ohne ihre Verursacher. Nämlich die USA und ihre Verbündeten, die muslimische Länder militärisch angreifen um dort "Regime Change" herbeizuführen, und in den letzten Jahrzehnten ein Chaos im Nahen und Mittleren Osten angerichtet haben. Vielleicht stünde Europa besser da, wenn es weniger Vasallentreue im sogenannten Atlantischen Bündnis gezeigt hätte. Wie sagte Victora Nuland dem amerikanischen Botschafter in der Ukraine? Fuck the EU. Über den Satz sollte man nachdenken. .

Wie soll man aus der Geschichte Lehren ziehen, wenn man die Geschichte nicht kennt oder nicht lernen will? Wieviel Geschichte kennen die Weltbürger? Warum übernehmen denn nicht die Medien diesen Job? Da die Medien angeblich alles wissen und den besten Zugang zum Volk haben und angeblich inzwischen auch einflussreicher als die Politiker sind, wäre es an der Zeit, hier Aufklärung zu bieten, anstatt zu kritisieren und schwarze Wolken an den Himmel zu malen.

Professor Heinrich Bortis von der Universität Fribourg hat dies bereits 1992 in seinem Buch "EWR & EG - Irrwege in der Gestaltung Europas" prognostiziert.

Totgesagte leben länger

Wurde die Europäische Union nicht schon tot gesagt, bevor sie unter diesem Namen überhaupt zu leben begann? Haben nicht gerade SVP-Zürcher genüsslich vorausgesagt, dass die EU schon in wenien Jahren verschwunden sein wird? (Immerhin existiert sie jetzt auch schon 23 Jahre.
Mindestens, so lange es noch Politiker gibt in Ost und West, in Süd und Nord, die noch irgendwelche Erinnerungen haben an den letzten Weltkrieg, verliert Europa nicht ihre Existenzberechtigung. Europa wurde von Zeus in Gestalt eines Büffels entführt. Aber Zeus ist gestorben, Europa lebt. Wünschen wir, dass alle Europäer, Laien und Fachleute, Politiker und a-politische Bürgerinnen und Bürger den Glauben an eine einheitliche Kultur, geprägt von Judentum, Christentum, aber auch griechischer Demokratie und römischer Verwaltungskunst, nicht verlieren. Und auch die Gewissheit, dass Demokratie nicht nur die Diktatur der Volksmehrheit sein kann, sondern dass zur Demokratie auch der Schutz von Minderheiten, die Pflege von Kranken und Flüchtlingen, die Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Auffassungen gehört.
Ich bin zuversichtlich, dass Europa zwar noch viele Probleme zu lösen hat, dass aber auch der Wille vorherrscht, Europa zu stärken und zu erhalten.

Bernhard Schindler, Kölliken

Ihr Wort in Gottes Ohren

Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass die politische und intellektuelle Elite entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hat, indem Sie dem "gemeinen" Bürger ganz einfach zu viel aufgebürdet und seiner Stimme kein Gewicht zugemessen hat? Stichworte dazu...Globalisierung, Schlachtfeld Arbeitsmarkt, Lohn- und Vermögensschere etc. ...man könnte auch sagen, "sehenden" Auges manövrieren wir uns wieder in die damalige Situation.....kein Lernen aus der Geschichte....
Vielleicht müsste man eben auch zur Überzeugung gelangen, dass die Marktwirtschaft in einer Mangelwirtschaft richtig und gut ist, aber in einer Überflussgesellschaft nur noch zu einseitiger Verteilung führt. Genau hier müsste man den Hebel ansetzen..und es gebe durchaus Konzepte dafür...aber der Mensch halt...

Ihr erster Satz ist richtig, der Rest nicht. Marktwirtschaft ist angewandte Anthropologie und praktische Philosophie in einem, und ein Mittel der Friedenssicherung. Wenn Sie sie aussetzen - wie es mit dem Euro und den Zantralbankmanipulationen (Zinsen unter 0, Schulden "gratis") heute gemacht wird - ist alles anderes fruchtlos. Es kommt unweigerlich zum Zusammenbruch, wenn das Individuum übergangen wird und eine Macht-"Elite" (Politik und "Experten") die Verteilung von allem übernimmt. Beispiele gibt es genug, die sozialistische EU wird das nächste sein.

Vielleicht sollte man hier den Begriff "Marktwirtschaft" genauer definieren.

Die "freie" Marktwirtschaft funktioniert gut in perfekten Märkten. Diese gibt es nur zu einem Großteil nicht (mehr). Sie hat aber immer die Tendenz zu einseitiger Verteilung und bevorzugt die Brutalen, Starken, Kriminellen, Großen.

Wenn hier davon gesprochen wird, dass Marktwirtschaft angewandte Anthropologie darstellt, dann mag das stimmen und bestätigt meine obere Aussage. Denn eine Menschheit ohne Gesetze wäre ebenfalls eine Spielwiese der Starken, Brutalen,... (Th. Hobbes, Leviathan).

Philosophie bedeuted ja genau Recht, Ethik, Politik,... also Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben. Somit kann maximal eine "soziale" eine "gerechte" eine "fair geregelte" Marktwirtschaft ein Mittel zur Friedenssicherung sein.

Abgesehen davon, denke ich persönlich, dass Marktwirtschaft nur ein Mittel zum Zweck der Waren- und Dienstleistungsverteilung ist und bleibt. Ich sehe nicht, warum und wie eine Marktwirtschaft den Frieden sichern könnte. Maximal kann sie so gut funktionieren, dass sie zumindest nicht selbst der Grund für einen Krieg wird.

Und wieder mal geht Europa am deutschen Wesen - das unverbesserlich romantische - zugrunde. Der Geist, der stets das Gute will und das Böse schafft.

Aber noch ist nicht alles verloren. Wenn der Euro schnell verschwindet und eine flexible neue Lösung mit Landeswährungen und föderalistischen Strukturen in Frieden ausgehandelt werden kann, kann eine Handels-EU überleben. Und Handel und Austausch sind die Grundlagen des Friedens, nicht moralischer Hochmut und Belehrungen.

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