Was schützen wir eigentlich an der Landschaft?

Eduard Kaeser's picture

Was schützen wir eigentlich an der Landschaft?

Von Eduard Kaeser, 20.04.2013

Eduard Kaeser Wir zerstören die Landschaft auch in effigie, also mit unserer Art, von ihr Bilder zu machen. Die Bilderwelt anästhe­siert die Wahrnehmung des Originals.

Im Zeitalter des fortgeschrittenen Selbstbetrugs durch Bilder nimmt man in Kauf, dass die Landschaft, wie sie in den Medien erscheint, gar nicht mehr existiert. Die Erscheinung genügt. Wie aber finden wir den Weg zurück zu dem, was wir meinen, wenn wir "Landschaft" sagen?

Exotische, traumhafte Bilder

Bereits 1987 drückte Hans Weiss in seinem le­senswer­ten Buch, "Die unteil­bare Land­schaft", diese Paradoxie durch ein be­zeichnendes Missverhältnis aus: „ (..) je exo­ti­scher und traumhafter die Bilder sind, de­sto eher ver­schmerzen wir den realen Nie­der­gang dessen, was die natür­li­che Vorlage für das Bild war (..) Ich wundere mich über eine gewisse Lust zur Selbsttäu­schung beim Abbilden von Land­schaften und über den Um­stand, dass wir für die Rettung von Land­schaft, die eine stän­dige Quelle für unsere Träume und Vi­sionen sein könnte, so wenig auf­wen­den (..) Von der jährlich ausgege­benen Summe von 450 Millio­nen Fran­ken für Farb­filme und -bilder steht der Landesre­gierung der Schweiz etwa der dreissig­ste Teil für den Land­schafts­schutz zur Ver­fü­gung."

Landschaft als Gerät

„Aisthesis" lautete bei den Griechen der umfassende Begriff für Wahrnehmung, für Achtsamkeit mit allen Sinnen. Heute, in unseren mediali­sierten, reizüberfluteten Lebensräu­men, scheint Wahrnehmung – gerade auch durch die ambulanten Apps und Gadgets - zunehmend in Kauf zu nehmen, „von Sinnen“ zu sein. Einer grassierenden Form der Nicht-Wahrnehmung von Landschaft be­geg­nen wir in jener Fun-, Fitness- und Wellnesswelle, die demonstrativ ge­nug Land­schaft in unsere Aktivitäten miteinbezieht.: Landschaft als Gerät der Körperertüchtigung.

Jede neue Saison wi­derhallt vom letzten Schrei einer noch ausge­flippteren Sportivität, sich „draus­sen in der Natur“ zu tummeln und zu betätigen. Extrem­klettern, Al­pinmara­thon, Paragli­ding, Rafting, Canyoning, Bungeejumping, Mountain-Bi­king. Bald wird wohl jede Fluh in den Al­pen als Startplatz für Deltasegler oder Hängegleiter benutzt werden, bald werden in jedem Wild­bachtobel "Ad­ven­turers" in Neopren anstelle ver­schwundener Ar­ten her­um­lurchen, bald stür­zen sich von jeder Brücke und Staumauer Leute, wel­che die Adrenalin­zufuhr des freien Falls benötigen, um sich ihres eigenen kör­perli­chen Das­eins bewusst zu werden - sturzbewusst sozusagen.

Scenic view – Wahrnehmung als Vorwegnahme

Das Tourismusmanagement vieler Ferienorte küm­mert sich um die Erhaltung des „Ortsbildes“. Man sa­niert eine alte Kir­che oder eine Säumerraststätte hier, man re­stauriert eine historische Bau­ernstube mit But­zenscheiben, Spinnrad und Ka­chel­ofen dort. Um diese Denkmäler und Museen herum legt man dann kunstvoll und auf­wendig ein Netz von Promenaden, Wan­derwegen, Aussichtspunkten, Rast-, Er­ho­lungs-, Kinderspiel- und Picknickplätzen an. Mit dem Effekt, dass sich Landschafts­schau­lustige zu Stosszeiten an bestimm­ten Aussichts­punkten drängen wie die Lou­vrebesucher vor der Mona Lisa.

Man will eigentlich die Landschaft auch nicht sehen, man will sie gesehen haben. Die oft empfundene Sterilität von - gerade auch er­haltenen - Orts­bildern resultiert nicht zuletzt daraus, dass man die Ei­gen­wahrnehmung nicht genü­gend berücksichtigt oder ernstnimmt. Das pan­oramati­sche Sehen, die „scenic view", ist eine Form von verordneter und veranstalteter Land­schafts­wahr­nehmung: eine Vorwegnahme des Sehens („Hier gibt es das-und-das zu se­hen"). Gerade diese Vorwegnahme läuft ja darauf hinaus, dass der Um­ge­bung das weggenommen wird, was sie als lebende, physische Land­schaft bräuchte: den aktiven Gebrauch unserer eigenen Phy­sis, un­se­rer ei­genen Sinne.

Kleine Etymologie von „Raum“ und „Ort“

In diesem Zusammenhang mag vielleicht ein kurzer Blick in die Sprachge­schichte der Wör­ter „Raum" und „Ort" zu denken geben. „Raum" („rum") be­zieht sich in der ur­sprünglichen Be­deutung des Wortes auf eine physische Tätigkeit des Menschen, auf das Sich-Einrichten, das Schaffen von Platz für Siedlung, Lager, Wohnstätte. Raum wird „eingeräumt“. Er ist Spielraum der Bewegung, er ist konkret, sinn­lich erfahrener Zwischenraum zwischen den Dingen. Also nicht jene ab­strakte, un­end­liche, dreidimensionale Mannigfal­tigkeit, als die wir ihn aus Geome­trie und Physik ken­nen.

Auch „Ort" wur­zelt im Sinnlichen. Das Wort meint ursprüng­lich „Spitze" (eines Speeres, ei­ner Ahle; „vor Ort": an der vordersten Stelle im Stol­len), weist also hin auf etwas Punktuell-Einzigartiges im räumlichen Gefüge (nicht auf einen Punkt im geometrischen Raum!). „Ort“ hat immer die Bedeutung des Hinzei­genden. Er ist da und nicht anderswo. Orte sind wie Personen nicht austausch­bar. „Ich bin nicht eine Person, ich bin ein Ort", sagte die Schrift­stellerin Alice Rivaz einmal. Umgekehrt haben Orte so etwas wie eine Per­sön­lichkeit, ein Wesen, eine Atmosphäre, einen Zau­ber („genius loci").

Fehlende Orthaftigkeit

Das Landschaftliche einer Gegend besteht im Grunde darin, dass sie Orte in die­sem ur­sprünglichen Sinn des Wortes aufweist. Wir alle kennen und „haben" irgendwo solche Orte, die uns beweglich hal­ten, indem wir sie verlassen und immer wieder an sie zurück­kehren, Orte, die uns nicht selten in „Fleisch und Blut" überge­gangen sind, die wir als intimste Teile un­serer selbst he­gen. Wir alle entwic­keln einen (vitalen) Sinn für die Orthaftigkeit un­seres eigenen Le­bens, für den Geburt­sort, den Ort der Kind­heit, der Schule, Orte der ersten Liebe, Orte der Träu­me, der Sehnsucht, der Erinne­rung („an die­ser Uferstelle, wo jetzt ein Motorboothafen liegt, haben wir als Buben immer Schilfgras geraucht").

Mensch­sein wurzelt in der Ort­haftigkeit, in der „Land­schaft­lich­keit" des Le­bens. Man könnte die Güte ei­nes jeden Le­bens ge­ra­dezu anhand der konkre­ten Orte qualifi­zieren, die es triangulieren helfen, die uns etwas bedeu­ten, uns betref­fen, uns ange­hen. Solche Orte findet man aller­dings nicht auf Ortsplänen. Im Gegen­teil, nicht selten bringt Planung solche Orte zum Ver­schwinden, indem sie sie durch disponible, ver­schieb- und austauschbare Plätze und Zonen er­setzt, mit der Folge, dass sich die Ortsbilder touristi­scher Zen­tren immer mehr zu gleichen be­ginnen. Was von ihrer ehemaligen Identität dann noch übrig­bleibt, ist der Orts­name, als Logo für Werbung und Website. Mit den Orten treibt man einer Landschaft die Seele aus.

Unser Körper als nächster Kreis der Umwelt

Wer von uns wünschte sich nicht intakte Landschaften? Wer denkt freilich daran, dass in­takte Landschaften nichts anderes sind als Spiegel und Resul­tat men­schli­chen Taktes, des elementaren Vermögens, zu berühren und be­rührt zu wer­den, seine fünf (oder mehr) Sinne zu gebrauchen? Was nützt es, Tier- und Pflan­zenarten zu erhal­ten, wenn wir kein ent­spre­chendes Senso­rium mehr dafür haben? Was nützt es, Ortsbilder zu erhalten, wenn wir den Sinn für unsere eigene Orthaftigkeit verlie­ren?

Im Mörser der Glo­balisierung, die be­stenfalls noch Wirtschafts­stand­orte kennt, wird die Land­schaft­lichkeit un­se­rer Umge­bungen zerrie­ben, und mit ihr eine ganze Di­mension des Hu­ma­nen, näm­lich die einfache, elemen­tare Kennt­nis des Na­hen, uns Na­helie­gen­den. Dieses Na­heliegende erfahren wir immer im Me­dium unserer Sinne, durch unseren Körper. Er ist der erste und nächste Kreis der Um­welt. Mit der fortschreiten­den Verwü­stung der Landschaften verwü­sten wir auch ihn zuse­hends. Des­halb beginnt Ö­kologie, nachhaltige Land­schaftspflege, im naturwüchsigen „Zu­hause", im Medium des Kör­pers.

Gehen schafft Schönheit

Re­generation von Land­schaft würde somit auch Regeneration (um nicht zu sagen: Wieder­entdeckung) eines Sen­soriums und einer Sensibili­tät für die Landschaft­lich­keit unserer Umwelt bedeuten. Zum Beispiel dadurch, dass wir vermehrt wieder gehen. Gehen ist die Schule der Sinnlichkeit. Gehen ist eine Form, ja, Kultur der gelassenen Erfahrung, die uns Orts­sinn, Sinn für Zwischenräume lehrt. Zwi­schen­raum meint hier alles, was uns in der Re­gel in der Geschäftigkeit des Alltags ver­borgen bleibt, was wir „zurückle­gen", „auf der Strecke lassen", wenn wir uns mit den heute üblichen Verkehrsmit­teln von A nach B bewegen.

Wer mit Kindern spazieren geht, weiss, was Zwischenraum bedeutet - die Erfah­rung nämlich, nicht vorwärtszu­kommen. Was uns Erwachsenen im Weg liegt, ziehen Kinder meist gerade als Weg vor. Weil Kinder, diese sinnlichen We­sen par ex­cellence, in ih­rer elementaren Neugier am Kleinsten und Unscheinbar­sten hän­gen­blei­ben. Weil sie sich die Frei­heit für den Zwischenraum herausneh­men, für die To­pografie der Ritzen, Spalten, Ni­schen, Verstecke, Falten und Run­zeln der Erde. Kinder sind in dieser Hin­sicht die besten Lehrer. Sie leben im Lokalen. Sie definie­ren es. Ihre Welt ist er­füllt von Zwi­schenraum, jenem Lebenselement, das wir Erwachse­nen mit unse­ren flur­bereinigten Köpfen fortwährend versiegeln, zu­schütten, begradi­gen, ap­pla­nie­ren, ausräumen. Wie sagte der Basler Kunsttheoretiker und „Promenadologe“ Lucius Burckhardt: Gehen schafft Schönheit.

Sinnlichkeit als zivilisato­rische Aufgabe

Jemand hat Technologie einmal als Trick charakterisiert, die Dinge so zu ar­rangieren, dass wir sie nicht mehr zu erleben und zu erfahren brauchen. Ge­rade diese Ent­wicklung scheint unseren Landschaften und Umwelten bevorzustehen. Wir sehen uns deshalb vor eine grundsätzliche Option gestellt: Was für eine Natur, was für eine Umwelt wollen wir eigent­lich? In dieser Frage sind die letzten Worte noch längst nicht gesprochen. Mitent­scheidend für ein ausgewogeneres Verhältnis zur Natur dürfte die Auffassung menschlicher Sinnlichkeit als zivilisato­rischer Aufgabe sein.

Die ermutigenden Anzeichen mehren sich, dass Naturwissenschaf­ter, Anthropologen, Mediziner, Phi­losophen, Raum­planer, Architekten, Künstler, Pädagogen sich in einem impliziten „aisthetischen" Projekt engagieren, unser "Sinnenbewusstsein" wiederzuerwecken. Ein solches Projekt sollte auf keinen Fall als anti-technologischer Reflex oder als simples Pro­gramm zur Abna­belung von den neuen Me­dien interpretiert wer­den. In Augenhöhe mit dem tech­nologischen Fortschritt hält es uns vielmehr an zur Rückbesinnung auf die Regene­rations­möglichkeiten der Landschaft „von innen“ her.

Landschaftserfahrung „bei Sinnen“

Es geht also letztlich nicht nur um den Schutz von Auen, Fluren, Wäldern, Tälern, Mooren, von Augenfalter, Wiedehopf, Geburtshelferkröte oder Neunauge; noch bloss darum, verdolte Bachläufe wieder auszugraben oder Seeufer öffentlich zu­gänglich zu machen. Wo wir Landschaft geschützt haben, steht ihre Rettung meist erst noch be­vor.

Um im Bild zu bleiben: Sofern uns an einem „erweiterten“ Um­weltbe­wusstsein gelegen ist, müssen wir nicht nur verdolte Bäche aus­graben, sondern mit ihnen zugleich ein „verdol­tes“ Potenzial in unseren Kör­pern. Wenn mit Namen wie jenem Peter Zumthors eine „Architektur der Sinnlichkeit“ in­ter­national gefeiert wird, dann möchte man doch schüch­tern daran erinnern, dass Sinnlich­keit kein Baustil ist, sondern das elementare Verhältnis des Menschen zu seinen Umwelten.

Retten bedeutet Befreien

Anders gesagt, wir lernen Berge, Fels und Wasser nicht erst dann neu sehen, wenn wir in die Thermen von Vals pilgern und uns auf den Schwitz­stein setzen, wir können das „neue“ Sehen überall einüben, an einem „Ort", der uns am näch­sten liegt: am eigenen Leib. Ret­ten be­deutet Befreien, aus ob­jektiven Notla­gen, aber auch aus subjektiven Fesseln. Und was uns heute vor al­lem fesselt, ist eine chronische Le­bensbetäu­bung, die sich als hochentwickelte Le­bensform lobpreist.

Retten wir so den Wiedehopf? Ich weiss es nicht. Mein Argument für den Land­schaftsschutz, für den Naturschutz generell, ist - wie gesagt - ein indi­rektes: Was wir „Natur" nennen, ist immer ein Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Na­tur erhalten heisst also ein be­stimmtes Verhältnis zu ihr er­hal­ten, und das heisst in unserem Fall: eine Kultur der Wahr­nehmung, welche Fin­gerspitzenge­fühl, Takt, esprit de finesse still einbaut in den Um­gang mit Sachen, Pflanzen, Tie­ren, Men­schen - also eine rettende, d.h. uns befreiende Erfahrung, die buchstäb­lich bei Sinnen ist.

Ähnliche Artikel

mensch-umwelt, mensch-natur stehen sich nicht gegenüber aus der entfernung ist jede stadt auch ein ameisenhaufen

wenn Mehrere weggingen. Dann geht's auch wieder!

Ein wunderbarer Artikel! Gratuliere. Es ist ja nicht überraschend, dass die Entfremdung durch umgedreht sein sich wie eine Seuche ausbreitet. Abgewandt vom eigenen Wesen und von der natürlichen Zugehörigkeit bedeutet meist auch getrennt sein vom Ganzen. Die Entfremdung vom eigenen Selbst erzeugt zudem gespaltene neurotische Persönlichkeiten. Die Sinnlosigkeit des Gekettetseins an die von Opinon Leaders erzeugten „Must“-Welten hindert uns daran, Feng Shui wahrzunehmen. Ich möchte mich jedoch fallen lassen in die Ganzheit der umgebenden Gegenwart. Ich liebe es auch in ewiger Gegenwart zu leben d.h. (mit der Zeit zu gehen) und das ist keineswegs ein Widerspruch gegenüber dem sinnlichen Erfahren der Welt mit Einbezug der Vergangenheit oder wie sie ist. Ostern oder die Widergeburt nach christlichem Verständnis könnte für viele bedeuten: raus aus der Entfremdung und Rückkehr zum eigenen Selbst. Unser Ziel muss sein, ganz geboren zu werden und die Pubertät zu überwinden. Eine täglich neue Aufgabe! Wer die Welt als Ganzes erleben kann und die Fähigkeit des sich Hineinfühlens widergewonnen hat, wird durch Ehrfurcht, Mitgefühl und Respekt gegenüber allen Wesen schlussendlich zu sich selbst finden.

Manches ginge besser, wenn Viele mehr gingen

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren