Zukunftsräte
«Unsere Gesetzgebung lebt zu stark von der Hand in den Mund. (...). Die Bedürfnisse des Tages bestimmen in übergrossem Masse die neuen gesetzlichen Erlasse. Oft setzt sich eine Erkenntnis plötzlich durch, obwohl die Ursachen der nunmehr als bedrohlich erkannten Entwicklung weit zurückreichen und von manchen, auf deren Stimme man kaum hörte, längst gesehen worden sind. Aber die äussere Bedrängnis bedarf einer gewissen Augenfälligkeit, um in unserem Staat Anlass zum Handeln zu setzen.» (Max Imboden, ‚Helvetisches Malaise’, 1964)
«Die Schweiz soll in den kommenden fünf Jahren zu einem richtigen Zukunftsräteland werden, mit Zukunftsräten in Schulen, Gemeinden, in Unternehmen, Kantonen und auf Bundesebene. Dadurch können langfristige Massnahmen, die in Richtung einer zukunftsfähigen Schweiz führen, sorgfältig vorbereitet, stetig und wirksam in die gesellschaftlich-politische Entscheidungsfindung eingebracht werden.» (Robert Unteregger, Stiftung Zukunftsrat)
Fünfzig Jahre von Diagnose zu Therapie
Max Imboden und Robert Unteregger sind sich nie begegnet; als Imboden 1969 starb, besuchte Unteregger noch die Primarschule. Und doch verbindet die beiden die Überzeugung, politisches Handeln bedürfe einer langfristig ausgerichteten Sachkompetenz auf Vorrat, welche nicht der kurzfristigen Hektik des politischen Entscheidens ausgesetzt ist. Imboden schlug dafür einen ‚zivilen Generalstab’ unter der Kuppel des Bundeshauses vor, welcher zuhanden der Politik für wichtige Fragen mehrere mögliche Entwicklungspfade vorzubereiten hätte und so jenen, welche gemäss Verfassung das politische Steuer in der Hand haben, anstelle von Sachzwängen echte Alternativen zur Verfügung stellen würde.
Mehr als dreissig Jahre später, 1997, wurde die Stiftung Zukunftsrat gegründet. Über 200 Stifterinnen und Stifter, darunter viele bekannte Persönlichkeiten, legten damals den ideellen und finanziellen Grundstein für eine Bewegung, welche sich das Ziel gesetzt hatte, «die kurzzeit-orientierte und kurzzeit-bestimmte gesellschaftlich-politische Arbeitsweise institutionell – mit Zukunftsräten – um die Dimension der Langzeit zu ergänzen.» Das oberste Ziel, die Institution Zukunftsrat in der Bundesverfassung zu verankern, erlitt zwar das typisch eidgenössische Schicksal aller Visionen. Doch immerhin gelang es der Stiftung, die Idee in die neue Verfassung des Kantons Waadt (2004) einzubringen. In anderen Kantonen führten die Bestrebungen wenigstens zur Lancierung von entsprechenden Diskussionen und Absichtserklärungen, welche die Hoffnung der Initianten am Leben halten.
Doch die Stiftung Zukunftsrat hätte ihr ideelles Kapital längst aufgebraucht – vom finanziellen gar nicht zu reden –, gäbe es da nicht die unerschütterliche Zuversicht und Hartnäckigkeit ihres Mitbegründers Robert Unteregger. Für Gotteslohn reist er seit über fünfzehn Jahren durchs Land, schafft es manchmal sogar bis in Fachkommissionen eidgenössischer, kantonaler oder kommunaler Parlamente, ins Radio oder in die Presse, bemüht sich um die Jugend nicht weniger als um das Politestablishment. Eine wahre Sisyphusarbeit, hinter der man die Tat eines weltfremden Idealisten vermuten könnte.
Zukunftspfade
Doch weit gefehlt: Robert Unteregger ist Denker und Mann der Tat zugleich. Zusammen mit zahlreichen Experten hat er vor einigen Monaten eine Schrift mit dem Titel «Zukunftspfade» herausgegeben. Damit hat die Stiftung im Milizsystem das begonnen, was eigentlich die Aufgabe des damals von Max Imboden vorgeschlagenen zivilen Generalstabes hätte werden können. Auf wenig mehr als hundert Seiten werden 45 zukunftsrelevante Themen dargestellt, dazu die wichtigsten Fakten zusammengetragen und jeweils am Schluss unter dem Titel «Zukunftsfähig?» zentrale Fragen zu möglichen Strategien gestellt, welche Leserin und Leser zur persönlichen Reflexion zwingen.
Die Themen werden in sieben Kapitel gruppiert. Zum Kapitel ‚Haushalten und Wirtschaften’ hat Robert Unteregger in diesem Januar und Februar eine aus zweimal drei Tagen bestehende Konferenz auf dem Gurten organisiert, welche Kernideen für ein langfristig tragfähiges Wirtschaften zu entwickeln hat. Fachleute aus allen Bereichen, darunter Persönlichkeiten wie Peter Hablützel oder Jean-Daniel Gerber, stellten sich im ersten Teil der Konferenz im Januar der Diskussion zu brisanten Themen, zum Beispiel zur Frage tragfähiger Alternativen für den Bankenplatz Schweiz oder zur Rolle des Marktes. Nur eben, wer unter den noch aktiven Politikern gönnt sich im Getöse des Politbetriebes den Luxus, während ein paar Tagen ernsthaft über die Zukunftsfähigkeit unserer Politik nachzudenken?
Und damit wären wir wieder bei der Diagnose der Sechzigerjahre. Die Antwort auf das Helvetische Malaise war damals die Gründung unzähliger Expertenkommissionen, angefangen bei der Totalrevision der Bundesverfassung über die Raum-, Verkehrs und Energieplanung. Visionen gab es damals nur wenige, und wo sie zaghaft ihren Kopf erhoben, wurden sie von der Wirklichkeit überrollt oder verirrten sich selber in ideologischen Sackgassen. Haben diese Kommissionen tatsächlich den Gang der Dinge beeinflusst oder gar bestimmt? Und hätte ein Zukunftsrat oder ein ziviler Generalstab der Schweiz die Blamagen der letzten Jahre in Sachen Holocaust-Gelder, Bankenkrise, Bankgeheimnis u.a. erspart?
Die Politik versagt nicht aus Mangel an Wissen
Ich bezweifle, dass die Politik durch einen Mangel an Wissen und Alternativen bestimmt wird. Das Wissen ist in Hülle und Fülle vorhanden. Aber um sich auf eine Reise zu begeben, braucht es zwei Dinge: erstens eine Karte mit möglichen Zielen, Hindernissen und Gefahren, und zweitens eine Motivation.
Schöne Reiseprospekte nützen wenig, denn die satte Schweiz bewegt sich politisch erst, wenn es ihr am alten Ort ungemütlich wird. Meist kommt der Druck von aussen. Man rückt ihr wegen des Bankgeheimnisses auf den Leib, oder ein Erdbeben vernichtet über Nacht den Glauben an die Kernkraft. Schon immer hat man solche Veränderungen als eine Art von Naturereignis aufgefasst, wie Unteregger sagt. Wenn es dann aber soweit ist, geht es in der Schweiz plötzlich ganz schnell. Vergessen sind alte Grabenkämpfe und politische Tabus, man wird Weltmeister im Über-den-eigenen-Schatten-Springen.
Wenn man liest, zu welchen Themen und mit welchen Argumenten sich vor fünfzig Jahren die Parteien und Verbände gestritten haben, kommen einem Tränen der Rührung. Und so wird es auch in Zukunft sein. All die profilneurotisch lancierten Initiativen, die uns laufend an die Urne rufen, werden aus zeitlicher Distanz wohl genau so wenig nachvollziehbar sein wie manche Abstimmungsthemen der Sechziger- und Siebzigerjahre.
Trotzdem: Wir brauchen Idealisten
Sind Zukunftsräte und Idealisten also überflüssig? – Nein, keineswegs. Eine Gesellschaft, welche keine Menschen hervorbringt, die es sich zur Aufgabe machen, über die scheinbaren realpolitischen Grenzen hinweg zu denken, zu handeln und die damit verbundene Einsamkeit auf sich zu nehmen, ist tot oder hat sich aufgegeben. Es braucht Leute, welche ins Trapez liegen, damit die grosse ‚zentrierte Masse’ sich ein bisschen bewegt.
Die Arbeit von Zukunftsräten, seien diese institutionalisiert oder das Werk von ein paar Vordenkern, welche nicht auf die langsame Politik warten wollen, ist die Würze in unserem Politbrei. Und wie das so ist beim gewürzten Brei: Beide brauchen einander, der Brei und die Würze, auch wenn wir beim Essen des Breis nur dann an die Würze denken, wenn sie plötzlich fehlt.
Weiter so, ihr Untereggers dieses Landes, auch wenn es zuerst immer «einer gewissen Augenfälligkeit» bedarf, bis wir uns wirklich bewegen.
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Der zweite Teil der Konferenz ‚’Haushalten und Wirtschaften’ findet vom 19. bis 21. Februar 2014 auf dem Gurten statt. Weitere Informationen finden sich im Internet. Dort oder im Buchhandel kann auch die erwähnte Schrift bestellt werden: «Entwicklungspfade – Grundlagen zur Zukunftsgestaltung der Schweiz in 45 Themen», Rüegger Verlag Zürich/Chur, 2013.
lieber Gott, bewahre uns vor den Idealisten und den Weltverbesserern. Das endet immer gleich - im Umerziehungslager (heute auch Schule genannt) oder noch schlimmer. Es lebe die Veränderungsresistenz, der WIDERSTAND gegen den moralisierenden Zeitgeist. Und bitte lieber Gott, erhalte uns das Geldsystem mit Zins und den Markt, damit wir unsere Interessen nicht via Begünstigung (durch "Zukunftsräte"?), Korruption, Gewalt und Krieg ausgleichen müssen. Dankeschön.
Damit ich Ihren Kommentar besser verstehe, würde mich interessieren:
Ist er nun ernst gemeint - oder ironisch?
Dankeschön auch.
Die Schweizer Politiker haben immerhin noch das Glück, das alle wichtigen Änderungen direkt vom Wahlvolk beschlossen werden, das nicht so stark unter Veränderungsresistenz leidet. In meiner Heimat Deutschland habe ich den Eindruck, das der Veränderungswille sowohl bei den Politikern als auch beim Wahlvolk ähnlich groß ist, wie in der ehemaligen Sowjetunion oder im Politbüro der SED. Das gleiche gilt für die EU.
Schöner Beitrag. Danke.
Ich glaube ich schrieb hier kürzlich mal bei einem Kommentar, dass ich mir eine langfristig ausgerichtete Politik wünsche, wo man bei einem zukünftigen Problem die Lösung nur aus der Schublade nehmen muss, bzw. rechtzeitig verhindern kann, dass ein Problem erst auftritt. Schön wär‘s.
Eigentlich wäre die Zukunftsgestaltung ein Job der Ökonomen und Denkfabriken, die wie ich leider spüre, auf komplett falschen, ja sogar gefährlichen Ideologien aufbauen. Gerade die auf Milton Friedman (Nobelpreisträger, starb 2006) aufbauende Ökonomie, kann falscher nicht sein. Dummerweise basiert auf dem seiner Meinung die globale Politik und Wirtschaft der letzten knapp 60 Jahre. Die Auswirkungen kann man in Detroit, Griechenland und Spanien auf eindrückliche Weise sehen. Ja dieser Mann riet der US- Politik auf den Goldstandard (Bretton-Woods) zu verzichten und führte das wertlose ungedeckte Geldsystem ein. Damit leutete er den ankündigbaren Untergang der Wirtschaft ein. Wenn man es genau nimmt, hat dieser Mann die heutigen Finanzprobleme verursacht und hat direkt mehre Millionen Menschen auf dem Gewissen.
Die US-Ökonomie, ja vermutlich die in der Schweiz gelernte Ökonomie, dient letztlich nur dazu, die Bürger und Staaten auszubluten. Sie sagen es zwar nicht direkt, aber es ist die Folge dieser fehlgeleiteten, auf Wachstum basierten Strategie. Zudem will man den Staat schwächen und den Markt sich selbst überlassen. Sorry, man sieht doch in der Wirtschaftskrise und den Billionen-Betrügereien, dass man die Banken, Schattenbanken, Versicherungen und Ratingagenturen an einer extrem kurzen Leine halten muss.
Der Staat ist doch eigentlich gar nicht so übel, zumindest in der Schweiz. Diese Leute können wir immerhin wählen, während wir in der Wirtschaft niemand wählen können. Außerdem dürfen wir hin und wieder mitreden, was in der Wirtschaft selten bis nie vorkommt.
Ich halte entgegen dieser Ökonomen auch gar nichts von Privatisierung. Die Bundesbetriebe funktionierten früher um längen besser als heute, seit sie unabhängig sind. Ich habe nichts davon gehört, dass der Steuerzahler von den Aktionären etwas dafür erhielt, als die Konzerne an Private überging. Aber der Betrieb wurde mittels Steuermittel aufgebaut. Also handelt es sich bei der ökonomischen Friedman-Ideologie um Diebstahl. Da wird der Regierung ein Betrugssystem aufgedrängt.
Gerade heute war ein Bericht in der Basellandschaftlichen über den "Star"- Ökonom Robert J. Shiller. Sorry, wenn der ein Nobelpreis kriegt, müsste ich mit hunderten überschüttet werden. Ich habe mir ernsthaft überlegt, ob ich ins WEF gehen soll und dem den Hosenboden mit einem Bambusstock versohle, am besten vor der Kamera. Schreibt er doch, Finanzkrisen sind überbewertet. Auch den Rest, den er verzapft, geht gar nicht.
http://www.basellandschaftlichezeitung.ch/wirtschaft/nobelpreistraeger-s...
Ja, vermutlich in seiner Elfenbeinturm-Penthouse Suite in New York, oder wo immer er lebt, sieht die Welt etwas anders aus als in den Zeltstädten (zu finden in 55 US-Metropolen), wo die Leute aus ihren Häusern vertrieben wurden nun ohne Bankkonto leben, weil sie keine Adresse angeben können, und so ohne jegliche Aussicht auf einen Job vor sich hinvegetieren. dann gibt es noch Familien, die die in einem Auto wohnen. In den USA sind knapp 50 Millionen (ein sechstel) von Nahrungsmittelabgaben des Staates abhängig. Aber die 50 Millionen, ja in hundert Jahren hat man die dann vergessen, schon klar.
Der Typ sollte sich mal in Griechenland oder Spanien umsehen und diese verlogenen Worte den Leuten dort ins Gesicht sagen, die ihre Häuser und Jobs wegen solchen Idioten verloren. Ich glaube er würde den Tag nicht überleben.
Da gibt es Komiker, die werden aus den Medien gemobbt, weil sie antisemitisch (übrigens ein komplett falsches Wort) sind, aber dieser "Star"-Ökonom ist antimenschlich, unsozial und meines Erachtens brandgefährlich, weil die Politiker und Nobelkomitee, dem Betrüger noch glauben. Diese Leute sollte man aus den Medien verbannen und nicht noch mit "Star" betiteln und ihnen eine Fläche geben, wo sie ihre unmenschlichen verblendeten Ideologien verbreiten können.
Wenn man die Probleme unserer Zeit wirklich angehen will, muss man zuerst das verzinste Geldsystem über Bord werfen. Wir brauchen kein Wachstum, dass diesen Planeten und alles Leben darauf nachhaltig tötet! Seht doch mal in China nach, was die (nach Ökonomen viel zu niedere niedrigen) 7 Prozent Wachstum anrichten. Gerade kürzlich las ich, dass dort eine Agrar-Fläche so groß wie Belgien komplett kontaminiert ist. Vermutlich mit Schwermetallen und giftigster Chemie. In den Städten kann man nicht mehr atmen. Wachstum verlangt letztendlich Krieg, weil dieser Planet einfach zu wenig abwirft, dass es reicht, den in der Geldmenge nicht existierenden Zins und Zinseszins zu bezahlen! Die Amerikaner wissen das übrigens ganz genau, desshalb geben sie auch 600 Milliarden in die Armee aus. So können sie jeden abknallen, der von ihnen ihre gigantischen Schulden zurückfordern.
Also Liebe Regierung, BEENDEN wir diesen Bullshit JETZT SOFORT!
Lieber Gast
Sehr guter Kommentar. Da muss ich nichts mehr hinzufügen.
Ja, auch 3 Jahre später immer noch ein treffender Kommentar.