Die Unruhe, einmal ausgebrochen, wird weiterwirken. Germanistik geht alle an

(Abschlussbericht zum Berliner Germanistentag im Tagesspiegel vom 13.10.1968)

Von Sibylle WirsingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sibylle Wirsing

 

Quellennachweis: Sibylle Wirsing: Die Unruhe, einmal ausgebrochen, wird weiterwirken. Germanistik geht alle an ‒ Rückblick auf eine „umfunktionierte“ Tagung, in: Der Tagesspiegel 24, 1968, Nr. 7021, 13.10.1968, S. 4 (Erneute Veröffentlichung mit Genehmigung der Verfasserin).

Am Anfang war das Programm. Das Programm war von Ausschüssen des Deutschen Germanistenverbandes während zweier Jahre für die Berliner Tagung 1968 ausgearbeitet worden, und selbstverständlich identifizierten sich der Vorstand und die Mitglieder mit dem Programm. Die Berliner Germanistentagung hat in der vergangenen Woche stattgefunden ‒ nicht so jedoch das Programm. Von den vierzehn Hochschullehrern, sieben Germanisten und sieben Wissenschaftlern anderer Disziplinen, die in vierzehn paarweise einander zugeordneten Vorträgen über den Zusammenhang der deutschen Linguistik und Literaturwissenschaft mit anderen Fächern Auskunft geben wollten, haben nur acht gesprochen. Die sieben Diskussionen, die jeweils die Sache zweier Vorträge erörtern sollten, sind etwa in der vorgesehenen Weise nicht öfter als dreimal vonstatten gegangen. Schließlich die beiden Arbeitsgemeinschaften zum Thema Deutschunterricht und politisch-soziologische Bildung: sie sind über das erste einleitende Referat nicht hinausgekommen. Eine weitere Arbeitsgemeinschaft wurde hingegen spontan gebildet: das Thema Sprachbarrieren im Schulunterricht ‒ gemeint sind milieubedingte Verständigungsschwierigkeiten zwischen Kindern und Lehrern ‒ drängte sich als unmittelbar aktuell auf.

Der gesellige Abend zur Eröffnung mußte hingegen ausfallen. Man war des gemieteten Raumes, des Restaurationssaales im ersten Stock eines renommierten Kurfürstendamm-Hotels, verlustig gegangen, nachdem die Hoteldirektion erfahren hatte, daß nicht nur Mitglieder eines honorigen Verbandes, sondern auch Vertreter der APO sich einfinden würden, daß Studenten und Schüler ihren Lehrern ein Protestfest geben wollten.

Aus kurzen Meldungen, in denen wir über den äußeren Ablauf dieser ungewöhnlichen Tagung berichteten, wissen unsere Leser, was de facto geschehen ist. Während etwa tausend westdeutsche und West-Berliner Angehörige des Verbandes ‒ in der überwiegenden Mehrzahl Damen und Herren aus dem Schuldienst, ferner Assistenten und Dozenten von Universitäten und Akademien, schließlich als Minderheit die Ordinarien ‒ zusammengekommen waren, um wissenschaftliche Vorträge zu hören und zu diskutieren, um ein Programm, das nach einer Äußerung des Berliner Altgermanisten Peter Wapnewski das „Ergebnis einer Revolution“ sei, abzuwickeln, planten westdeutsche und West-Berliner Germanistikstudenten entsprechend der Losung „Ruiniert die Germanistik, die uns ruiniert“ eine radikale Revolution. Sie folgten dem Verband, der sich vorsichtshalber aus dem Dahlemer FU-Terrain zurückgezogen hatte, in den Wedding, sie empfingen die Tagungsteilnehmer daselbst vor den Toren der Ingenieur-Akademie Gauss mit dem Transparent „Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot“, sie verteilten Flugblätter des Inhalts, die Schullehrer möchten sich von einer „Mammutshow professoraler Spitzenprodukte“ nicht imponieren lassen, sondern sich selbst und die Verhandlung ihrer Probleme behaupten. Als vordringlich vor allem anderen habe der seit langem problematisch gewordene Deutschunterricht zu gelten.

Rückblickend muß man den Schullehrern, die solcherart zur Revolution der akademischen Hierarchie und der programmatischen Tages- und Tagungsordnung angehalten wurden, bestätigen, daß sie sich keineswegs einmütig der provokativen studentischen Aufklärung versagten, wenn es auch zunächst so aussah, als würden sie die Aufforderung zur Solidarität mit Hohn, Spott und dem nun ihrerseits lapidaren Autoritärprotest: „Studenten raus!“ zurückweisen.

Gewiß, noch in der letzten Minute vor Abschluß der Tagung konnte man einen Lehrer wiederholen hören, was dem Sinne nach viele seiner Kollegen während der vergangenen vier Tage mit Resignation, Verzweiflung oder üblerem Unmut geäußert hätten: Gekommen sei man aus Wyk auf Föhr und Opladen, aus Ahrensburg und Espelkamp, aus der vom lebendigen Quell der Wissenschaft so bitter weit entfernten Provinz, um am Tagungsort die nur jedes zweite Jahr sich bietende Gelegenheit zum neuerlichen Kontakt mit der Forschung wahrzunehmen. Und nun dies ‒ West-Berliner Studentenradau statt hochschulischer Unterweisung auf einem mit roter Fahne erstürmten Podium, das den angekündigten Vorträgen über visuelle Musik und Goethes Wolkenlehre, über konkrete Poesie und Heine als politischen Dichter und Denker hätte Raum bieten sollen. Die Verantwortlichen ‒ nicht etwa nur die für einen programmmäßigen Hergang Verantwortlichen ‒ mußten solche Klage sehr ernst nehmen. Die eine Lehrerin, die entweder den Ablauf des Programms oder eine finanzielle Entschädigung forderte, mag zu weit gegangen sein. Die andere, die, den Tränen nahe, ihre wochenlange Vorfreude auf den Kongreß kundtat, der ihr eine durch Arbeitsüberlastung während der Schulzeit und skisportliche Neigung während der Ferien auferlegte Bildungspause wettmachen sollte, mochte außer zur Anteilnahme auch zum Spott herausfordern. Und zudem konnte eine Bücherschau wissenschaftlicher Verlage, die im weitläufigen Tagungsgebäude die Wandelgänge zweier Stockwerke imposant einnahm, auf die mögliche Direktverbindung zwischen jedwedem Espelkamp und jedwedem Campus hinweisen. Trotzdem blieb der Wunsch nach dem wissenschaftlich-akademischen Tagungscharakter doch ehrenwert und bestand von Rechts wegen.

Um so bedeutsamer, daß einem Mehrheitsbeschluß zufolge die Provokation der Studenten doch angenommen wurde. Man wollte weder den Schwierigkeiten im Umgang mit Revolutionären noch dem Eingeständnis aus dem Wege gehen, daß zumindest der Deutschunterricht, das Germanistikstudium, aber auch die Forschung eine kritische Verwandlung erleiden müssen: Abbau akademischer Elfenbeintürme, Klärung der Bezüge von germanistischer Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Verantwortung des Studienpensums gegenüber den Erfordernissen des Studienziels, nämlich der Schulpraxis ‒ so erlauben wir uns, raffend und vereinfachend, die Schlagworte zu setzen.

Behaupteten die Studenten, daß die Schullehrer sowohl innerhalb des Germanistenverbandes als auch an ihren Arbeitsstellen autoritären Gepflogenheiten ausgesetzt seien, so lieferte ihnen der Tagungsverlauf das eine und andere Beispiel an die Hand. Zunächst wird man einen Verband, der seine offiziellen Redner nahezu ausschließlich aus dem kleinsten Kreis seiner Mitglieder, demjenigen der Ordinarien, bestellt, zumindest der Einseitigkeit verdächtigen müssen. Die Erfahrung, daß mehrere Redner nicht willig oder fähig waren, ihre Vorträge einem anderen als dem exklusiven Fachniveau anzupassen, muß diesen Verdacht bestärken. Klaus Baumgärtner hätte, darf man dreist sagen, seine Erläuterungen, wie einem Automaten die Sprache einzuverleiben sei, mit demselben aufklärerischen Erfolg auch auf Chinesisch halten können. Wilhelm Fucks, der vorführte, wie er mit noch weitgehend ungeklärtem Endziel literarische Texte mathematisch zu zersetzen pflegt, dürfte für das Auditorium höchstens um einige Grade akzeptabler gewesen sein. Daß ein Vortrag über „Sprache und Logik“, gehalten von Günther Patzig, dringlich an formallogische Kenntnisse appellierte ‒ man mußte es hinnehmen. So kam es, daß einmal die kenntnisschweren, aber doch höchst verbindlichen Darlegungen von Erich Köhler, wie sich aus dem unterschiedlichen Liebeswerben des deutschen, dem Adel verpflichteten Minnesangs und der rebellischen Troubadour-Dichtung soziologische Schlüsse ziehen lassen, zum anderen Richard Alewyns Analyse des Verhältnisses von Dichter und Leser zur Klopstock-Zeit schon Höhepunkte des Programms markierten. Fragen muß man sich allerdings, wie denn der hier geübte Eklektizismus zu verstehen und zu rechtfertigen sei: Warum hatten diese Forschungsdetails vor der Fülle möglicher anderer den Vorrang?

Erhaben über einen solchen Vorwurf war selbstverständlich ein Vortrag, der wie Urs Jaeggis „Thesen zur Literatursoziologie“ eine ganze Methode statt eines Details umriß, und waren die praktischen Unterrichtsproben, die der Linguist Hans Glinz und Peter Wapnewski vorexerzierten. Soviel zum Programm, das nicht nur im Programmheft gestanden hat.

Was die Improvisationen mit den Studenten anging, so gab es zwei, jeweils zweimal praktizierte Möglichkeiten. Entweder konnte die Versammlung ihrer Kontroversen in der zivilen, nämlich verbalen, Umgangssprache nicht mehr Herr werden, stand kurz vor dem Einsatz einer Brachialverständigung und mußte gesprengt werden, oder die Disziplin blieb soweit erhalten, daß die Studenten Gelegenheit hatten, in ihrem hyperintellektuell und vulgär gemischten Revolutionsjargon das autoritäre und scheinliberale Gebaren, der, wie es hieß, feudalen Verbandsleitung und darüber hinaus der maßgebenden Gesellschaft nach Kräften zu entlarven. Weder spricht es für die Studenten, daß sie erklärtermaßen die Brutallösung dem leidlichen Kompromiß vorzogen, noch spricht es gegen ihre Sache, daß die Schullehrer, die sich zu schulischen Mißständen äußern wollten, dazu erst seitens des Kongresses durch eine Resolution ermutigt werden mußten, man werde sie gegen eine mögliche Indizierung schützen. Daß die positive Herausforderung der Studenten an die Adresse der Schullehrer wirklich positiv gewürdigt wurde, war ‒ welch ein Paradoxon ‒ den brüskierten und beschimpften Ordinarien zu verdanken, die sich Mühe gaben, die Diktion der einen vor dem Mißverständnis der anderen zu bewahren. Nicht von Wilhelm Fucks, der mit dem Diktum „Das paßt mir nicht“ den Saal verließ, nicht von Professoren, die ihre Teilnahme an einem aus den Fugen geratenen Prozeß kurzerhand absagten, ist die Rede, auch nicht von dem Verbandsvorsitzenden Karl Heinz Borck, der die heiße Revolutionsstimmung mit akademischer Eiseskälte zum Zischen brachte, sondern vor allem von Eberhard Lämmert, der sich vier Tage lang als Moderator ein Maximum an Geduld, Disziplin und Umsicht abverlangte, von Wapnewski, Glinz und Herbert Singer und von dem Münchener Dozenten Weiland, die allesamt mehr als einmal ein Fiasko oder eine Fehlentscheidung verhüteten.

Und schließlich versagten sie doch: Die Kluft zwischen Universität und Schule, die Stufe im hierarchischen System, während eines langen Kongresses immer wieder gebrandmarkt, sie wurde augenscheinlich, als die letzte Verhandlung, die eine Generaldebatte hatte sein sollen und vorwiegend Schulprobleme zur Sprache brachte, von seiten der Hochschullehrer nicht mehr einen einzigen Beitrag verbuchen konnte. Diese lautlose Arroganz war, vielleicht nicht als solche berechnet, vielleicht nicht als solche gewertet, eine Provokation. Und zwar keine positive.