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 Literatur im Lichthof (6/2015) - Zoom

 

 

Elmar Drexel: Kellertheater. Roman.
Innsbruck: Limbus 2014.

© Limbus, 2014Das Jahr 1979: Revolution im Iran, die Roten Khmer werden aus Kambodscha vertrieben; Saddam Hussein gelangt an die Macht; Israel und Ägypten beenden den Kriegszustand; Margaret Thatcher wird Premierministerin und Reinhold Messner erreicht ohne Sauerstoffgerät den Gipfel des K2. Zur selben Zeit lebt in Innsbruck ein 21-jähriger, bürgerlicher Student der Geschichte und Germanistik, der Ich-Erzähler des Romans „Kellertheater“. Eindrucksvoll und sympathisch wird darin erzählt, wie ein leidenschaftliches Potenzial dazu führt, am gesellschaftlichen Leben gestaltend tätig zu werden. Dass dabei die Grenze zwischen Erfolg und Scheitern eine außerordentlich schmale sein kann, wird ebenfalls deutlich.
…….Theos Innenschau zeigt einen lustlosen Studenten, der zuweilen wie Becketts Murphy im Schaukelstuhl sitzt und sich Gedanken über die Welt hingibt. Er teilt seine Wohnung mit einem ebenso erfolglosen Medizinstudenten, verbringt seine Abende einsam in Wirtshäusern. Er liest, was man so liest, hört Musik, die man so hört, als linker Intellektueller. In jungen Jahren hat er mal Theater gespielt, das schien ihm etwas Wichtiges zu sein, eine unbekannte, existenzielle Dimension eröffnend. „Das Theater, das in meinem Kopf tobte, war voller Zorn, manchmal auch Hass. Es rief Rebellion und Opposition hervor. Der Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, sodass sie sich ihren ewigen Heucheleien stellte, war eine große Kraftquelle. Fuck! Shit! Figaro, Falstaff oder Tartuffe karikierten oder zerstörten durch Gelächter. Theater ist – verdammt noch einmal! – das Medium der Wahrheit! Das ist meine Welt! Zufrieden sank ich ins Bett.“ Ausgelöst durch die Lektüre von Peter Brooks „Der leere Raum“, fängt Theo damals an, Menschen als Schauspieler wahrzunehmen: „Ich schreckte in der Nacht auf, ich hatte gerade im Traum das gesamte Land Tirol inszeniert. Ich hatte den ganzen William Shakespeare und den ganzen Bertolt Brecht über das Land Tirol gestülpt.“ Doch von dieser Energie ist jetzt nichts mehr zu spüren. Er ist auf der Suche, ohne zu wissen oder auch nur zu ahnen, wonach. Das Café Central wird zu seinem Lebensmittelpunkt. Als Jüngster in einer Runde Kaffeehaussitzer, die die Weltlage analysieren, ist er Zuhörer, genannt „Der Schweiger“. Dieser „Schweiger“ hat Probleme mit dem Sozialsein, er ist unzufrieden mit sich und allem und stellt sich die Frage nach der Dringlichkeit dessen, was ihn so berührt, dass er sich dem hundertprozentig widmen möchte. Bis zu diesem Punkt demonstriert der Roman einen Selbstfindungsprozess, in dem die Vorstufe zu einer Entscheidung, das Tasten und Tappen subtil herausgearbeitet ist.
…….Ein konspiratives Treffen mit Günter und Pepi lässt die Idee zum Kellertheater aufkommen. Mit einem Mal sind alle Selbstzweifel wie weggeblasen, es herrscht Aufbruchsstimmung. Der Raum des Theaters muss umgebaut werden, an die 30 Idealisten werken anfangs mit. Während Theo daran arbeitet, mit dem Presslufthammer eine überflüssige Betonsäule im Keller abzutragen, kommt er ins Sinnieren. Drei Wochen arbeitet er sich daran ab und lernt so die Erschöpfung nach körperlicher Arbeit kennen, das ist eine fundamentale Erfahrung für ihn. „Noch waren wir ‚anständig und intelligent‘, wie Astrow im Onkel Wanja sagt, ‚noch hat uns das spießige Leben, das verächtliche Leben nicht überwuchert, noch hat uns das faulige Leben mit seinen Ausdünstungen nicht das Blut vergiftet und noch waren wir nicht so banal geworden wie alle‘. Noch schirmten wir unsere Verletzungen nicht mit einer grauen Schutzschicht aus Zynismus und Abgestumpftheit ab, noch trugen wir unsere Wunden offen. Wie man seine Narben trägt, war noch nicht die Frage.“
…….Während der Umbau langsam voranschreitet und die Säule bezwungen wird, streut Theo immer wieder Erinnerungen ein: Liebes- und Sauf- und Bildungsgeschichten. Doch auf einmal liegt die Baustelle verwaist, die Gruppe zerfällt. Er geht wieder zur Universität, geht ins Kino, sehnt sich nach der Baustelle. Plötzlich wird Theo wieder gebraucht. Es steht Geld für die Fortsetzung des Baus zur Verfügung. „Ich war zufrieden mit den ersten Arbeitstagen, ich war glücklich und verwirrt, dass man mich Studenten, kopflastigen Bleistiftathleten unvermittelt in diese Arbeitswelt warf, die mir so fremd war, von der ich so gar nichts wusste, die so direkt war und so konkret, in der man sich so gut spüren konnte, in der einen die Glieder schmerzten, in der Müdigkeit und Schmerz einen das Gefühl der Zufriedenheit des Etwas-geschafft-Habens erfahren ließen. (…) Ich war ein ernstzunehmender Erwachsener.“

Am 17. Oktober wird das Kellertheater schließlich eröffnet. Theo hat daran keinen Anteil mehr. Festreden werden gehalten, der Dank gebührt den anderen, die Arbeiter stehen stumm daneben. Nicht einmal zu den Proben für das Eröffnungsstück wird der einstige Mitinitiator eingeladen. Der Traum vom Theater als gesellschaftsverändernde Institution ist ausgeträumt und Theo in der Realität angekommen. Mit dem komplexen Zustandekommen des Projekts, beleuchtet aus einer Perspektive, die man selten erzählt bekommt, liefert Elmar Drexel einen bemerkenswerten literarischen Beitrag zu einem stetig plastischer werdenden Bild, aus dem sich ein Innsbruck, ein Tirol zusammensetzt, die erzählerische Biografie einer alpinen Topografie.

nach obenFlorian Braitenthaller

 


 

Markus Gasser: Das Buch der Bücher für die Insel.
München: Hanser 2014, 384 Seiten.

Das Buch: die große Errungenschaft der alten Affen?

© Hanser, 2014“Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt”, liest man in der ersten Strophe von Erich Kästners Die Entwicklung der Menschheit, “behaart und mit böser Visage. / Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt / und die Welt asphaltiert und aufgestockt, / bis zur dreißigsten Etage.” Kästner dekliniert in der Folge die großen Errungenschaften des homo sapiens in vier Strophen herunter. Klingt zum Beispiel so: “Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest. / Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest, / dass Cäsar Plattfüße hatte.” Resümee: “So haben sie mit dem Kopf und dem Mund / den Fortschritt der Menschheit geschaffen. / Doch davon mal abgesehen und / bei Lichte betrachtet sind sie im Grund / noch immer die alten Affen.”

Man muss Kästner Recht geben: So weit ist es nicht her mit den Menschen. Wenn Markus Gasser, der selbst dieser Spezies angehört, hierzu Stellung beziehen müsste, so würde er zur Inschutznahme vermutlich sein Buch auspacken und von der Leidenschaft für das Lesen und Schreiben, für Bücher und Autoren zu sprechen beginnen. Nein, die, welche schreiben, sind beileibe keine Affen, und die, welche lesen - ja, die können sich schon einmal affig aufführen und in Stiluntersuchungen feststellen, dass Cäsar Plattfüße hatte. Aber Gassers Gegenüber würde schon bald merken, dass dieser Causeur nicht von der Sorte ist. Wenn man ihm zuhörte, könnte man vermuten, dass er als Autor des Buches, das er da ausgepackt hat, im Dauer-Flirt mit dem/r Leser/in sei - und tatsächlich ist das so. Es ist kein Andienen von betulich sortiertem Lesesstoff, kein Buhlen mit besonders abgefahrenen Lektürekapriolen, kein durch primäre und sekundäre Belesenheit Eindruck schinden wollendes Konstrukt. Sondern es handelt sich um 50 Konversationsstücke über Bücher, die Gasser spürbar berührt und nicht losgelassen haben, alles Bücher, die er “auf eine einsame Insel mitnehmen würde”.

Die einsame Insel, die sich Buchaficonados wie Gasser vorstellen, muss zivilisiert sein, denn die Bücher, von denen hier zu lesen ist, dienen dem Überleben auf geistiger Ebene. Man kann sich gut vorstellen, dass Gasser auf dieser einsamen Insel auf Zeitgenossen stößt, von denen allen er etwas hat, wie sie auch etwas von ihm haben: auf Alberto Manguel etwa, den Verfasser Einer Geschichte des Lesens, auf Daniel Pennac, der ein Buch über die “unantastbaren Rechte des Lesers” verfasst hat (Wie ein Roman), auf Harold Bloom (Die Kunst der Lektüre), auf Italo Calvino (Warum Klassiker lesen?), auf Roberto Calasso (Hundert Briefe an einen unbekannten Leser) oder Rolf Vollmann (Die wunderbaren Falschmünzer, Der Roman-Navigator). Frauen? Gäbe es vielleicht auch dort, wahrscheinlich Ella Berthoud und Susan Elderkin (Die Romantherapie). Wie groß wäre das Stimmengewirr dort, wenn sie sprechen, und wie groß wäre das Schweigen, wenn sie lesen!

Jedenfalls: Gasser fasst seine Bücher in fünf Abteilungen zusammen und hat seine Gründe dafür. Die Neuschöfpfung des Universums, Helden, Wie leben die anderen?, Die Abenteuer des Lesens und Die Archive der Finsternis heißen sie und damit bekommt man auch schon eine Idee vom Inhalt. Auf den vorletzten Seiten schnürt er noch sieben Buchpakete “für je eine bestimmte Art von Leser”: Spannungsleser, Quantitätsleser, Intensitätsleser, Verliebte, Repräsentations- und Prestigeleser und Rankoholics, Leser von Mainstream-Abseitigem und Entspannungsleser. Auf den letzten Seiten schließlich finden sich Angaben zur Quellenlage, die prägnant und verlässlich sind und deren letzter Eintrag geradezu ein Beweis der Wertschätzung dafür sind, was Autoren für die Spezies Mensch geleistet haben: “Victor Hugos Ruhm zu Lebzeiten wirkt heute unglaubhaft: An seinem achtzigsten Geburtstag zogen sechshunderttausend Verehrer an seinem Wohnhaus in Paris vorbei. Und die Kinder hatten schulfrei.”

nach obenBernhard Sandbichler

  


 

Sabine Gruber, Peter Eickhoff: 111 Orte in Südtirol, die man gesehen haben muss.
Köln: Emons 2014.

Welche Orte man gesehen haben muss und wie man darüber schreibt

© Emons, 2014Bücher wie Roger Willemsens Deutschlandreise sind auf dem Sektor “Orte” und “Reisen” natürlich literarisch veredelt. Oder, gar nicht so lange her: Christoph Ransmayrs Atlas eines ängstlichen Mannes. Das große Feuilleton kann sich gar nicht einkriegen ob solcher Poesie in der Beschreibung, grandios empathisch, reportagenartig visionär, je nachdem. Reisen ohne Plan, wie es auch der diesjährige Bachmann-Preisträger Tex Rubinowitz schreibend betreibt, ist Kult.
 
Anders liegt der Fall bei Massenware – und dazu gehört dieses Buch. Der Kölner Emons Verlag hat sich da nachgerade spezialisiert. Gibt es eigentlich, könnte man sich angesichts der unzähligen Produkte dieser 111-Orte-Serie fragen, überhaupt noch weiße Flecken? Macht man sich auf der Verlags-Homepage auf Buchsuche, “Paris” zum Beispiel, erhält man folgenden Dreierpack: 111 Orte in Paris, die man gesehen haben muss, 111 Geschäfte in Paris, die man erlebt haben muss und schließlich Ponts de Paris, einen Krimi – das zweite Standbein des Verlags. “Tirol” wird vorläufig mit dem vorliegenden Buch und zwei Krimis bedient - Lena Avanzanis Tirolertod bzw. -wut. Für ihr Debüt, Tod in Innsbruck, hat die Autorin den Friedrich-Glauserpreis 2012 erhalten, was zeigt, dass auch Regionalkrimis hochwertig sein können. Das Ganze funktioniert kaufmännisch gesehen gut: Der Gmeiner Verlag, ansässig im badischen Meßkirch, macht daher nichts anderes wie die Kölner (und/oder umgekehrt). Dort ist die magische Zahl an Lieblingsplätzen “66”, der Titel (von Irene Heisz und Julia Hammerle) heißt Tirol - hoch hinaus und tief verwurzelt und den entsprechenden Krimi, Brandgeld, lieferte 2014 der Haller Schriftsteller Reinhard Kocznar, der sich internetmäßig auch als künstlerischer Fotograf präsentiert.

Sämtliche Produkte sind also Konfektionsware, es lohnt aber doch, sie anzuschauen respektive sie zu lesen. Tirol - hoch hinaus und tief verwurzelt haben wir bereits vorgestellt. Reinhard Kocznar muss man konzedieren, dass sein Krimi-Alter-Ego, der Versicherungsmakler Paul Prokop, ganze Arbeit leistet. Der Autor führt uns tief in die üble Finanzwelt ein und sein Ton ist ganz klassisch hard boiled. Und die 111 Orte in Südtirol? Dieses Unternehmen wurde wohl an Sabine Gruber herangetragen – und es war ein kluger Schachzug, denn gemeinsam mit Peter Eickhoff ist ihr ein spritzig kurzweiliger Führer gelungen, der zum Erlebnis vor Ort animiert. Als Autorin ist sie ortsverbunden. “Es ist für mich sehr wichtig, die Orte zu kennen, über die ich schreibe. Ich erfinde Figuren, brauche aber ganz reale Plätze, Häuser und Gassen, um das Imaginäre zu verorten, um das, was ich erfinde, verwurzeln zu können. Die realen Orte funktionieren wie Projektionsflächen. Ich habe schon als Kind vom Auto aus bei Ausflügen in die Nachbardörfer und -städte Wohnungen und Häuser ausgespäht, die in meiner Vorstellung die Wohnorte imaginärer Spielfreunde waren”, meinte sie in einem Interview. Auch dieser Südtirol-Reader-Guide profitiert von dieser fantastischen Lust am Ort, wenn die 111 realen Orte hier freilich weniger Projektionsflächen für Fiktionen als für Fakten sind.

Robert Menasse hat einmal gesagt, dass er nicht verstünde, warum Deutsch-LehrerInnen zu SchülerInnen, die ihre Einser-SchülerInnen sind, sagen: “Du wirst einmal SchriftstellerIn werden.” Themenverfehlung. SchriftstellerInnen fällt das Schreiben nie leicht und sie schreiben auch nie leicht. Sabine Gruber – das ergibt sich auch aus den hervorragend recherchierten Fakten – war zweifelsohne eine Einser-Schülerin. Dass sie auch eine gute Schriftstellerin ist, ist vermutlich ein Glücksfall.

nach obenBernhard Sandbichler



 

Hesiod: Theogonie. Übersetzt und erläutert von Raoul Schrott.
München: Hanser 2014.

Neue Blicke durch die alten Löcher

© Hanser, 2014Wenn es ums Alte geht, kann atemberaubend Neues zutage treten. Es entsteht freilich nicht von allein. Dazu braucht es Neugierige. Hermann Parzinger ist so ein Neugieriger auf dem Gebiet der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie: Jahrgang 1959, Promotion mit 26, Habilitation mit 31, Gründungsdirektor der Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts mit 36, erster Leibniz-Preis für einen Archäologen mit 39; jetzt Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Er ist einer der profiliertesten Prähistoriker, der erhebliche Arbeitszeit in den Steppen Zentralasiens verbringt. Museen, Vernissagen und Talkshows bleibt er fern. Nicht-Fachleute dürfen ihn also ohne Scham nicht kennen. Aber man kann ihn lesen, 850 Seiten lang. Denn eben ist ein hinreißender Wälzer von ihm erschienen, eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, eine Geschichtserzählung von den frühen Hominiden zum Homo sapiens.

Der Titel des Werks, Die Kinder des Prometheus, wäre nicht möglich ohne die Erfindung der Schrift, wäre nicht möglich ohne die Erfindung der Poesie. Hesiod, dem Parzinger den Prometheus verdankt, hat sich gleich selbst einen Namen gemacht, als der, den die Musen “schön zu singen lehrten”. Irgendwann und irgendwo musste sein Prometheus erfunden worden sein, irgendwann und irgendwo (ohne jetzt auf solche Spitzfindigkeiten einzugehen) wurde dieses Erfundene aufgeschrieben - und das ist nun eben Hesiods Theogonie: der schriftliche Ursprung der Götter Griechenlands, der “schönen Wesen aus dem Fabelland”, die Schiller später, 1788, sein eigenes Zeitalter bedauernd bewunderte. “Wir andern Nachpoeten müssen unserer Altvordern, Homers, Hesiods uam., Verlassenschaft als urkanonische Bücher verehren”, schreibt Goethe noch später – im Oktober 1817 – an Creuzer. Und: “Als vom heiligen Geist Eingegeben beugen wir uns vor ihnen und unterstehen uns nicht, zu fragen: woher, noch wohin?” Viel später, im Herbst 2014, zeigt sich ein anderer Nachfahre Hesiods, Raoul Schrott mit Namen, weit weniger unterwürfig. Woher die Dichtung kommt, wie die Poesie erfunden wurde, hat ihn schon immer interessiert. Und wohin sie gekommen ist, natürlich auch. Er hält es eher mit dem noch etwas weniger abgeklärten, noch etwas mehr prometheischen Goethe und dessen “Verlangen im Naturmenschen, von dem Ursprung der Dinge unterrichtet zu sein” (1806).

Den Unterricht verschafft sich Schrott stets explorativ, und das bedeutet: neugierig. Bei der vorliegenden Neuübersetzung der Theogonie verläuft die Sache ganz wie gewohnt: Schrott ist neugierig, übersetzt, recherchiert zu Person und Sache, erläutert Thesen – und die Fachwelt im engeren Sinn schüttelt den Kopf. Der durch solches Kopfschütteln entstandene Wind wehte früher weit kräftiger durch die Blätter, dieses Mal scheint es dem Lübecker Komparatisten Hans-Albrecht Koch vorbehalten, den resignierten Fachmann zu geben. “Wer wissen möchte, was so alles passieren kann, wenn ein mit vielen Preisen bedachter zeitgenössischer Literat sich an das Remake einer antiken Dichtung macht, findet hier ein wenig erfreuliches, aber instruktives Beispiel”, schreibt er in der Neuen Züricher Zeitung. Was kann also so alles passieren?

Im Wesentlichen ist mir Folgendes passiert: Ich habe die Bekanntschaft mit einem von mir noch nicht gelesenen Dichter und Text gemacht. Ich bin schließlich kein Schauspieler wie zum Beispiel Klaus Maria Brandauer, der von sich sagt: “Ich bin nur deswegen Schauspieler, weil ich begeistert bin, wenn ich in diese Gedankenwelten eintauche, wenn ich mich mit Sophokles, aber auch Hesiod, Aischylos, Shakespeare oder Schiller unterhalte.” Und ich bin auch kein Übersetzer wie zum Beispiel Klaus Binder, der eben eine Neuübersetzung von Lukrez’ philosophischem Lehrgedicht Über die Natur der Dinge vorgelegt hat und sich also ebenfalls professionell mit den “urkanonischen Büchern” auseinandersetzt. “Antike Texte sind kein unverlierbarer Schatz, der sich irgendwann, durch die dann ‘richtige’ Übersetzung, heben ließe”, meint er. “Die Gefahr, die ihnen droht, liegt im Vergessen.”

Ich war einfach nur neugierig. In Zeiten der Reproduktionsmedizin neugierig auf die Musen - “sorglos und nur singen im sinn … wen sie bei seiner geburt ins auge fassen / dem träufeln sie süssen tau auf die zunge / von dessen mund fliessen die worte honigsüss” -, neugierig auf den Prometheus, der seinem Zeus “auf der haut das fleisch und die fetten eingeweide ausbreitete / aber alles mit den kutteln des pansen bedeckte” und auf vieles mehr.
Wer neugierig ist, mag selber zusehen, was passiert, wenn man Hesiod liest. Ich kann nur dazu raten: ein sehr erfreuliches und instruktives Beispiel.

nach obenBernhard Sandbichler


 
   
regina hilber
: schanker.
ein bericht aus wien. mit bildern von gerlinde thuma.
Literaturedition Niederösterreich 2014.

© Literaturedition Niederösterreich, 2014Mit schanker. ein bericht aus wien legt Regina Hilber ihren dritten Lyrikband vor. Wie schon in ihrem letzten Buch im schwarz blühen die schönsten farben (2010), in dem die slowenische Region Prekmurje zum Ausgangspunkt einer poetischen Landvermessung wird,  initiiert auch in vorliegendem Band die Auseinandersetzung mit Orten das Schreiben. In Form zweier Zyklen (ein jeder 1-18 und all jene 1-19), die einander kommentieren, aufeinander Bezug nehmen, sich verschränken und von drei zwischenrufen durchbrochen werden, wird das Weichbild einer Stadt gezeichnet. Ausmachen lassen sich dabei zwei Positionen: Die Erfahrungs-Welt des lyrischen Ich einerseits, eine Welt der Sprache und poetischen Verdichtung, und jene des von diesem Ich wahrgenommenen Umfeldes. Das Eigene und das Fremde, innere und äußere Wirklichkeit sind nicht klar unterschieden, gehen ineinander über. Die Welt dringt  in die poetische Welt ein, verschafft sich lauthals Gehör, umgekehrt setzt die Instanz der Dichterin dieser durch Vermittlungskanäle wie Medien, Wissenschaft, Werbung oder Rechtssprechung beglaubigten Wirklichkeit etwas hinzu, etwas entgegen, manchmal verstummt sie auch: wo verbleiben die wörter / verschmieren sie die kehle / verdrecken sie den schlund / komm liebes rehlein schlag / dir den protest aus dem kopf [...] blas dir die widerwolke zur purpurnen / zuckerwatte schleck dir die süße / ins offensichtliche / geh spielen / schussliges bambi. Andernorts: meine versagte stimme / meine ignoranz / alles leise wenn das laute vorliegt / ich flüstere dem heimatneuen kind / du bist die kostbare posthornschnecke die teichmuschel / die heidelibelle / die goldene acht schwester der zitronenfalter. Grundsätzlich ist die Position des lyrischen Ich keine statische, immer wieder setzt es sich neu zur Welt, sucht nach möglichen Perspektiven, stellt sich in Frage, ruft sich zur Ordnung, fügt sich nicht, beschwört Bilder der Gegenräumlichkeit herauf, tröstet und findet Trost in Sprache und Imagination: helle welten aus der kopfkiste / lichterzelte im dunkelfluss.

Die poetische Welt, die hier evoziert wird, steht in keinem luftleeren Raum, sie wird verortet in Raum und Zeit. Wien fungiert als Rahmen. Die Stadt tritt in den Text ein in Form von verzeichneten Orten, Orten des Übergangs oft, verdichtet festgehaltenen Beobachtungen, in Form von Aufgelesenem, den vor Ort kursierenden Texten, und Abgehörtem, in Form ihrer Geschichte und unbewältigten Vergangenheit (an sohlen klappert die erinnerung) und nicht zuletzt als sprachliches Gebilde, mit dem die Autorin bis zuletzt lautmalerisch spielt: weiße flecken wie / daran gewöhnen an / das halbe v in wien oder / lege ich es auf den tisch / ganz orthonym / im diglas oder prückel / im tirolerhof schwarz umrahmt für / diese vage farce. Vielfach arbeitet Hilber – im stimmfenster der zeit die / endlosen worte – mit Textmaterial vor allem aus der medialen Berichterstattung. Einerseits wird dadurch das Verstreichen von Zeit spürbar gemacht (nicht von ungefähr ein Spiel mit Chronik), gleichzeitig evozieren die zahlreichen Wiederholungen und die Formelhaftigkeit immer gleicher Schlagzeilen ein Gefühl von Statik. Indem die Autorin das Aufgelesene isoliert, neu montiert, thematisch gruppiert, markiert sie die gespenster der zeit, die nicht nur in Form gesellschaftlicher Leitbilder durch den Text geistern: die gürtelbahn als schärfste konkurrenz der pratergeister. Durch Anhäufung – etwa von Schlagzeilen, in denen es um die Verursachung von Un- und Todesfällen durch öffentliche Verkehrsmittel geht – erzielt sie einen irritierenden, verfremdenden Effekt: Die durch Faktizität gekennzeichnete Zeitungswelt mutet plötzlich fiktional an. Nicht nur über die Inhalte der Schlagzeilen und Textfragmente, auch über das Zeitungsthema an sich wird wiederum ein Wien-Bezug hergestellt: das ergötzen kein ausgestorbenes Wort / hier wird es gelebt [im Alt Wien]. Das Sich Weiden (also Sich Nähren) am Unglück anderer weist die Sprache medialer Berichterstattung als eine aus, die Lebens-Wirklichkeit in konsumierbare Häppchen umarbeitet, dabei den Blick aufs Eigentliche verstellt. Dem begegnet die Sprechinstanz mit Mitteln der Literatur: muss man leben auf spänen die / gespenster der zeit / umkehrnachricht erfinden.

Es gibt Bildbereiche, die sich durch den gesamten Text hindurchziehen und die neben ihrer jeweiligen poetischen Funktion im einzelnen Textsegment die durchgängigen Themen des Gesamtkomplexes reflektieren. Dazu gehört beispielsweise die wildwüchsige, wider- wie randständige Parallelwelt der Pflanzen, stille Kulturbegleiter, die wie Fremdkörper im Text stehen. In Nachbarschaft zu anderen – metonymisch organisierten – Bildbereichen (etwa Verkehr, Geschlechtskrankheiten, Insekten, Hygienepraktiken) umkreisen sie die Kernthemen des Buches, die sich vor allem in Fragen nach Fremdheit und Beheimatung sowie in Fragen nach der Entstehung  und den Vermittlungskanälen gesellschaftlicher Bilder und Normen orten lassen.

Das Kompositionsprinzip des Buches ist komplex. Die in den drei Textsträngen aufgeworfenen Bilder und Themen werden auf verschiedensten Ebenen reflektiert, variiert, kontrapunktisch gebrochen. Die Autorin webt ein äußerst vielschichtiges Netz aus Bezügen. Zudem gelingt ihr ein virtuoses Spiel mit verschiedenen Tonlagen ­– etwa den Wechsel von leisen Zwischentönen und den durch die Montagetechnik erzeugten harten und lauten Schnitten, von präzisen Sprachbildern, pointierten Zuspitzungen und Unbestimmtheitsstellen, die vieles offen lassen – ohne dass der Text dabei seine originäre Stimme verlieren würde. Es ist ein Text, der dissonante Töne nicht scheut, und der, obwohl unverhohlen ideologie- und gesellschaftskritisch, jede Schwarz-Weiß-Malerei meidet, in seiner Vielbezüglichkeit und Mehrdeutigkeit jede festschreibende Lektüre von vorn herein abwehrt. Ein überzeugender Text. Kongenial begleitet wird er von Bildern der Künstlerin Gerlinde Thuma, die Hilbers poetischen Zugang zu Wien bis in die Farbgebung hinein zu reflektieren scheinen.

Iris Kathan
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Barbara Hundegger: Wie ein Mensch der umdreht geht : Dantes Läuterungen reloaded. Gedichte.
Innsbruck: Haymon 2014.

© Haymon, 2014Bevor wir ins Werk von Barbara Hundegger einsteigen, seien zur Auffrischung alter Schulkenntnisse kurz ein paar Eckdaten über Dante und die Göttlichen Komödie aufgetischt:
Dante Alighieri wurde 1265 in Florenz geboren.
Er schrieb an der Divina Commedia von 1304  bis zu seinem Tod 1321, seinem Todesjahr, in den Städten Verona, Padua, Ravenna. Dante war in Florenz aus politischen Gründen zu Tode verurteilt worden und lebte deswegen im Exil. Der Purgatorio entstand zwischen 1308 und 1313.

Die Göttliche Komödie ist eine sehr plastisch beschriebene Reise durch den metaphysischen Kosmos (Hölle, Fegefeuer und Paradies), auf der Dante Dutzenden von mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten aus allen Zeitepochen begegnet. Die meisten sind dabei, für ihre Sünden zu büßen. Die Strafen sind nach der sogenannten „legge del contrappasso“ – das Gesetz der umgekehrten Wiedervergeltung – gestaltet, sie sind grauenhaft und machen auch vor Königen und Päpsten nicht Halt.
Hölle, Fegefeuer und Paradies befinden sich an genau definierten physischen Orten und haben eine präzise Struktur, von der jede und jeder von uns sicher mindestens einmal im Leben eine Illustration gesehen hat. Die junge Generation kennt sie vielleicht aus dem Computerspiel - ja, es gibt die Commedia inzwischen auch als Videogame. Der Aufbau ist komplex und einfach zugleich: Da ist der Höllentrichter mit seinen 9 Kreisen und seinen Ringen und den furchterregenden Malebolge; da ist der aus dem Ozean herausragende, felsige Läuterungsberg des Purgatoriums mit seinen 7 einer Spirale gleich aufsteigenden Terrassen (7 Terrassen wie die 7 Hauptsünden), an deren Gipfel sich das irdische Eden befindet; und da ist das Paradies mit seinen 9 konzentrischen sphärischen Himmeln.

Auch der Zeitrahmen ist ziemlich genau rekonstruierbar: Die Reise beginnt am einem Karfreitag, wahrscheinlich dem 25. März 1300, und dauert ungefähr eine Woche.

Die Divina Commedia löste Bewunderung und Skandal aus, und sie prägte nachhaltig die gesamte Weltkultur und -literatur. Sie bietet der LeserInnenschaft zahllose Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten, einen schier unendlichen Katalog an Charakteren, hunderte Interpretationsschienen… Sie enthält Bilder und Metaphern, die sich in unser inneres Auge einnisten und es nicht mehr verlassen, Wort- und Satzgebilde, die bis heute noch neue Sprach- und Denkwege aufzeichnen und einen Lautrhythmus, der nach wie vor in den Bann zieht.
Kurz: Die Göttliche Kommödie veraltet nicht. Das sehen wir auch daran, dass eine Autorin mit starkem Gegenwartsbezug wie Barbara Hundegger sie als ausdrücklichen Ausgangspunkt für ihr neuestes Werk benutzt hat.

Hundegger hat sich eingehend mit Dantes Purgatorium in der deutschen Version von Kurt Flasch auseinandergesetzt und Wunderbares daraus hervorgeholt – oder besser: „herausgepresst“. So hätte sich wahr­scheinlich Josip Mandelstam ausgedrückt, der einen „Anti-Kommentar“ zur Commedia verfasste und dabei festhielt: „Die sprachliche Form [Dantes] ist nicht Hülle, sondern Herausgepresstes.“
Dies gilt durch und durch auch für Hundeggers Lyrik. Sie treibt die deutsche Sprache bis an ihre Grenze und dann noch ein Stückchen weiter, und eröffnet uns so einen neuen strömenden Horizont, in den wir lesend hineintauchen und der unseren Blick verändert. Sie schafft ständig Neuland, das wir ohne anderes Geleit als unser inneres Ohr zu betreten gezwungen sind. Unser Gehör ist nicht umsonst auch Sitz des Gleichgewichts: Dieser Sinn hilft uns, uns vorzutasten in Hundeggers schwindelerregender Wortlandschaft und dabei nicht umzukippen. Wir schaffen es nur, uns dort einen Weg zu bahnen, wenn wir hineinhören in uns selbst und unsere (auch sprachliche) Hektik und Arroganz ablegen: Einfach „konsumieren“ lässt sich Hundeggers Sprache nämlich nicht. Versuchen wir es doch, so setzen gleich die typischen Trunkenheitssymptome ein: Wir verlieren Gleichgewicht und Orientierung und werden quasi seekrank. Wenn wir hingegen innehalten, bis die Wogen sich legen, bis das Schwanken sich setzt, dann können auch wir über uns selbst hinausgehen, wie Hundegger beim Schreiben über sich selbst hinausgeht.
Unsere Reise kann nun beginnen:

/ trat als insel dein berg auf / der sich […] nur ohne ruß im gesicht nur ohne das arg kleine boot deiner dichtkunst und nur über das wasser betreten ließ / lang nach dem schlimmen fluss weit weitergehen: wie ein mensch der umdreht geht /

Ja, auch wir, die lesen, sind gezwungen, umzudrehen. Wovor? Vor der Steilwand unserer Lügen (die des Lebens und die der Sprache). Vor dem Dunst unserer Scheinheiligkeit. Vor der Leere unserer Unbekümmert­heit. Worum geht es? Es geht um Läuterung. Läuterung von unseren (Un)taten, Läuterung von unseren verkrusteten Einstellungen und Vorstellungen, von unseren lahmen Deutungen, Läuterung von unserem Hang zur Täuschung und Selbsttäuschung und vor allem zur Selbstabsolution. Das ist ein langer Weg. Ein schwieriger Weg voller Fallen / voll vom Fallen. Er erfordert Demut.

den sternenhimmel so oft umkreisen wie er es dein leben lang über dir tat / wo du dein reuen stets […] weiterhin vertagst /so gehst du selbst durchs fegefeuer / […] / bis du es nicht nur weißt: am ende gilt nur das was war […]/ wie würden wir es genießen das bild deiner demut zu sehen

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Bereits als ich Barbara Hundeggers Läuterungsgedichte zum ersten Mal gelesen habe, war ich buchstäblich überwältigt von ihrer literarischen Dichte. Bei der zweiten und dritten Lektüre hat sich dieses Gefühl noch um einiges verstärkt. Wie keine andere / kein anderer meistert sie die Kunst der nahtlosen und nahezu unsichtbaren Einflechtung von Zitaten in den lyrischen Neutext. Ihre gesamte Komposition ist voll bespickt mit Dantezitaten, doch fließen sie in die Zeilen hinein wie Wasser ins Wasser – das ist die tragende Struktur dieses Werks.

geht wer hier geht wo man / noch atmet: auf dem bedenklich schmalen grat / zwischen abhang und abhang der sich mäßigt / und abhang der einen schoß aus sich macht

nicht durch tun sondern durch nichttun / ist dir entgangen was du zu spät erkannt / hast als glück / drei mal einen anderen / eine andere umfangen und drei mal / landen vor der eigenen brust

was setzt dich in gang wenn der nebel nichts / bietet das deine richtung bestimmt: feuchtes / dichtes grau / in das musst du schauen wie der / maulwurf durch seine augenhaut

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Dantes Commedia ist ein überaus politisches Werk. Und unter den heute gegebenen Umständen ist es von brisanter Aktualität. Hundegger lässt keinen Zweifel zu, dass dort und hier keinesfalls nur von individuellen Schicksalen die Rede ist:

das volk sieht: seine schlechte führung / ist nur auf das aus wonach es selbst giert / die nötigen qualitäten fehlen / zufallschefs voller mängel / sie halten um es noch zu / steigern das heißbegehrte hoch dass ja / alle es sehen

kommt nur euer europa zu schauen: / das um sich weint vor lauter feingefassten / beschlüssen die bis mitte november nicht / hielten was im oktober noch galt

die balkone eurer reden / von denen / ihr winkt / nicht durch säulen gestützt / sondern: von menschen getragen

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Genauso verhält es sich mit dem Thema „Frauen“. Dantes vergötternde Liebe zu Beatrice ist zu einem Universaltopos der Literatur geworden. Die respektvolle wenn nicht gar bewundernde Haltung des italienischen Dichters gegenüber den Frauen hebt sich stark von der Verachtung seiner Zeitgenossen ab. Hundegger greift Dantes fegefeurische Frauen­beschreibungen auf, packt sie an sechs Stellen crescendoartig zusammen und entwirft so ein neues Gesamtbild. Wir merken gleich: es ist von uns, heute, die Rede:

und eine frau ganz allein: wie / sie dahingeht / eine frau die / fragt : ob schmerz der schuld entsprechen soll / eine frau / die es unterm schleier nicht / mehr aushielt / und eine frau / deren egal wie langen kleider / man aufreißt und zerschneidet / ihr den bauch […]

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Zwei weitere Aspekte von Hundeggers Dantelyrik möchte ich abschließend noch hervorheben: die Kunst des Vergleichs und die der Ironie.

Vergleich und Metapher sind die Tragsäulen jedweder Poesie, und Dante macht in seiner Commedia ausgiebig davon Gebrauch (Flasch spricht von „Bildertaumel“).
Hundegger beschließt, nicht nur den Bildertaumel des Purgatoriums in ihre Verse zu transponieren, sondern hier und dort auch die heute etwas eigenartig anmutende Dantesche „Wie-Formel“ („wie ein Mensch, der“) wortwörtlich in ihren Text aufzunehmen, das merken wir gleich beim Titel des Werks. Der Effekt ist erstaunlich und führt uns zum einleitenden Gleichgewichtsdiskurs zurück: Die Entfremdung, die der Vergleich erzeugt, zwingt uns, innezuhalten (oder sogar: umzudrehen), um den Satz zu verstehen.

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Es soll aber ja nicht der Anschein geweckt werden, als wäre Hundeggers Läuterungslyrik „dunkel“. Nein, dunkel ist sie wahrlich nicht. Wie ein blanker Sonnenstrahl sezieren ihre Worte haargenau und unerschrocken unsere Welt und schenken uns Einblick in ihre Höhen und Tiefen, in die facettenreiche Kristallstruktur der (innerlichen und äußerlichen) Gebilde, in die aufschlussreichen Schimmer der fließenden Ereigniswelt. Manchmal kann uns aber auch ein Schmunzeln oder gar ein lautes Lachen dazu behilflich sein, und das weiß Hundegger – Dante übrigens auch – sehr wohl. Wenn von „wachenden engeln, die sich die nägel machen“, von „ablassderivaten“, von „fahlsten Gestalten, auf 50 Arten berggrau“ usw. die Rede ist, überkommt uns ein unerwarteter Anflug von Heiterkeit, dem nicht zu widerstehen ist.

Nun möchte ich aber zum Ende meiner Bemerkungen kommen. Und die sind:
„wie ein mensch der umdreht geht“ ist ein Werk, dem eine unerhörte Ausgrabungs- und Zubereitungs- und Neuschaffungsarbeit zugrunde liegt. Hundeggers Verdienst ist es, dass sie damit den DantefreundInnen ein Riesengeschenk gemacht hat, ohne den Lesegenuss für jene, die Dante nicht oder kaum kennen, auch nur um einen Hauch verkleinert zu haben.
Das Leseerlebnis ist von währender Wirkung: Wir gehen geläutert aus der Lektüre hervor.

Deswegen mein zutiefst empfundener Dank an die „Lichtträgerin“ Barbara Hundegger, den ich mit einem letzten Zitat zum Ausdruck bringen möchte:

/ wem leuchtest du?: dir? / deinem weg?
/ wem / gehst du nach?: einem der dir leuchtet?
/ oder / bist du die, die ihr licht hinter sich her trägt: /
/ es macht arbeit / ihr selbst nützt es wenig
/ aber die ihr folgen gehen daran entlang

 
 
nach obenDonatella Trevisan

 


 

Martin Kolosz: Der Ruf – Der Fall – Der Ekel. Erzählungen.
Weitra: Bibliothek der Provinz 2014.

© Bibliothek der Provinz, 2014Von verwirrender Rätselhaftigkeit sind die kurzen Geschichten des Martin Kolozs. Dazu tragen ihr Inhalt und vor allem die Anordnung der Textteile bei. So scheint „Der Ruf“ auf zwei Zeitebenen angesiedelt zu sein, bis sich allmählich herausstellt, dass die Texte so geschickt angeordnet sind, dass die fortlaufende Zeitachse bis zur Hälfte der Erzählung quasi aufgeschnitten und so montiert ist, dass Abschnitte des Geschehens aus der Gegenwart mit solchen aus der Vergangenheit einander abwechseln, bis sie zur Deckung gebracht werden. Dieses Arrangement erlaubt eine Komplexität der Handlungsstränge, die über kontinuierliches Erzählen hinausgehen.

Die „Helden“ in Kolozs’ Erzählungen sind Männer von zweifelhafter seelischer oder physischer Konstitution. In „Der Ruf“ befällt Alvin Resa, einen literarisch gebildeten Mann mit dem Pseudonym „Ishmael“, ein zunächst einfach scheinendes, dann jedoch immer rätselhafteres Leiden. Er trifft „Betsy“, eine Online-Bekanntschaft, zum One-Night-Stand. Plötzlich hört er einen durchdringenden, schmerzhaften Ton, der in der Folge von Dr. Heger als Tinnitus diagnostiziert wird. Der lockere Typ mit wechselnden weiblichen Bekanntschaften erleidet ein Schicksal, das ihn zunehmend gereizt werden lässt. Der HNO-Arzt geht einem Verdacht nach, den er nach Hinzuziehung von Kollegen aus den Fachbereichen Astrophysik und Theologie schließlich bestätigt findet: Anlass für Resas Schmerzen und Störgeräusche im Kopf ist die Entstehung eines Universums im Innenohr, das sich zu Kugelsternhaufen und Galaxien entwickelt. Die Presse wird auf den Fall aufmerksam und Resa unfreiwillig zum Medienstar.

Die Erzählung „Der Fall“ stellt einen Schreibenden und seinen Verleger vor. Der Mann soll eine Biografie über Peter Sellers schreiben, womit er, so scheint es, Probleme hat. Sollte ihm dies nicht gelingen, müsste er den Vorschuss zurückzahlen, also erbittet er sich Zeit. Selbstfindungsprobleme eines Schriftstellers, der, statt am eigenen Werk zu arbeiten, über berühmte Männer schreibt. „Die Größenverhältnisse stimmten nicht mehr: Sein Selbstwert war geschrumpft, sein Charakter verkümmert und seine Bedeutung war längst nicht so groß geworden, wie er es sich vorgestellt hatte.“ Eine Parallelhandlung führt ins Irrenhaus, mit verstörenden Gesprächen: „Die Hölle sind die anderen!“ „Sagt Brecht.“ „Sage ich!“ Eigentlich stammt das Zitat von Sartre, „Geschlossene Gesellschaft“.

Dies ist ein wesentlicher Teil des Kolosz’schen Kosmos, eine ständige Desinformation, die den Leser auf falsche Fährten führt. Ausgestelltes Wissen, das sich bei näherer Betrachtung als gar nicht so gelehrt herausstellt. „Was war es also dann, das ihn seit Wochen in seinem Arbeitszimmer gefangen hielt, wo er sich das Hirn zu Brei zermarterte und dennoch nichts zustande brachte? Letzten Endes würde er nie daraufkommen, weil er am falschen Platz suchte. Es lag nicht an Peter Sellers, es hätte auch jeder andere sein können. Es kam aus dem Nebel, wo es auf ihn gelauert hatte. Und jetzt schlug es zu, weil er unaufmerksam geworden war und die Gefahr nicht erkannte. Er hatte es nicht kommen gesehen.“ Kurz: Der Mann leidet unter einer Schreibblockade.

„Der Ekel“ schließlich stellt einen einsamen, alten Mann namens Max vor, der sich in einem japanischen Restaurant betrinkt, es noch nach Hause schafft und angesudelt erwacht. Ihn quält die Erinnerung an seine verstorbene Frau, mit der er glückliche Zeiten erlebt hat. Kein geringeres Bild als das des platonischen Mythos wendet der Erzähler an, um die Symbiose zwischen den beiden darzustellen: Hier haben sich zwei Halbkugeln gefunden und sind eins geworden. Aber Maria wird todkrank und ein gemeinsamer Doppelselbstmord vereinbart. Max bringt es jedoch nicht über sich, sich selbst zu töten, also geht nur sie, während er weitermacht, voller Ekel. Im Puff lässt er sich von Frauen bedienen, die Maria ähnlich sehen und denen er den Namen seiner ewigen Geliebten gibt. Der Selbstvorwurf, seiner Ehefrau nicht in den Tod gefolgt zu sein, sitzt wie ein Stachel in seinem Kopf. Schließlich bereitet er seinen Selbstmord vor. Dazu lässt er sich von seinem Schwager, dem pensionierten Polizisten, eine Waffe geben und lädt eine Prostituierte zu sich ein, um den Doppelselbstmord nachzuholen. Die Parallele zu Kleist und Henriette Vogel liegt auf der Hand, denn Kleist zählte zu Marias Lieblingslektüre.

Auffallend an diesen Texten ist ein Mangel an emotionaler Wärme. Es sind Experimentieranordnungen, Kalküle, konkrete Beobachtungen, die hier angestellt werden. Die Titel der Erzählungen – Der Ruf, Der Fall, Der Ekel – greifen einen interpretatorischen Aspekt der jeweiligen Geschichte auf, die Zusatzinformationen liefern, welche aus sich selbst nicht zwingend hervorgehen. Definitiv Eingeschlossene sind Kolosz’ Figuren allesamt. In sich, in Gefängnissen, die sie sich selbst gebaut haben, mit dem „Gefühl, in diesem Leben nichts verloren zu haben“.

nach obenFlorian Braitenthaller
 


 

Markus Lindner: Schmelze. Prosa.
Weitra: Bibliothek der Provinz 2014.

© Bibliothek der Provinz, 2014Schmelze bedeutet Übergang von einem Aggregatzustand in den anderen, von Eis zu Flüssigkeit, von hart und kantig zu weich oder fließend. Damit etwas schmelzen kann, bedarf es entweder kontinuierlicher Wärme oder plötzlicher Hitze.
       Das Moment der Veränderung durchziehe als gemeinsame Komponente alle in dem kleinen Band versammelten Prosatexte von Markus Lindner, heißt es im Klappentext. Der Autor ist gebürtig aus Schwaz in Tirol, und dies ist – nach einigen Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften – sein erstes Buch. Studiert hat Lindner Philosophie und Informatik, Wien ist sein Lebensmittelpunkt. Doch die Texte führen weit über Wien und Tirol hinaus, sie erzählen über Reisen und Aufenthalte in fernen Ländern: Griechenland, Frankreich, Russland, Naher Osten und China. In der Bewegung, im Vorankommen und im Ankommen  geschieht die Veränderung vornehmlich als Verschiebung der gewohnten Wahrnehmung. Die erzählten Realitäten haben wenig herkömmlich Exotisches an sich, gereist wird abseits touristischer Pfade, aufgesucht werden meist düstere Orte, die von schrägen Typen bevölkert sind. In einigen Texten überwiegen eindringliche Bilder einer fremden feindlichen Welt, in anderen geht es um Arbeit, um harte Arbeit, und wieder andere erzählen von verschrobenen Typen und merkwürdigen Situationen. Der Autor umkreist den Alltag, das Alltägliche, das Fahren und die persönliche Zeit, die erbarmungslos vergeht. In allem ist Flüchtiges und die Möglichkeit des Anderen, des Verschobenen. Die Protagonisten der Geschichten wechseln, doch allen eignet ein Blick über die konkrete, vielleicht banale Wirklichkeit hinaus. Zwischen sogenannter Realität und dem Surrealem verschwimmen die Grenzen, Liebe und Sexualität ereignen sich beiläufig, aus dem Kontext gerissen und ohne Zusammenhang: Auch den Beziehungen und der häufigen Anwesenheit von Tieren haftet etwas Unwirkliches an.
       Trotz des surrealen Charakters dieser Texte haben sie mehr Bodenhaftung als vieles andere, was heute veröffentlicht wird. Einige Beispiele: Den Auftakt macht eine Art Parabel mit dem Titel Inkunabeln: Ein Ich-Erzähler verkocht Windeln zu „stoffenem Brei“, es handelt sich um die Arbeit an einem Buch, erklärt er seinem Besucher, es ist ein merkwürdiges Wesen, ein sprechender Hund, den der Windelkocher einen Rebell nennt: „Ich mache, also ich koche ein Buch. Es liegt noch in den Windeln sozusagen.“ (S. 7) Als der Hund schließlich nach drei Tagen geht und Pflanzen ihn besuchen, ist das Buch „schon getrocknet, geschnitten und fertig gebunden.“ (S. 9) Der zweite Text der Sammlung Das Schichteln sticht besonders hervor: Es ist die konzise Schilderung einer (kaum näher umrissenen) Familie, deren Leben von der Schichtarbeit im „Schicht-Werk“ bestimmt ist – einem Werk, in dem seit dem achten Jahrhundert  Kupfer verschmolzen wird. (S. 10) Der Blick des Erzählers schweift beobachtend über diesen Ort, in dem die Männer den Hauptteil ihres Lebens verbringen, in einer Umgebung, „eingewickelt jeden Tag, mal mehr, mal weniger – es kommt auf die Windrichtung an – umwickelt von der schwarzen Seide des Dioxins, wie Messungen in den 1980ern plötzlich herausfinden.“ (S. 11)
       Das Zitieren objektiver Fakten aus Geschichte, Technik und Umwelt gehört zu Lindners Schreiben ebenso wie das Märchenhafte oder die (meist winterlichen) Naturbeschreibungen. In Passagierscheine reihen sich Russland-Impressionen eher unzusammenhängend aneinander, dem Leser und der Leserin werden reale Orte oder Daten zur russischen Wirtschaft geliefert, doch die Informationen ergeben kein eindeutiges Bild, sie schwimmen in häufig von Alkoholkonsum gekennzeichneten Bewusstseinszuständen und bleiben, was wohl bewusst so gestaltet ist, konturlos. Gesellschaftliche Gegenwartsthemen   wie das Leben von Asylwerbern in Österreich melden sich ebenso zu Wort wie die Tatsache des fortschreitenden Klimawandels und der Umweltzerstörung, doch diese Themen werden nicht ausgeführt, nur eingestreut. Einem Text wie Wintergang, in dem nichts anderes als ein Spaziergang im verschneiten Wald erzählt wird, gibt die Tatsache, dass der Spaziergänger von der Polizei aufgehalten wird, damit er sich ausweise, einen wohltuenden Realitätsbezug, ohne aufdringlichen moralischen Impetus. Man wird beim Wandern in heimatlicher Landschaft unter Umständen eben für einen Ausländer gehalten und polizeilich überprüft. (S. 31)  Genauso kann es geschehen, dass man beim Gehen auf einen in nur wenigen Jahren überraschend weit zurückgegangenen, demnach „verwundeten“ Gletscher stößt. (S. 73) Solche Dinge gibt es, doch sie scheinen längst zu Alltag geronnen, längst in den Bereich des Unveränderbaren gerückt. Selbst die Rakete einer Drohne, die ein Internetcafé in Syrien zerstört und mehrere Menschen in den Tod reißt, fügt sich beinahe selbstverständlich in das Bild einer verlorenen Welt. Nur in einem Text ZUERST: FRESSEN (Mit dem Kopf durch die Chinesische Mauer) klingt so etwas wie Anklage an, wenn der Konsumdrang der Massen und der Überwachungsstaat als Mittel zu ihrer Gefügig-Machung vorgeführt wird in der Parallele zum Märchen vom Schlaraffenland. In diesem Beitrag, mehr Essay als Geschichte, deklariert der Ich-Erzähler, anders als Wikipedia „Gesellschaftskritisches“ beobachten und erkennen zu wollen. (S. 32)
       In Summe erzählt Markus Lindner nicht larmoyant, aber auch nicht wirklich engagiert von einer aus den Fugen geratenen Welt, in der man nicht glücklich zu sein scheint, aber zu überleben weiß.  Die Texte widersetzen sich den möglichen Identifikationsangeboten und dem Aufbau von Spannung durch das Schildern durchgehender Charaktere und Geschichten; sie verhalten sich eher wie Splitter und Fragmente, was ein Dranbleiben beim Lesen nicht unbedingt fördert. Doch so ist sie eben, die hier geschilderte Welt, ein bisschen krass, ein bisschen langweilig. Sie ist vor allem kalt und doch hin und wieder so heiß, dass Materie zum Schmelzen gebracht wird. Man nimmt es offenbar hin. Das sich wie ein roter Faden durch diese Texte ziehende Lebensgefühl ist das einer Generation, die Unrecht und Fehlentwicklung zwar erkennt, aber nichts dagegen aufzubringen weiß.

Erika Wimmer

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Sepp Mall: Schläft ein Lied. Gedichte.
Innsbruck: Haymon 2014.

Veterinäre mit gebleckten Zähnen

© Haymon, 2014Ach, diese Romantiker! Wenn alles doch nur so einfach und hermeneutisch unterkomplex wäre, und wenn die Wünschelrute namens Sprache die Dinge nur berühren müsste, damit sich die Welt uns erklärt! Für den Titel seines neuen Gedichtbands hat der Südtiroler Schriftsteller Sepp Mall bei Josef von Eichendorff zugegriffen, bei seiner „Wünschelrute“ und bei der berühmten Sentenz „Schläft ein Lied in alle Dingen“. Rund dreißig Gedichte sind es, an denen man ein poetologisches Referenzsystem prüfen kann, das tatsächlich gut zum lyrischen Werk Sepp Malls passt. So sehr Mall in seiner Prosa ein lakonischer Analytiker politischer Zustände ist, so sehr ist er in der Lyrik ein Romantiker. Das aber heißt noch nicht, dass es dabei keine Transformationen der romantischen Idee in eine ästhetische Gegenwart geben würde.
 
Sepp Malls Gedichte holen weit aus. Sie gehen zurück in die Kindheit, spüren Klänge und Laute auf, die Spuren bis ins Jetzt legen. Da genügt zum Beispiel schon eine „Handvoll Wörter nur“: „Was soll man (sag) / mit einem Wort wie Flanell / das ein Sechsjähriger / Silbe an Silbe rückend / tastend erfasst am Küchentisch / In seinem ersten Buch aus der Pfarrbibliothek / starr vor Glück des Begreifens / Was soll man mit so einem Wort / das nie verdorrt über die Jahre / das einem nachflattert / und immer gleich nach Butterfass riecht / Nach Mutters Lebkuchen / Krippenmoos / nach all den Dingen / die verlur gegangen / nur dies eine nicht.“ Dieser Rückgriff auf ein immer noch nachwirkendes Damals ist bei Sepp Mall Programm. „Vergangenheitshaufen“ sind es, in denen Bilder, Erfahrungen und Gefühle akkumulieren, und es braucht nur ein Wort, damit sie sich bilden. Das Wort „Flanell“, ein paar Mal im Jahr auftauchend, wie es heißt, lagert wieder neue Wörter an, macht „Erinnerungsfelder“ auf, in denen der Großvater mit seinen gezwirbelten Bartspitzen eine Rolle spielt, und das Galizien des Kriegs, und von dort geht es wieder zurück in die Kindheit und ihren onomatopoetischen Raum: Flanell, Hasenfell.
 
Die Gedichte von Sepp Mall oszillieren zwischen Bildern der Geborgenheit und des Schreckens, und dass der Riss zwischen beidem genau durch die Wörter geht, ist einerseits ein Kriterium der Erfahrung, macht andererseits aber auch den Reiz dieser Gedichte aus. Das Lied, das in den Dingen schläft, ist keineswegs nur ein romantischer Gesang, sondern es ist auch mit den Fanfaren des Todes durchsetzt. Wie ein Weltinventar klingt es, wenn der Südtiroler Lyriker aufzählt, was ist und was eines Tages nicht mehr sein wird. Almrausch, Anstand und Azalee, Diskontsätze, Dotterblumen, Dörrpflaumen, sie werden der „Handarbeit des großen Schnitters“ zum Opfer fallen, so wie vor ihnen schon Hemingway, Hinkel und Horowitz. Drakonisch ist der Schnitter, etwas milder ist der Dichter selbst. Einer Art avantgardistischem Eingriff fällt in seinen Gedichten das e in der Endsilbe –en zum Opfer, zurück bleiben Verstümmelungen, die ein lektoraler Eingreiftrupp zu verhindern hätte wissen müssen:  „Fichtn“, „Möwn“, „Fliegn“. „Heiln / ist auch / so ein Wort / das man gern / in den Mund nimmt.“ – Nein.
 
„Schläft ein Lied“ ist voller Aufzählungen, voll Listen und Litaneien, die Gedichte können abmagern bis zum Skelett, und das hat hier durchaus Methode. Eine Methode jedenfalls, die wohl nicht ohne Grund den Katholizismus mit der literarischen Moderne verbindet. Pathos möchte Sepp Mall vermeiden, und so ist auch sein Eingriff in die Morphologie der Wörter ein Versuch, falschen Aufladungen zu entkommen und bei den richtigen zu bleiben. Ihr Kraftfeld ist es, aus dem der neue Gedichtband seine Unmittelbarkeit gewinnt. Ins Refugium der frühen Jahre kehren Malls Poeme zurück, in die „Stubnkammern“ und ins „Halbdunkel der Kleiderschränke“, in den Vinschgau und in die Melodien aus Zeiten, in denen selbst die Väter noch jung waren. Man kann „Schläft ein Lied“ als Wörterbiografie lesen, als eine Biografie, in der das Eigenleben der Begriffe nicht minder wichtig ist als unser Leben mit ihnen. In großer Lakonie verdichtet Mall vergangene Augenblicke. Es geht auf die Place de la Concorde in Paris, ins Meraner Knabenseminar, erzählt von „faulenden Matratzen“, die einmal Unterlage eines Lotterlebens waren, oder setzt eine Szene an einer namenlose italienische Tankstelle ins Bild: „Und wenn auch Hunde / einen Gott / fragst du an der Tankstelle / (ich stand an der Pumpe / wir / redeten durchs Fenster durchs offne) / : Wie könnte er sein // Dann fuhren wir weiter / lachten über Briefträger Ve- / terinäre / ja mit gebleckten Zähnen / und Dackeln im Strahlenkranz / : sahen der Dämmrung zu / wie sie eins nach dem andren / verschluckte // (die Bäume / die Wünsche / die Köter am Straßenrand).“ Mehr als diese paar Zeilen braucht es nicht, um das flirrende Panorama eines Augenblicks zu fassen, und man sieht an ihnen, was Sepp Mall kann. Eichendorffs poetischen Zirkelschluss vom Lied, das in allen Dingen schläft, durchläuft er im Nebensächlichsten, um zur Hauptsache zu kommen: Man muss die Wörter immer wieder neu sagen, um sie zum Leben zu erwecken.

nach obenPaul Jandl 

 


 

Rudolf Alexander Mayr: Lächeln gegen die Kälte. Geschichten aus dem Himalaya.
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2014.
 
© Tyrolia, 2014Geschichten aus dem Himalaya – der Untertitel dieses Werkes mag so manchem suggerieren, dass man eine der unzähligen Bergsteigerfibeln vor sich hat. Ein Buch eben, das wie so viele andere das Bergsteigererleben thematisiert, sich versucht dem Mythos Berg zu nähern, Gipfelsiege ebenso wie Gipfelniederlagen in epenhafter Tragik oder schemenhafter Dokumentation zu beschreiben. Doch „Lächeln gegen die Kälte“ ist kein herkömmliches Buch über das Leben in einer Hochgebirgsregion und es ist – Gott sei Dank – auch keine lapidare Erzählsammlung zur so viel gepriesenen Selbstfindung.
Der Autor legt auch kein simples Reisetagebuch vor, sondern eine literarische, reflexive Bearbeitung von Eindrücken, die über Jahre gewachsen sind. Und dazu braucht es Empathie, aber nicht zuletzt einen leichten Zynismus gegenüber den eigenen Wertigkeiten, die sich auch ändern. Er erzählt als Reisender über die Bereisten, u.a. über geradezu skurrile Begebenheiten, über Einzelschicksale ohne den Eindruck eines eurozentristischen Voryeurs zu hinterlassen. Rudi Mayr kommentiert in seinen „Geschichten“ auch nicht den Aufstand der Bereisten, sondern nähert sich behutsam den Lebensbedingungen in der Himalaya-Region an, manchmal mit einem lachenden, manchmal aber auch mit einem weinenden Auge.
Und keine Geschichte gleicht der anderen. Als spannungsgeladen und zugleich auch mit Ironie versehen entpuppt sich die Erzählung „Lukla, der Whiskypilot und das Hotel Oriental“. Ian Fleming hätte für einen seiner James-Bond-Klassiker keine bessere Vorlage finden können – und wohl auch keine, die der „dramaturgischen“ Wahrheit so nahe kommt.
Den Blick für das Unwesentliche, der das äußere Wesentliche gerade bei einem Menschen ausmacht, unterstreicht der Autor humorvoll in einem Vergleich mit seiner Kindheit im Fasching. Er beschreibt den großen „Mangale“-Sherpa in seinem Aussehen als Mecki-Figur, mit stacheliger Frisur und großen Geheimratsecken. Keine respektlose Annäherung, sondern wenn man einzelne Stationen des Sherpas verfolgt, eine passende Charakterisierung.

Ausgewählte Persönlichkeiten nehmen in den vorliegenden Erzählungen ganz prinzipiell breiten Raum ein. In „Sundare“ wird der Niedergang eines Menschen behutsam nachgezeichnet, einst wohlverdient hochdekoriert endet der Mann uneins mit sich, gezeichnet von Exzessen. Lebensschicksale bettet der Autor auch in die unmittelbare Lebenswelt ein, von exotischer Idylle ist aber kaum die Rede. Melancholie ist spürbar, aber auch Einsamkeit. Und mit dieser Einsamkeit, vielleicht Verschlossenheit wird der Erzähler konfrontiert: „Es war Mitte der Siebziger Jahre gewesen, als Urkien..., nach Innsbruck eingeladen wurde. Ich erinnerte mich seiner hageren Gestalt und seines schmalen, wettergegerbten Gesichts mit seinen weltabgewandten Augen.... Damals hatte man Urkien herumgereicht wie eine seltene, wertvolle Trophäe.“ Nach ca. 20 Jahren besuchte der Autor den Sherpa. „Es gehe ihm gut, sagte er schließlich mit schwerem Zungenschlag, es fehle ihm an nichts. Ich blieb eine Weile unter der Tür stehen, ratlos, denn man bot mir keinen Platz an. Schließlich sagte ich einen Abschiedsgruß, der nicht erwidert wurde...“.

In den Geschichten „Yakherz“ oder „Das Herz des Lamas und der schwarze Geier“ stehen mythische bzw. mystische Thematiken im Vordergrund. Es geht um Kraftübertragung des Tieres auf den Menschen oder um das Phänomen der Luftbegräbnisse. Dies sind Themen, die in engem Zusammenhang mit Animismus, mit Umweltbeseelung stehen. Der Autor beobachtet in seinen Geschichten diese Geschehnisse, berichtet von außergewöhnlichen Begebenheiten – ohne jedoch esoterisch angehaucht hier postulierende Lehren von der Unfehlbarkeit der Natur anzupreisen. Hier kommt es ihm wohl zugute, dass er mit den alpinen Volksglaubensvorstellungen vertraut ist, die von der Grundtendenz her gar nicht so weit von den volksreligiösen Anschauungen im Himalaya entfernt sind.
In den Geschichten, wo es um derartige ungewöhnliche Phänomene geht, fällt auf, dass der Autor zuhört, notiert – aber all dies mit Distanz. Im Vordergrund stehen die literarischen Beschreibungen, die in ihrer Prägnanz deutlich aufzeigen, dass es die Menschen selbst sind, die im Zentrum stehen. Und das funktioniert auch mit Humor, mit einer gewissen Portion an Eigenironie wie zum Beispiel in der Geschichte „Kapa Gyalzen und die kosmische Höhenstrahlung“. Klimaveränderung, Gletscherschmelze sind die zentralen Themen, die den Autor beschäftigten und über einen gewissen Zeitraum sein political correctness-Leben mitbestimmten. Ob nun eine kosmische Höhenstrahlung Auswirkungen hat, bleibt der Naturwissenschaft oder den Physikern vorbehalten. Der Miniaturmaler Kapa Gyalzen geht auf seine Weise damit um...
Wer nicht die Höhenluft – mit oder ohne Sauerstoff – im Himalaya physisch erleben will, kann es mit diesen Geschichten. Mit einem „Lächeln gegen die Kälte“, das wohl nur ein langjähriger Reisender dieser Region so trefflich literarisch umsetzen kann.

nach obenPetra Streng
  


 

Thomas Nußbaumer (Hg.): Das Neue in der Volksmusik der Alpen. Von der “Neuen Volksmusik” und anderen innovativen Entwicklungen.
Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2014.

Der Volksmusik ihre neuen Kleider

© Wagner, 2014Volksmusik? Das muss nun wirklich nicht sein! Dieser Schmarrn, den die Nazis aufrührten und den die Kommerzbranche unendlich streckt, Musik mit Trachtler-Optik, exportierter Nationalitäten-Potpourri, im Inland dauerbeschallend, wahlweise faserschmeichlerisch lieb oder augenzwinkernd aufgezwickt. Ein Gräuel! Man muss aufpassen, dass man nicht weggejodelt wird, warnte Olga Neuwirth zu Recht: “Für mich als Komponistin kann der Sinn von Musik nicht darin liegen, Menschen mit Verheißungen einer alle Grenzen überbrückenden Gemeinsamkeit einzulullen und gefügig zu machen. Ich kann die Wirklichkeit nicht besser machen als sie ist. Ich möchte bewußt denkende Menschen, Selberdenker, als Zuhörer haben, die in der Musik und in der Kunst überhaupt die Widerspiegelung des suchenden Menschen sehen, der entschlossen ist, das Gewohnte zu begreifen, das Herrschende zu überwinden und ins Unbekannte vorzustoßen - der daher seiner Umgebung gegenüber offener und toleranter ist.” Nein, was Neuwirth in ihrer Rede anlässlich der Großdemonstration in Wien am 19.2.2000 gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ für Musik forderte, das erfüllt Volksmusik nun wirklich nicht.

Volksmusik in diesem Gegen-Sinn ist tatsächlich “schlecht, weil ohne ehrliches Bekenntnis, weil umgeben mit dem Schein der heilen Welt, weil keusch, leer, nicht einmal zum Abreagieren geeignet”. Gerlinde Haid schriebs schon 1985 in ihr Eröffnungsreferat zu einem Seminar für Volksmusikforschung mit dem Thema “Tradition und Innovation als Phänomene der Volksmusik in Österreich in der Mitte des 20. Jahrhunderts”. Mittlerweile ist das 21. Jahrhundert angebrochen und diese hellsichtige Volksmusikforscherin und Thomas Nußbaumer, Musikethnologe an der Innsbrucker Abteilung für Musikwissenschaft der Universität Mozarteum Salzburg, sahen die Zeit gekommen, die Thematik von damals “fortzuspinnen”. Der Grund? Sicher, da mag es – seit Herder Anfang des 19. Jahrhunderts den Startschuss zur Volksliedforschung gab – die eine oder andere neue Entwicklung in der traditionellen Volksmusik gegeben haben oder geben; und die populäre volkstümliche Musik mag soziologisch einiges hergeben. Aber vielleicht interessiert das doch nur Eingefleischte? Soll sein, wie auch Theorien in diesem Symposienband, die in ihrer Komplexität merkwürdig kontrastiv zum untersuchten Gegenstand daherkommen. In der Hauptsache geht es aber doch um die Neue Volksmusik, ein wenig sogar um Migrantenmusik (Wolfgang Schlags herausragende “Migrant Music Vienna”-CD-Box), es geht um Klänge, die “schräg dahoam” sind. Da gibts tatsächlich viel zu entdecken, besonders, weil die Beiträge nicht nur Österreich, sondern auch Bayern, die Schweiz und Slowenien betreffen. Ausnehmend klar und konkret ist Johannes Rühls Beitrag über “Die ‘Neue Volksmusik’ der Schweiz und ihre Akteure’”; auf youtube kann man dann einiges nachhören und merkt: In ihren neuen Kleidern steht diese Volksmusik keineswegs nackt da, und auch überhaupt nicht in dämliche Trachten gewandet. Es ist gute Musik.

nach obenBernhard Sandbichler



      

Anne Marie Pircher: Zu den Linien. Erzählungen.
Innsbruck: edition laurin 2014.

© edition laurin, 2014In den großen Städten der Welt zählen öffentliche Verkehrsmittel zu den Selbstverständlichkeiten. Und Hinweisschilder "Zu den Linien" beugen Verirrungen vor, geben aber auch Richtungen an.
Wie im Leben auch, sind es die Linien, entlang denen sich die Menschen - bewusst oder unbewusst - orientieren, fortbewegen, einem scheinbaren Ziel entgegen, das sich bisweilen als Irrweg oder Umweg erweist.
Bisweilen drängt das Leben Menschen zu Umwegen. Ohne dass es ihnen bewußt wird. Erst wenn sich Weichen oder Unebenheiten des Lebensweges bemerkbar machen, wie in dem neuen Buch "Zu den Linien" von Anne Marie Pircher, läßt sich erahnen, dass etwas in eine andere Richtung geht.

Pircher geht in der Beschreibung ihrer Figuren den Weg des unauffälligen Durchschnitts. Für ein normales, halbwegs sicheres Leben.
Allerdings vernimmt man irgendwann einen Grundton, der sich als Suche nach Etwas, deuten lässt, was vordergründig nicht zu bestimmen, nicht zu definieren ist. Bis der Leser merkt, dass dieses Etwas die Sprache ist, die die Autorin als ihre Heimat bezeichnet, mit der Möglichkeit, sich zwischen den Grenzen von Realität und Phantasie hin und her zu bewegen. Und aus der sie - eine literarische Logik - nicht wegzugehen braucht.

"Zu den Linien" ist in der Reihe ihrer Arbeiten - "Rosenquarz", "kopfüber an einem Baum" und "bloßfüßig" - der vierte Titel einer Sammlung von Erzählungen, die sich durch eine auffallende Leichtigkeit auszeichnen. Man muss aufpassen, dass die Erzählungen einem nicht entgleiten oder wegfliegen, wie ein Ballon ins nachmittägliche Blau des Himmels. (Von dem viel die Rede ist).

Mit wenigen Strichen zeichnet sie Charaktere, Situationen, Landschaften, die während des Lesens eine Fülle von Gerüchen und Gefühlen entfalten. Die Namen von Blättern als Koordinaten für die Welt, die Namen von Sternen für die Richtungen, in die ihre Weltraumkapsel der Phantasie unterwegs ist.

Ganz einfache Situationen wie in der Erzählung "Zum Süden hin", enthalten berührende poetischen Aussagen: "… zum Süden hin, zweiteilt der Wind mir die Haare am Hinterkopf. Ein schönes Gefühl, als wärs die Hand einer Mutter" oder wie glatte schöne Steine am Grund eines Baches: "Das Glück des Wassers beim Fließen oder das Glück der Strudel, Wellen und Wirbel", so als ob der Süden, der Beginn einer paradiesischen Dimension wäre, wo sich alles in Wohlgefallen auflösen möchte.
Ein Fluß springt über die Landschaft, die Gedanken schwimmen lautlos dahin im Monolog des Wassers. Im Strom der Schilderungen trifft man auf Wortinseln wie Milch, Nüsse, Klatschmohn, Ingwer und unvermittelt kommt beim Lesen auch der entsprechende Geschmack auf.
Und "wenn einem die Farben verloren gehen" oder "das Seil, auf dem der Seiltänzer verharrt, als zu kurz" erscheint, verspürt man eine leichte Melancholie, dass aus diesen Bildern keine Gedichte geworden sind.

Das Wort "Freiheit" feiert sich fortwährend, als ob es sich gegen die "Unfreiheit" des Schreibens wehren müßte. Offenbar ist das Denken (oder Träumen) schneller als die Finger auf dem Laptop.

Welche Stadt würde sich nicht so eine Liebeserklärung wie in der Erzählung "Heimliche Geliebte" wünschen? Meran ist die glückliche, die morgens, mittags, abends und nachts geküßt wird und die davon nie genug bekommen kann.

Wie man bei der Lektüre dieser Geschichten - am deutlichsten bei "Genau diesen Himmel" - abdriftet in die eigenen Geschichten, in die eigenen Erfahrungen an den beschriebenen Orten.
Die Grammatik der Gefühle ist offenbar in allen Sprachen, Kulturen und Gegenden gleich zu deklinieren: Man versteht sich, man versteht sich nicht, man braucht Abstand oder Nähe, die Annäherung und die Zurückweisung.
Es geht um das Begreifen oder das Nicht-begreifen von Licht, Himmel, Meer in seiner Meta-Bedeutung. Darin liegt die Poesie der Texte.
Das ganze Buch ist - entsprechend der genannten Erzählung - ein Fado. Jener unbeschreibbare portugiesische Seelenzustand, der von allen Bereichen des Lebens wie Essen, Wein, Liebe, Meer, Wind, Himmel, Abschied, Tod, Landschaft ausgelöst, umsponnen, durchdrungen, gefesselt, gesteinigt, erwürgt wird, und in einer unvergleichlichen Art von Melancholie in der Musik, im Tanz, in der Literatur und vor allem im Gesang durch- und hervorbricht.

Manchmal ist es, als ob Pircher - in Form der Protagonistinnen -  ein Geheimnis preisgeben wollte, aber im letzten Moment es doch für sich behält.
Sie reduziert Charaktere auf "die Schöne", "die Blonde", den "Tätowierten", den "mit der Baskenmütze", um sie damit einzigartig zu kennzeichnen. Mehr benötigt es nicht.

Es macht unerwartet betroffen, wenn in "Bambola" etwas Gesagtes nicht das hält, was gemeint ist; wenn auf das, was Eltern sagen, nicht Verlass ist, wenn sich das als folgenreicher Irrtum, als Missverständnis herausstellt. Wenn Sehnsüchte und Erwartungen eines Kindes, zur Quelle der Enttäuschung, des Zorn werden, wenn aus dem Heiligen im Herzen, plötzlich Haß wird.

Pircher hat mit ihren "Linien" in den zwischenmenschlichen Beziehungen Linien aufgezeigt – in der Dialektik der Erfüllbarkeit von Wünschen, Erwartungen und Sehnsüchten.
Man könnte auch sagen, das Buch besitzt eine Art spirituellen Unterton, weil es so etwas wie "Erlösung" von den Belastungen des Lebens anklingen läßt; vielleicht in Aussicht stellt, wenn die Menschen endlich so wären, wie sie von Anfang an gedacht waren.

Die letzten beide Sätze lesen sich dann so: "Ich sitze still und höre die Gedanken der Fische. Lautlos schwimmen sie davon."
Von dieser Poesie könnte man noch viel erwarten.

nach obenHans Augustin

 


  

Annemarie Regensburger, Angelika Polak-Pollhammer: Ehe der letzte Schornstein fällt ...Südtiroler Familien und ihr fremdes Zuhause. Geschichten von Umsiedlerinnen und Umsiedlernn der Imster Südtirolersiedlung am Grettert.
Landeck: EYE 2014.

Annemarie Regensburger: Mittlt durch giahn.
Innsbruck: Haymon 2014.

 

„Was isches wirklig dejs uan sagn lasst da bin ih derhuem?“
Annemarie Regensburger auf den Spuren der Südtiroler-Siedlung in Imst

 

© EYE, 2014Im Herbst 2014 jährte sich das Optionsabkommen zwischen Hitler und Mussolini, das die Umsiedlung der deutsch- und ladinischsprachigen SüdtirolerInnen ins Deutsche Reich regeln sollte, zum 75. Mal. Als Annemarie Regensburgers und Angelika Polak-Pollhammers Buch im Herbst dieses Jahres erschienen ist, hat am Ort, von dem es handelt, der ehemaligen Südtiroler-Siedlung am Grettert in Imst, schon ein neues Kapitel begonnen. Die zwischen 1941 und 1947 erbauten 134 Wohnungen, die vorwiegend an Südtiroler Optantinnen und Optanten vergeben wurden, sind den mehr als 80 neuen Wohnungen in Passivhausbauweise gewichen. Die alten Häuser sind verschwunden – doch die in Imst wohnhafte Schriftstellerin Annemarie Regensburger hat ihre Geschichten gemeinsam mit Angelika Polak-Pollhammer, ebenfalls Imsterin, festgehalten.

In der Einleitung zum Band, der in Gerald Kurdoğlu Nitsches EYE-Verlag erschienen ist und der den Titel Ehe der letzte Schornstein fällt trägt, schildert Regensburger, wie sie eines der leeren und zum Abriss bestimmten Häuser besucht, darin Spuren seiner ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner findet und gerührt von den Überbleibseln ihrer Lebensgeschichten den Entschluss fasst: „Ich will die Lampen, die noch brennen, hüten und weitertragen.“ (S. 11)

Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte der Option, die Architektur der Siedlung sowie die 1939 gegründete und der Deutschen Arbeiterfront angegliederte Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft Neue Heimat Tirol (NHT) folgen zwanzig Familiengeschichten. Sie werden abwechselnd von Regensburger und Polak-Pollhammer erzählt und sind mit Stammbäumen und Fotos angereichert.

© Haymon, 2014Was auf diese Weise entsteht, ist keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Kapitel der Imster Stadtgeschichte, es ist auch keine historische oder architektonische Abhandlung, sondern vielmehr eine Dokumentation des Innenlebens der Siedlung. Über die von den Autorinnen geführten und teilweise wörtlich, teilweise paraphrasiert wiedergegebenen Interviews mit ZeitzeugInnen wird ein emotionaler Bezug zum Thema hergestellt.

Die Familiengedächtnisse, die so festgehalten wurden, weisen häufig Analogien auf. Die Fragen der Autorinnen nach den politischen Einstellungen der OptantInnen, nach den Gründen, die sie zum „Gehen“ bewogen haben und wie sie in Tirol aufgenommen worden seien, werden in den meisten Fällen recht ähnlich beantwortet. Das ist wenig erstaunlich. Interessant ist vielmehr, welche Lesart der Geschichte, welche Erklärungen und Begründungen sich im kollektiven Gedächtnis festgesetzt haben. Und interessant wäre darüber hinaus, wie sich die Imster Bevölkerung an dieses Kapitel der Stadtgeschichte erinnert. Ihr Standpunkt kommt nur durch die Erzählungen zur Sprache, die schildern, wie sie, die BewohnerInnen des „Ghettos“ (S. 71), aufgenommen wurden:

Die Imsterinnen und Imster mochten die Südtiroler nicht. Sie bekamen als Letzte Arbeit, saßen tagelang in der Gemeinde auf dem Boden und warteten. […] Für die Imsterinnen und Imster waren die Südtiroler ‚Zuegroaste‘, die ihnen nur die Arbeit wegnahmen. „Zum Teil kann ich schon verstehen, dass die ImsterInnen neidig waren, denn in der Oberstadt hat man wirklich noch wie im 18. Jahrhundert ‚gehaust‘, und die Südtiroler bekamen neue Wohnungen. Nein, die Zeiten sind früher nicht besser gewesen. Neid und Gewalt gab es immer.“ (S. 37)

An dieser Stelle wird deutlich, dass hier eine Migrationsgeschichte erzählt wird, die zwar viele Unterschiede, aber durchaus auch Ähnlichkeiten zur heutigen Problematik der Flüchtlinge und Asylwerbenden aufweist. Man muss nicht an Traiskirchen denken, auch Imst ist „Flüchtlingsstandort“ geblieben. Die alte Kaserne beherbergt seit 2004 ein Flüchtlingshaus mit dem fast zynisch anmutenden Namen „Sonneninsel“. Seine BewohnerInnen kommen heute unter anderem aus Afghanistan, Armenien, Nigeria, Somalia oder Syrien. Wenn Flüchtlinge aus Südtirol sich in den 1940er Jahren schon fremd und ausgestoßen gefühlt haben – um wieviel schlimmer und entwürdigender muss die Situation für diese Menschen sein? Ob der „Fremde“ nun aus einem 100 oder 200 Kilometer entfernten, kulturell und geschichtlich noch dazu so eng mit dem Einwanderungsland verbundenen Gebiet stammt oder von einem anderen Kontinent, die Verhaltensmuster der Ausgrenzung scheinen ähnlich zu funktionieren.

Es handelt sich bei Ehe der letzte Schornstein fällt um einen sehr persönlichen Zugang zu einem Aspekt der (Süd-)Tiroler Regionalgeschichte des 20. Jahrhunderts, der die Aufmerksamkeit auf ein Thema lenkt, das die Geschichtswissenschaften bis dato leider kaum aufgegriffen haben.

Zu wünschen wäre dem Buch ein gründlicheres Lektorat gewesen, das Fehler im Gebrauch von Phraseologismen („um manche Erfahrung reifer geworden“, S. 83) oder sprachliche Unsicherheiten („erste Zeichen für bewohnt“, S. 36) bereinigt hätte.

Annemarie Regensburger ist über Tirol hinaus für ihre Mundartdichtungen in der Tradition der Wiener Gruppe bekannt. 1983 erschien ihr erster Gedichtband, Zfrieden sein – was isch deas?, dem etliche Publikationen folgten (unter anderem die Gedichtbände Stolperer 1988, Fassn nachn Lebm 1991, Barfueß 1997 und zuletzt die Autobiographie Gewachsen im Schatten 2013). 30 Jahre nach dem lyrischen Debüt der Autorin legt der Haymon Verlag nun unter dem Titel Mittlt durch giahn auch einen Querschnitt aus Regensburgers Dialektlyrik vor, der deutlich unterstreicht, wie groß ihr Verdienst um die Mundartdichtung, die lange Zeit literarisch für nicht ganz voll genommen wurde, ist.

So verschieden die beiden 2014 publizierten Bücher auf den ersten Blick scheinen, das Buchprojekt über die Südtiroler-Siedlung in Imst steht Regensburgers lyrischem Werk, das sich unter anderem durch eine kritische Betrachtung des Heimatbegriffs, von Familie, durch emanzipatorische Forderungen oder – kurz gesagt – durch Gesellschaftskritik auszeichnet, thematisch nahe. Mit den beiden Büchern leistet Annemarie Regensburger (im einen Fall gemeinsam mit Angelika Polak-Pollhammer) einen wertvollen Beitrag, sowohl zur Literatur in Tirol, als auch zur Lokalgeschichte.

nach obenIrene Zanol
 


 

Helmuth Schönauer: Blitz und Koma. Materialien zur Tiroler Gegenwartsliteratur 2000-2014.
Innsbruck: Kyrene 2014.

© Kyrene, 2014In regelmäßigem Zweiwochentakt kommt per e-mail eine Sendung mit je 10 Rezensionen zu aktuellen literarischen Neuerscheinungen. Absender: Helmuth Schönauer. Jeweils eine Sendung beinhaltet Besprechungen zur „Tiroler Gegenwartliteratur“, die nächste jeweils zu ausgewählten Neuerscheinungen des überregionalen Buchmarktes. Schönauer sendet diese Mitteilungen seit mehr als einem Jahrzehnt an ein Netzwerk literarisch Interessierter. Gesammelt findet man seine Rezensionen auch auf seiner Homepage. Buchbesprechungen zur „Tiroler Gegenwartsliteratur“ aus den Jahren 2000 bis 2014 sind nun, nach Autorinnen und Autoren alphabetisch geordnet, in gedruckter Form erschienen: Blitz und Koma. Der umfangreiche Band (594 Seiten) schließt nahtlos an seine beiden früheren an: Rotz und Wasser. Materialen zur Tiroler Gegenwartsliteratur 1988-1999. (Edition Löwenzahn 1999) sowie Essig und Oel. Materialien zur Tiroler Gegenwartsliteratur. Rezensionen 1983-1988 (Hand-Presse 1988). „Die Materialiensammlung dient Literaturinteressierten, Buchhändlern sowie öffentlichen Büchereien als erste Hintergrundinformation über das literarische Tiroler Geschehen im letzten Jahrzehnt“, so lautet die Verlagsankündigung.

Welch‘ ein unermüdlicher Leser !, geht einem/r immer wieder – wenn man seine Rezensionensendung öffnet – durch den Kopf und seine e-mail-Botschaft „Haltet alle durch!“ klingt dabei wie ein wohltuendes Motto an alle, die daran interessiert sein müssen, Vermittlung von Literatur weiterhin am Leben zu erhalten. Oder sie liest sich auch wie die Message an die Literaten: „schreibt weiter, bleibt dran!“. Schönauer registriert, hebt aus, protokolliert und dokumentiert seit dreißig Jahren, was an Gegenwartstexten auf der Bildfläche der literarischen Öffentlichkeit erscheint. Manchmal staunt man ob der Fülle. Und auf viele Texte, die in entlegenen Verlagen erscheinen, um die kaum ein medialer Aufwand betrieben wird, auf stille Debüts oder auf solche, die eher beiläufig am Rande des Geschehens erscheinen, macht Schönauer auf diesem Weg mitunter als einziger aufmerksam. Nicht selten stammt die Erstinformation über das Erscheinen eines Buches bzw. über eine/n Autor/in aus eben einer dieser verlässlichen e-mail-Sendungen. Das macht seine jahrzehntelange Arbeit wertvoll. Er ist ein genauer Beobachter und bringt in Kurz- und Kürzestrezensionen seinen charakteristischen point of view zum Ausdruck, bringt wie spontan geschrieben den Kern und den wesentlichen Grundton eines Textes auf den Punkt. So vermittelt Schönauer einen Ersteindruck, und macht vielleicht neugierig auf eine/n Autor/in. Schönauer legt also Netze aus, und man wünscht der Literatur, dass es ihr nützt.

„Es gibt diese dünne Grenze, wo Wasser zu Eis wird. Eine ähnliche Grenze verläuft durch die Literatur, wenn die flüssigen Texte der Gegenwart sich zu verfestigen beginnen zu einem Block aus Literaturgeschichte, “ so heißt es im Klappentext anschaulich mit diesem typisch Schönauer‘schen Sprachbild. Es darf zwar dahingestellt bleiben, ob man diesen vorliegenden „Block“ als Literaturgeschichte bezeichnen kann, immerhin aber erzählt er viel über Texte und Bücher.

nach obenChristine Riccabona 

 


 

Matthias Schönweger: Meine Rede.
Bozen: Edition Raetia 2014.

© Raetia, 20142014 erschien im Bozner Raetia Verlag Matthias Schönwegers neues Buch Meine Rede, limitiert auf 390 handsignierte Exemplare. MIX:XL steht in schwarzen Lettern auf dem Cover, womit es sich schon gut beschreiben lässt: Bunt gemischt und in rauen Mengen präsentiert Schönweger seine Inhalte in einem Werk, das vom Format her an einen Ziegel erinnert – es misst 23x17x5,5cm und wiegt 2,2kg. Bereits darin gleicht es den früheren Buchobjekten des Meraner Künstlers. Auch was die Verfahrensweisen mit Inhalten und die grafische Gestaltung angeht, unterscheidet sich Meine Rede im Groben kaum von Vorgängern wie Von der Kunst zu Leben/Von der Kunst zu Lieben (Raetia 2012), Grand Coeur Museum (Skarabaeus, 2009) oder Türe zu (Raetia, 2003). In gewohnter Manier „arrangiert/collagiert/assembliert“ (S. 12) Schönweger Text und Bild und bestätigt damit, was sich seit Längerem abgezeichnet hat: Er hat die passende Form für seine Buchobjekte gefunden und offensichtlich wenig Interesse daran, sie zu ändern. Warum aber auch? Das Maximum an Informationsverdichtung scheint erreicht zu sein. Er kombiniert nicht nur Text mit Bild, sondern auch Altes mit Neuem, bringt Fotos von vergangenen Ausstellungen und Performances auf den Seiten genauso unter, wie Zeitungsartikel, Bilder von Objektarrangements und neue konkrete Texte. Im Medium Buch verbindet er alles miteinander und schafft dadurch auf 750 Seiten ein wildes Gemisch seiner künstlerischen Tätigkeiten.
Meine Rede ist dabei nicht nur ein Buch von, sondern auch über Matthias Schönweger, der die Selbstreferenzialität immer wieder auf die Spitze treibt, indem er etwa auf Seite 25 ein Selfie mit den Worten „Das Werk adelt den Künstler“ präsentiert oder auf Seite 95 ein Bild eines Ausstellungsobjekts zeigt, in dem man eine Seite aus Von der Kunst zu Leben/Von der Kunst zu Lieben erkennen kann, auf der wiederum ein Foto von Grand Coeur Museum abgedruckt ist.
Inhaltlich behandelt er eine Vielzahl von Themen, die teilweise auf einer Seite abgehandelt werden, sich aber auch über mehrere erstrecken können. Vor allem den Themenkomplexen Religion und Heimat, mit denen er sich seit jeher kritisch-ironisierend auseinandersetzt, ist Schönweger treu geblieben und kommt immer wieder auf sie zurück. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang auch die Vorliebe für kitschige, brauchtümliche und religiöse Gegenstände, die Teil vieler Objektarrangements sind – von Stickdeckchen über Bilder von Andreas Hofer bis hin zu Thun-Engeln.
Ein Themenkomplex sei an dieser Stelle noch besonders hervorgehoben, nämlich das „Gedenken an den Ausbruch und die Folgen des Großen Krieges (1914-1918 / 2014)“ (S. 587). Aus der „Sichtweise des promovierten Historikers“ (S. 578) setzt sich  Schönweger hier parallel zu seiner Ausstellung Janus im Kunsthaus Meran mit dem Ersten Weltkrieg auseinander, dessen Ausbruch sich 2014 zum hundertsten Mal jährt. Neben konkreten Texten geschieht das vor allem in Bildern und Zeitdokumenten, die er neu arrangiert und kommentiert.
Die Texte selbst, nicht nur zum Ersten Weltkrieg, sondern im gesamten Buch, sind sehr assoziativ, oft humoristisch angehaucht und entsprechen in ihrer Form meist konkreter Dichtung, die in Schönwegers Textkunst von Anfang an eine zentrale Rolle spielt. In vielen Fällen macht sich Schönweger eine Variante der Flächensyntax zunutze, mit der er durch die Art der Anordnung von Worten auf einer Seite neue Bedeutungen erzeugt. In zusätzlicher Kombination mit Bildern schafft er Mehrdeutigkeit und ungewöhnliche Sinnzusammenhänge, indem er „das Wort wörtlich und das Bild bildlich“ (siehe Klappentext) nimmt. Ständig wirft er dabei Fragen auf ohne Antworten vorzugeben und verlangt dem Leser dadurch einiges an Interpretationsbereitschaft ab. Beim Betrachten einzelner Seiten kann man oft lange Zeit ausharren, grübeln, Bedeutungen darin entdecken und wieder verwerfen ohne letztendlich zu dem einen linearen Schluss zu kommen.
Meine Rede entzieht sich einer eindeutigen Sinnzuordnung genauso wie einer linearen Lesart. Eine Anleitung zur Handhabung gibt es nicht, diese muss man sich als Leser selbst zusammenreimen. Es empfiehlt sich, das Buch immer wieder zur Hand zu nehmen, punktuell aufzuschlagen, sich mit Seiten, die einen ansprechen, näher zu befassen, während man andere einfach überspringt und dabei nie außer Acht zu lassen, dass Meine Rede vor allem wohl eines machen soll: Spaß. Das genaue Verstehen der Inhalte stellt dabei ein sekundäres Interesse dar; eher geht es ums Nachdenken. Und Anlässe dafür bietet Schönweger in seinem MIX:XL zuhauf.

nach obenMax Mayr 

 


 

Bernd Schuchter: Föhntage. Roman.
Wien: Braumüller 2014.

© Braumüller, 2014„Der Föhn zog durch die Gassen und langsam kam der Abend. Es dunkelte.“  (S.11)Josef Lahner wohnt in der Südtirolersiedlung in Innsbruck. Eines Abends muss er beim Betrachten eines Bildes, das eine Frau und einen Mann in Tiroler Tracht zeigt, weinen. Lahner ist überrascht, glaubt er doch seine Gefühle zu kennen. Lahner fühlt sich fremd.

Ein Junge fährt mit seinen Eltern über den Brenner. Er freut sich auf Grissini, Spumante und Türkischen Honig, den er nur aus Südtirol kennt. Warum steht auf dem Schild ‚Alto Adige‘? Keine Antwort. Leserinnen und Leser, die in den 90ern Kinder waren, freuen sich wahrscheinlich mit dem Jungen. Eine Kindheit ohne Amazon. Ferien in Jesolo.

Lukas spielt oft und gerne Fußball im Innenhof. Alle freuen sich auf die WM in Italien und sammeln eifrig Stickers der Stars der verschiedenen Mannschaften: Matthäus, Maradonna, … Dann ein Missgeschick: Lukas schießt, „[…] er spürte den Schweiß auf der Stirn und in seinem Nacken ein leichtes Lüftchen.“ (S.32). Ein Fenster zerbricht. Eine Freundschaft beginnt.

Giuseppe Monte stammt aus einem Dorf bei Rom. Als junger Mann kommt er als Carabiniere nach Südtirol. Damals hat er nichts gewusst über dieses Land. Er hatte Angst. Alle hatten Angst. Was hätte er tun sollen? Er ist geblieben. Hat eine Nordtirolerin geheiratet, lebt in Bozen und ist oft in Innsbruck. Die Vergangenheit lässt ihn nicht los.

„Monte zog den Schal enger um seinen Hals. Es ging ein starker und kühler Föhn in Innsbruck […]“ (S. 49)

Der Zufall führt alle drei (wieder) zusammen. Monte und Lahner belastet eine „gemeinsame“ Vergangenheit, Lukas lernt diese erst kennen. Die einzelnen Kapitel verweben sich nach und nach ineinander. Schuchter bedient sich einer gegenwärtig beliebten Erzählstrategie - der Montage. Sie gelingt ihm.

Am Ende steht eine Reise Lahners zu seinen Verwandten nach Südtirol, auf der er Lukas mitnimmt: „Für den Jungen, dachte sich Lahner, nehme ich das auch auf mich.“ (S.157) Ebenso ist ein Treffen zwischen Lahner und Monte geplant.

Das Buch dreht sich um große Themen, die Lahner selbst in den Mund gelegt werden: „Die Grenzen. Die Entscheidungen. Das Erbe. Große Begriffe, dachte Lahner. Überzeugungen, Zufälle, Pech. Erstgeboren. Zweitgeboren. Heimat. Keine Heimat. Alles lange her, dachte Lahner. Vielleicht ist das wirklich alles lange her.“

„Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“
Dieser Satz vonIngeborg Bachmann Zitat trifft für diesen Roman nicht zu. Lahner wird zum Lehrer und findet in Lukas einen aufmerksamen und sensiblen Schüler. Lahner bringt dem Jungen die Geschichte Südtirols nahe. Fern vom Andreas Hofer Mythos referiert er über die Max Weiler Fresken, erzählt von Siegmundskron und betrachtet Tiroler Archetypen kritisch. Auch dem interessierten Leserpublikum wird so die ‚Geschichte zur Lehrmeisterin‘. Mögen auch die Fakten den meisten bekannt sein, so werden sie das ein oder andere Mal vielleicht von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet.

Sprachlich gelingt es Schuchter immer wieder (neben längeren, philosophisch-historischen Ausführungen) durch Sprachknappheit Bedeutendes auf den Punkt zu bringen und gleichzeitig zum Nachdenken anzuregen, denn - wie ein Zeit-Kritiker bereits zu ‚Nachkommen‘ von Streeruwitz treffend zitierte: ‚Sprachkürze gibt Denkweite.‘ (Jean Paul Sartre)

Das Ende ist einerseits traurig, so scheint die Heimat – sowohl das Land als auch die Menschen   für Lahner verloren, andererseits (fast zu?) versöhnlich: Lahner und Monte (die damals auf verschiedenen Seiten bei einem brutalen Verhör aufeinandergetroffen sind) schließen Frieden mit sich und der Vergangenheit: „Monte trank den bitteren Rest seines Espressos bis zur Neige aus. Als der Geschmack in seinem Mund langsam nachließ, sah er einen Mann auf sich zukommen. Mit ausgestrecktem Arm. Ein Lächeln auf den Lippen.“ (S. 181)

Schließlich reflektiert Lukas – auf hohem Niveau für einen Zehnjährigen - über seinen Begriff von Heimat: „Es sind nicht nur die Menschen, […]. Es sind auch die Orte, die Landschaften, auch die Erinnerungen an die Orte und Landschaften, wo man schöne Tage verbracht hat. All diese Erinnerungen sind meine Heimat.“ (S.184) und findet ein Wort für die gemeinsame Reise, das für beide zutrifft: Föhntage

Die Vergangenheit hinterlässt ihre Spuren, auch wenn wir sie – wie Lukas im Roman – manchmal mehr spüren als ‚be-greifen‘ können. Der Historiker Bernd Schuchter geht diesen Spuren sowohl ‚fachmännisch‘ wie auch ‚menschlich‘ nach: So verhilft er ihnen in den Romanfiguren lebendig und gegenwärtig zu werden.
Nach ‚Link und Lerke‘ ist Schuchter wieder ein einfühlsamer Roman über Vergangenheit und das Erinnern gelungen.

nach obenSimone Stefan



 

Franz Tumler: Hier in Berlin, wo ich wohne (Texte 1946-1991). Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Toni Bernhart.
Innsbruck: Haymon 2014.

© Haymon, 2014"Ich zeichne mir eher den Widerspruch auf, bevor ich mir eine Meinung zu eigen mache, bei der ich nicht bin" (S. 22)  ̶ so erklärt Franz Tumler 1952 seinen Weg hin zu seiner Meinungsbildung. Tumler mag diesen Weg in seinem Leben durch Erfahrung und Umbildung gelernt haben, jedenfalls hat er seine Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber nach 1945 erst auf diesem Weg revidiert, wie Toni Bernhart im Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Tumler-Lesebuch Hier in Berlin, wo ich wohne für den unkundigen Leser erläutert. In den von ihrer Thematik, ihrer Länge und ihrer Form her recht unterschiedlichen Texten begegnet der Leser dem "Schreiber" Tumler („Ich sagte, ich sei Schreiber.“ S. 184) auf sehr vielfältige Weise. Er darf ihn bei seinem Schreibprozess vom Wahrnehmen, Beobachten, Notieren der Bilder und Sätze hin zum Erzählen begleiten und wird von seiner Feinsinnigkeit und seiner Erzählkunst angetan sein."[W]omit man anstößt, das erzeugt Widerstand, damit fängt Schreiben meist an" (S. 199): Dies ist der Ausgangspunkt der Poetik Tumlers. In sieben Punkten auf sieben Seiten stellt er dann die weiteren Stationen des Schreibens (1972) in Kürze dar und hält   ̶  wie erwartet   ̶ noch Platz für Zweifel offen.
Diesen methodischen Zugang hat Tumler bereits in seinem Text Die Zeit der Einsicht (1952) gewählt, in dem er dem tieferen Wert seiner Aussagen Satz für Satz nachgeht und ihn nachprüft, um sich selbst darüber klarer zu werden, welche Zeitphase er durchlebt, was sie mit ihm macht und was er aus ihr macht. Tumler schreibt: "Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, wie einer die Zeit äußeren Stillstandes, diese Zeit des Aufenthaltes in einem Niemandsland gewissermaßen, nützt. Ich möchte sie benützen, um Einsichten zu gewinnen weniger mit dem Verstand als mit dem ganzen Trachten meiner Person" (S. 7). Unmissverständlich sind seine Worte. Tumler stellt die Unsicherheiten der Menschen seiner Zeitepoche dar und bricht den Text am Ende ab, "weil [er] diesen Weg weitergehen möchte ohne mit Worten vorwegzunehmen, was [er] nicht erfühlt und erfahren [hat] (14). Der Schreibprozess ist für Tumler ein Weg, der in mehreren Schritten vollzogen wird: Wichtig sind dabei besonders die Bilder, die der Schreibende in seinem Leben einfängt, die er festhalten will und daher auch notiert. Daneben kommt aber auch der "merkwürdige[n] Schichtung von Erinnerungen", die diese Bilder in ihm auslösen, Bedeutung zu, damit man „das Ding, das man erzählen will, mit Konturen von Worten nachzeichnet“ (S. 159). Dem entsprechend fängt Tumler auch die Stadt Berlin, in der er die Hälfte seines Lebens verbringt, in Bildern ein: die Stadt, die „aus ihren Leiden einen Gewinn gezogen“ habe, die „jenen unverwechselbaren Zug historischer Würde“ habe, der ihr ein „tieferes Leben“ (S. 26) gebe, die „Landschaften dieser Stadt“, die wie „historische Erinnerungsstätten“ (S. 59) erscheinen. Berlin sei eine Stadt, die sich aus dem Nichts behauptet habe, ein lebendiger, beweglicher Ort, geprägt von der Phantasie, der Beredsamkeit und dem Humor der dort lebenden Menschen, aber auch „von eine[r] Art Stille und Leere zwischen den Dingen“ (S. 95). Daran, dass sich die Bilder dieser Stadt bereits so sehr seiner „Netzhaut aufgeprägt haben“ und in der „Scheibe des Gedächtnisses zwischen Tag und Schlaf“ (S. 46) verankert sind, macht Tumler die Erkenntnis fest, dass er in Berlin angekommen ist. Wenngleich er als Schreibender genau hinhört, Worte, Stimmen und Akzente in der Stadt differenzierend aufnimmt, stellt er die Bilder dem Gehörten voran: „[I]ch brauche keine Stimme, […]. Ich habe die Bilder […] (S. 50). Gleichzeitig begegnet er den Bildern skeptisch, sieht er sie als innere Anwandlungen, als die „Gestalten, als die sie innen in unserer Seele sind“ (S. 88), die es „in der Wirklichkeit nicht so gibt“ (S. 110), als Beginn seiner Reflexionen. Jedoch hätten auch die Blicke einen Einfluss auf die Bilder. Auch die Zeit kommt beim Wahrnehmungsprozess ins Spiel, die Bilder verändern sich in der Erinnerung, dehnen sich, ziehen sich zusammen. Der Schreiber ist aufmerksam und lässt sich von allen Dingen etwas erzählen, denn in jedem Ding verbergen sich „Andeutungen zu Geschichten“ (S. 127). Detailliert nimmt Tumler die Trennung zwischen West- und Ostberlin wahr und er thematisiert 1962 in einer Sendereihe des RIAS Berlin einzelne Schicksale. Er erzählt von den Menschen, die sich nicht besuchen, die nicht zur Beerdigung ihrer Verwandten fahren dürfen und die daher ihrer „Würde der Freiheit“ (S. 155) beraubt sind. Tumlers Texte reflektieren seine Anteilnahme am Leid dieser Menschen und sein Verständnis für ihre Lebenssituation. Er begegnet Flüchtlingen, die in Berlin um Aufnahme in den Westen bitten. Er schaut und hört genau hin, was ihr Gesicht und ihre Kleidung erzählen, was ihre Worte meinen, und beim Beobachten der zuständigen Beamten, die die Flüchtlinge nach ihrem Leben befragen, überlegt Tumler, nicht ohne sich dafür zu schämen: „Und ist es nicht derselbe Ton überall, wo der Mensch namenlos zu irgendeinem groβen Haufen gehört, der grau und geängstigt zwischen den Inseln gleichgültig welcher Heimaten nun lebt wie in einer traurigen Fremde?“ (S. 41) Eine Beobachtung – leider (noch) immer zeitgemäβ.

Von den übrigen Texten hebt sich Ein kurzer Besuch in München (1952) ab: Hier versteigt sich Tumler in programmatische Ausagen, die auf den heutigen Leser befremdend wirken, wodurch allerdings in diesem Buch die Zusammenhänge zwischen Tumler und dem Nationalsozialismus sehr gut nachvollziehbar werden. So spricht Tumler hier von „den Deutschen“ und verlässt seine sonst den Widerspruch offen haltende Herangehensweise an seinen Erzählgegenstand: Er schreibt von dem „am tiefsten aufgewühlten Volk der Erde“ (S. 19) und fragt sich: „Werden sie je zu einer ersten Rolle kommen, auf die hin sie angelegt sind, die ihnen aber durch ihre missliche Geschichte vorenthalten worden ist? Dem entsprechend auch sein einseitiger und fragwürdiger Appell, „daß Deutschland wiederhergestellt werden und daß es vermitteln soll“ (S. 20). Erst am Ende des Textes kommt der Zweifel in ihm auf und er verweist auf das Widersprüchliche in dem, was er an dieser Stelle behauptet hat.
 
Aber „das Leben (vollzieht sich) in mehreren Schichten“ (S. 13), und dieser interessante und gut zusammengestellte Band reflektiert Tumlers Vielschichtigkeit als Poet, der über ein besonderes Erzähltalent verfügt und dessen tiefgründigen Denkansätzen und Gedankengängen der Leser mit Interesse folgt.

Barbara Siller

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