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 Literatur im Lichthof (8/2016) - Weitwinkel

 

 
 
Stefan Abermann: Ö-Slam 15 – die neunten österreichischen Poetry-Slam-Meisterschaften in Innsbruck

9. Auflage des Poetry Slams in Innsbruck am 23. und 24.10.2015Als 2007 der erste Ö-Slam der Geschichte in Wien stattfand, musste man noch erklären, was denn ein Poetry Slam eigentlich ist. Das Wettlesen um die Gunst des Publikums war nur wenigen bekannt. Regelmäßige Slams gab es nur in einigen Landeshauptstädten, die Zahl der PoetInnen war überschaubar. Die Szene war zu diesem Zeitpunkt erst einige Jahre jung. Dennoch war schon damals absehbar, dass das Format immer neue Fans gewinnen würde. Und der Verdacht hat sich bewahrheitet. Heute, neun Jahre später, hat sich die Nischenveranstaltung zu einem Großevent entwickelt. Überall in Österreich wird geslammt, die Zahl der Veranstaltungen und PoetInnen ist gewachsen, ebenso wie der Ö-Slam selbst: Diese Meisterschaften der österreichischen BühnendichterInnen gehen mittlerweile über zwei Tage, 28 Poetinnen und Poeten aus Österreich und Südtirol waren bei der 9. Auflage in Innsbruck am 23. und 24.10.15 dabei und kämpften mit Worten um den prestigeträchtigen Titel.
Innsbruck gilt als Wiege des österreichischen Poetry Slams, verfügt die Stadt doch über den ältesten regelmäßigen Slam des Landes. Berühmt ist auch das begeisterungsfähige Publikum der Stadt, das seinem Ruf auch diesmal gerecht wurde: Alle Veranstaltungen des diesjährigen Ö-Slams waren restlos ausverkauft. Am ersten Tag fanden Vorrunden in zwei Locations gleichzeitig statt. 10 Poetinnen und Poeten erkämpften sich hier einen Platz für das Finale am zweiten Tag, wo schließlich knapp 600 ZuschauerInnen eine strahlende Siegerin bejubelten: Lisa Eckhart, angetreten für den Wiener Dialekt-Poetry-Slam „Wos host gsogt?“

Strahlende Siegerin: Lisa Eckhart, angetreten für den Wiener Dialekt-Poetry-Slam „Wos host gsogt?“

Eckhart begeisterte dabei mit Texten, die man im „offiziellen“ Literaturbetrieb vielleicht gar nicht mehr veröffentlichen würde, weil die formalen Eckdaten auf den ersten Blick vielleicht gar zu klassisch daherkommen: Da geht der Paar-Reim mit dem Jambus fröhlich spazieren. Doch dazwischen lauern hinterhältige Volten, Wortwitz und ein typisch österreichischer Hang zum schwarzen Humor, gepaart mit perfektem Gespür für Vortrag und Publikum.
Lisa EckhartDie Perfektion des Vortrags sticht auch im Bezug auf die gesamte (österreichische) Slam-Szene ins Auge. Seit den Anfängen hat sich hier viel getan. Die SlammerInnen haben sich in den letzten Jahren immer mehr professionalisiert und reizen ihre Kunst bis zum Letzten aus. Mittlerweile treten hier nicht mehr in erster Linie „AutorInnen“ gegeneinander an, sondern spezialisierte PerformerInnen. Der Text ist immer noch die Grundlage, doch er wird auch speziell für die Bühne verfasst und findet auch erst dort, im Live-Auftritt, zu seiner endgültigen, flüchtigen Form. Genau dadurch wird jeder Slam-Abend zu etwas Einzigartigem, auch wenn das Grundgerüst seit jeher gleich geblieben ist.
Der Ö-Slam machte klar, zu welchen kreativen Leistungen die österreichische Szene fähig ist. Das Niveau war durchgehend hoch, die Auftritte vielseitig und das Publikum begeistert. Doch die Entwicklung scheint noch lange nicht am Ende zu sein: Die Szene entwickelt sich auch hinter den Kulissen immer weiter. Hinter dem Veranstaltungsformat ist mittlerweile ein Netzwerk vielfältiger literarischer Aktivitäten erwachsen, das die ProtagonistInnen eifrig pflegen und vorantreiben. Der große Wert des Ö-Slams liegt daher auch in seiner Vernetzungsfunktion. Es handelt sich um das jährliche Klassentreffen der Szene, das VeranstalterInnen, Fixsterne und neue Talente zusammenbringt, und hilft, die Aktivitäten der österreichischen „Slamily“ zu koordinieren. Denn die Szene hat sich über die Jahre ein äußerst aktives Netzwerk geschaffen: Die PoetInnen treten nicht nur auf, sondern organisieren auch neue Veranstaltungen und Veranstaltungsformate, und sie pflegen den Nachwuchs durch Workshops.
Gerade im Schulbereich haben sich Poetry-Slam-Workshops einen fixen Platz im Curriculum erspielt. Viele LehrerInnen nutzen die Möglichkeit, eine lebendige Form von Literatur zu präsentieren. Der Poetry-Slam eignet sich hier gerade wegen seiner Ausrichtung auf das Publikum: Die Texte öffnen sich den ZuhörerInnen, statt sich im Elitären zu verschanzen. Und sie sprechen eine Einladung an die SchülerInnen aus, selbst literarisch aktiv zu werden, um irgendwann selbst die Bühne zu erklimmen. Für Nachwuchs ist also gesorgt.
Offen bleibt nur noch die Frage nach der Zukunft des Poetry Slams in Österreich. Auch wenn das Fomat noch immer nicht vollständig im Mainstream angekommen ist, verrät ein Blick nach Deutschland, wohin die Reise gehen könnte. Dort ist Poetry Slam mittlerweile in der öffentlichen Aufmerksamkeit fix verankert. Die Entwicklung ist auch für Österreich abzusehen und bringt mit Sicherheit einige Veränderungen für die organisch gewachsene Szene. Die neuen Herausforderungen und ein neues Verhältnis zur Öffentlichkeit müssen von der „Slamily“ wohl gemeistert werden, um sich auch auf einer größeren Bühne zu beweisen. Dabei bleibt nur zu hoffen, dass auch in der Zukunft das Wichtigste nicht aus dem Blick gerät: Die Texte, die Performances, der Spaß an der Sprache. Denn mit Blick auf die Performances der StarterInnen beim diesjährigen Ö-Slam muss man sagen: Diese PoetInnen haben sich Aufmerksamkeit verdient.

  http://oeslam.backlab.at/

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Christine Riccabona: Zum Roman "Die Sprache der Vögel" von Norbert Scheuer anlässlich seiner Lesung im Literaturhaus am 15. 10. 2015

Norbert Scheuer: Die Sprache der VögelNachdem ich Norbert Scheuers Roman gelesen hatte, hörte ich auf einmal Vogelstimmen anders, aufmerksamer vielleicht – und auch ohne ornithologische Leidenschaft ging mir der Titel des Romans im Kopf herum, oder Sätze, die Paul Arimond, Hauptfigur des Romans, ins Tagebuch notiert: „Es gibt eine Sprache der Vögel, sie verständigen sich, ohne dass wir es begreifen“ (S. 161).

Paul Arimond hat 137 Vogelarten beobachtet, über 20 dieser Vögel begegnet man buchstäblich in seinen detailgenauen Beschreibungen des Tagebuchs und in den filigran und schwebend wirkenden Aquarellbildern. In der Romanhandlung malt sie Paul Arimond, tatsächlich stammen sie von Norbert Scheuers Künstler-Sohn, der sie eigens zum Text gemalt hat ­– mit Espresso. Die kaffeebraunen Vogelaquarelle, auf dem Buchdeckel und auf den Innenseiten des Buches, wie hineingestreut, sowie die dazu abgestimmte ockergraue Schriftfarbe geben dem Buch ein bibliophiles Element, das jene besondere Sorgfalt vermittelt, die auch in der Art und Weise, wie der Roman seine Geschichte erzählt, zu finden ist – nicht zuletzt auch in seiner Sprache und im aufmerksamen Blick auf eine Facette wahrgenommenen Lebens.

Mit diesem Roman zählt Norbert Scheuer einmal mehr zu den wichtigen deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Sein Werk ist bisher mit zahlreichen Stipendien und renommierten Preisen ausgezeichnet: mit dem 3sat Preis bei den Ingeborg Bachmann-Literaturtagen in Klagenfurt 2006, oder im gleichen Jahr auch mit dem rheinländische Glaser-Preis. Und Norbert Scheuer hielt – obwohl er, wie er mir erzählt hat, wenig von abstrakten Diskursen hält – 2011 die Poetikvorlesungen der Universität Duisburg-Essen. Eigentlich aber ist Norbert Scheuer ausgebildeter Elektriker, hat ein naturwissenschaftliches Studium der Physik absolviert und ist promovierter Philosoph, der sich eingehend mit der Philosophie Kants auseinandergesetzt hat. Er arbeitet als Systeminformatiker, einem eher literaturfernen Beruf, der aber, wie er findet, ein ideales Gegengewicht zum literarischen Schreiben sei.

Er lebt mit seiner Familie auf dem Land, in Nordrhein Westfalen, in dem sehr kleinen Ort Kall-Keldenich, einem Dorf in der Eifel – umgeben von Landschaft, Natur und regionaler Kleinräumigkeit. Von dort bezieht der Autor seine Bilder – aus der Begegnung mit dem Land, aus dem Kontakt mit diesem Lebensraum und seinen Menschen:

 „Ich bin jemand, der sehr viel beschreibt. Und Beschreiben kann man nur, wenn man Bilder hat. Diese Bilder muss man irgendwann gewonnen haben. Da ich meistens in der Eifel bin, sind meine Bilder in ihrer Grundsubstanz solche, die aus dieser Landschaft heraus gewonnen sind.“

Norbert Scheuer ist ein Naturbeobachter, er sammelt Sterne, Steine, Naturbilder und eben auch Vogelstimmen und er verwandelt  sie in all seinen Büchern in Sprache – besonders  gilt das für seine Gedichtbände  Ein Echo von allem. Gedichte (1997), Bis ich dies alles liebte. Gedichte (2011), aber auch in den Romanen  Der Steinesammler. (1999)  Flußabwärts. (2002) Überm Rauschen (2009) und zuletzt auch  in Peehs Liebe. (2012). Seine Bücher sind von der Literaturkritik anerkennend und positiv aufgenommen worden. Die Sprache der Vögel war im Frühjahr zudem zum Leipziger Buchpreis nominiert. Und dieser Roman ist nun wirklich ein besonderer Text.

Es dreht sich darin fast alles um die Vogelwelt – wovon er aber wirklich handelt, ist die Sinnlosigkeit des Krieges – und er handelt vom lautlosen Zerbrechen einer Existenz – Paul Arimonds Existenz.  Es ist ein leises, gleichzeitig starkes Buch, das direkt in den Afghanistankrieg führt, bei dem im Zeitraum 2001 bis 2011 160000 Soldaten allein der deutschen Bundeswehr im Einsatz waren – und in dem Unzählige ihr Leben ließen.

Formal vermittelt sich das Erzählte als ein fein gewobenes Geflecht mehrerer Erzählfäden, das Ernst A. Grandits im 3sat Gespräch der Leipziger Buchmesse einen „afghanischen Teppich“ genannt hat.

Die Handlung des Romans umrahmt die im Tagebuch geschilderte Erfahrung: Helena, die sich immer wieder in der Klinik zur Behandlung aufhält, lernt dort Julian kennen, der dort jemanden besucht. Eines Tages sprechen sie sich an und Julian, ein soeben aus Afghanistan zurückgekehrter Soldat, vertraut ihr die Manuskripte seines Lagerkameraden Paul an.  Sie sichtet die Blätter, ordnet sie nach Datum, heftet sie ab, liest sie. Bei diesen Manuskripten handelt es sich um Paul Arimonds Tagebuch, das er 2003 im afghanischen Militärlager geführt hat.

Aus dem Tagebuch schält sich allmählich der Grund heraus, weshalb der 24 Jahre alte Paul Arimond sich freiwillig als Sanitäter zum Einsatz nach Afghanistan meldete. Nicht zuletzt war es auch die Flucht vor der eigenen Lebensrealität: Paul verschuldet einen Autounfall, bei dem sein bester Freund Jan als Schwerstbehinderter überlebt. Teresa, seine Geliebte, entfernt sich von ihm. Sein Leben droht auseinanderzufallen. Neues zu beginnen, scheint keinen Sinn zu geben. Paul geht.

Im Tagebuch protokolliert er den Militäralltag,  das Leben im Lager, „das wie das Leben in einem großen Käfig ist“ (S. 110), er berichtet über Menschen, Freundschaften, hält Gedanken an Zuhause fest. Er beschreibt sachlich, nüchtern, unsentimental, was er wahrnimmt: die Langeweile im Militärcamp, aber auch die Härte der militärischen Operationen und seine Einsätze als Sanitäter, andeutungsweise die psychischen Traumatisierungen der Soldaten. Paul ist einer, der schreiben kann, seine Sprache hat Genauigkeit und Ernsthaftigkeit, sie hat den leisen Ton eines zarten Menschen. 

Ins Tagebuch eingefügt sind auch aus der Erinnerung aufgezeichnete Berichte von Pauls Vorfahren, Ambrosius Arimond. Dieser war Vogelkundler, Reiseschriftsteller, Abenteurer, Sonderling, der zur Zeit der Romantik im 18. Jahrhundert als Ornithologe bis nach Afghanistan reiste, der die Vogelvielfalt studierte und aufzeichnete, ein Fluggerät konstruierte und die Sprache der Vögel zu entschlüsseln versuchte. Paul ahmt Ambrosius nach, indem er täglich und zu jeder Zeit über die Vögel schreibt, die er sieht, hört, deren Flug er nachempfindet. Schon bei seiner Ankunft ist es das erste, worauf sich seine Aufmerksamkeit richtet. Er hebt eine Vogelfeder auf, legt sie ins Buch: als Symbol, als Metapher, als ein Leitmotiv für alles Kommende, von dem wir Lesende wissen, dass es für ihn enden wird.

Paul überblendet das Kriegs-Afghanistan mit den Bildern von Ambrosius, mit Bildern eines verwunschenen Arkadien, eines irdischen Paradieses, das er in allen Farben schildert. Wie Ambrosius nimmt auch er durch sein genaues hingebungsvolles Beobachten der Natur eine transzendente metaphysische Gegenwelt wahr.  Pauls Obsession ist natürlich eine Art Zuflucht, Verdrängung, Ablenkung: Er denkt auch diesen Satz: „Vielleicht kommt es im Leben nur darauf an, irgendetwas zu finden, bei dem alles andere in Vergessenheit gerät.“

Aber es gibt dafür noch einen anderen, tieferen Grund: Diese verrückte Obsession ist die einzige Form der Verweigerung, des Widerstands,  den Paul dem Wahnsinn des Militärs, des Krieges wie auch seinen persönlichen Verstrickungen entgegenzusetzen vermag:  „Man wäre nicht normal, wenn man hier nicht irgendwann verrückt würde“ (S. 208) 

Das von  Ambrosius geschilderte Arkadien der Vergangenheit verschmilzt in Pauls innerer Optik mit einem realen Sehnsuchtsort, der außerhalb der Lagergrenzen im Sperrgebiet liegt. Es ist ein türkisgrüner See, den er vom Turm aus sehen kann und der ein Sinnbild der Freiheit und der gelösten beruhigten Existenz wird. „Weit entfernt bewegen sich Vogelschwärme über den See wie leicht im Wind schwebende Tücher. Viele dieser Vögel sind wahrscheinlich ebenso wie wir Fremde in diesem Land, sind tausende Kilometer weit geflogen, um hier zu rasten“ (S. 25) Zum See hinzugelangen, das heißt auch: aus dem Lager auszubrechen, wird Pauls Überlebensziel.

Pauls Tagebuch kontrastiert nicht nur die karge, kalte Realität des Lagers in einem kriegsverwüsteten Land,  – es protokolliert auch seine allmähliche Wesensveränderung und Erschöpfung. Er wird sich selbst mehr und mehr zum Rätsel (S. 188), fühlt seine Existenz eigentlich nur mehr, wenn er die Natur, die Vögel beobachten und beschreiben kann, – er hört Vogelstimmen schließlich selbst im Traum, versucht ihre Melodien zu entschlüsseln, er hört sie, „als würden Stimmen und Gesänge einander antworten.“ ( S. 188)

Es scheint, als käme sich Paul mehr und mehr selbst abhanden, der einzige Halt bleibt das Beschreiben der Natur: „Ich möchte oft mitten am Tag während des Einsatzes schlafen und diese Melodien hören, die alles zu verwandeln scheinen.“ (S. 138). Dabei fließen die reale und die imaginierte Welt am Ende ineinander, so auch die Grenzen der Phantasie und der Realität. Paul denkt an Rückkehr, der Tod des verletzten Freundes Jan bewirkt, dass er sie antritt. Das Tagebuch endet. Ob er ankommt, bleibt offen; der Vorstellung der Leser überlassen, denn der Bus, der die Bundeswehrsoldaten zum Flughafen nach Kabul bringen soll, fällt einem Anschlag zum Opfer, von den 24 Insassen kommen vier ums Leben, vielleicht war Paul nicht unter ihnen.    

Paul beobachtete die Natur mit einem Feldstecher, aber er beobachtet dabei nicht die Wirklichkeit der militärischen Bewegungen, sondern das ‚Reale‘ der Natur: „Ich schaue meist nicht auf das, was ich im Blick haben sollte, doch wenn ich hinsehe, nehme ich ohnehin etwas anderes wahr, braunen Staub, der leise oder graziös schwebt, wie Vögel, deren Anblick alles zu ändern scheint.“ (S. 50) Dieses ‚Fernglas‘ (ein Zeisglas 7mal50) als Wahrnehmungs-Medium ist quasi das poetologische Herz des Romans, denn: „Beim Einstellen des Okulars gibt es eine winzige Spanne zwischen absoluter Schärfeneinstellung und dem Verwischen der Konturen – ein Moment, vergleichbar dem zwischen Wirklichkeit und Traum, Erinnern und Vergessen.“(S. 96) Dieser ‚Moment‘ ist der Raum für den Rest eines ‚Selbst‘, Freiraum für (poetische) Phantasie, jener von Paul, wie eines jeden. In einem Interview spricht Norbert Scheuer davon, dass für ihn die Sprache der Vögel eine Metapher für das Nichtbegreifen oder Nichtverstehen sei (Interview, die Welt, 10.3.2015). Im Moment des Nichtverstehens, im Raum zwischen ‚Schärfeneinstellung‘ und Verwischen der Konturen entstehen die eigenen Bilder, kann sich das eigene Verstehen entfalten.

Norbert Scheuer hat sich intensiv mit Stoff und Thema des Romans auseinandergesetzt, eine umfangreiche Literaturliste im Anhang gibt über seine Lektüren Auskunft. Im Nachwort erzählt Norbert Scheuer die Entstehungsgeschichte des Romans und außerdem den Anlass zum Buch: die Begegnung und die Gespräche mit einem heimgekehrten Afghanistansoldaten. „Vielleicht ist eine Geschichte das Einzige, was wirklich von uns bleibt“ (S. 231), schreibt Norbert Scheuer und mit der Geschichte von Paul Arimond hat der Soldat diese bekommen.

  Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel. München: C.H. Beck 2015 

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Bernhard Sandbichler: Brennende Geheimnisse

Was jüngste biografische Arbeiten von den literarischen Genies Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig enthüllen

Grundsätzlich sollte man eher tot sein, damit sie einen zum Leben erwecken können, die Totenreden und Nachrufe, die Biogramme und Porträts, die Viten und vor allem: die Biografien (in vorliegenden Fall auch biografischen Detailstudien). Ja, und Prominenz sollte ebenfalls gegeben sein, sonst liest niemand mit Interesse, wer man war und wie, und warum man so war, wie man war. Was heißt überhaupt “liest”? Geschriebenes mag das ureigene Medium der Erinnerung sein, Bild, Ton, Film und Internet punkten diesbezüglich aber ebenso. Das alles gilt auch für literarisch Prominente, und damit sei nicht Faust oder sonst irgendein Held der Literatur gemeint, sondern deren Schöpfer, die Dichter selber. Von ihnen gibt es (häufig) Bilder, Dichterbilder, die “unmittelbarer als Sprache ein Bild des Dichters aus einem speziellen Blickwinkel vermitteln, das einen spannenden Zugang zum jeweiligen Werk ermöglichen” - so pries der Reclam seinen gleichnamigen Prachtband an.(1)
Naturgemäß finden sich darin Porträts von Thomas Bernhard (Zeitung lesend im Bräunerhof, Foto von Sepp Dreissinger, 1988), Arthur Schnitzler (sitzend, Radierung von Max Oppenheimer, 1912) – und Stefan Zweig? Möchte man meinen, aber der fehlt. Geraufe, um auf die unteren Stufen der Kanonisierung zu gelangen, gibt es ja nicht nur zu Lebzeiten (Stichwort “Vorlass”), sondern vornehmlich zu Nachlebenszeiten. Und apropos “Vorlass”: “Handschriften”, so liest man auf dem Buchrücken eines Albums mit Handschriftenfaksimiles desselben Verlags, “können ein lebendiges, persönliches Verhältnis zwischen Leser und Dichter schaffen. Sie geben Einblick in Schaffensprozesse, in ihnen wird Vergangenes gegenwärtig, Fernes nah, Totes lebendig”.(2) Darin finden sich nun alle drei, Zweig in Sonderheit, der eine der größten und bedeutendsten privaten Autografensammlungen aufbaute, die auf ihrem Höhepunkt etwa 4000 Stücke umfasste. Sie waren für ihn ein “magisches Medium” und unentbehrliches Werkzeug für seine literarische Arbeit, “weil aus [d]en Schriftzügen eine Szene sich plötzlich plastischer aufbaut, als es Biograph und Dichter vermöchten”.(3)

Wie dem auch sei: Dichter sind jedenfalls auch gebeten worden, (Auto)Biografisches niederzuschreiben, weigerten sich aber unter Umständen - so Franz Grillparzer, der befunden haben soll: “Mein Leben ist unwichtig, die Mittel und Wege zu meinen literarischen Werken sind Nebensache. Die Werke sind da, und das ist genügend. Das Werk muss selbst für sich sprechen.” Kein Wunder, dass man vollkommen überrascht war, als in seinem Nachlass das 160 Seiten umfassende Manuskript der Selbstbiographie auftauchte.(4) Als Hilde Spiel 1971 hinwiederum Thomas Bernhard um einen Beitrag zu Ludwig Wittgenstein für die Wiener Zeitschrift VER SACRUM bat, beteuerte dieser postwendend: “Es ist, als würde ich über mich selbst etwas (Sätze!) schreiben müssen, u. das geht nicht. Es ist ein Zustand von Kultur u. Gehirn-Geschichte, der sich nicht beschreiben läßt.”(5)

Beschrieben zumindest hat ein anderer, Friedrich Dürrenmatt, diese “Gehirn-Geschichten”, und zwar folgendermaßen: “Es ist immer wieder von irgend jemandem versucht worden, sein eigenes Leben zu beschreiben. Ich halte das Unterfangen für unmöglich, wenn auch für verständlich. Je älter man wird, desto stärker wird der Wunsch, Bilanz zu ziehen. Der Tod rückt näher, das Leben verflüchtigt sich. Indem es sich verflüchtigt, will man es gestalten; indem man es gestaltet, verfälscht man es: So kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen, manchmal große Dichtungen - die Weltliteratur beweist es -, leider oft für bare statt für kostbare Münze genommen.”(6) Bernhard muss ähnlich gedacht haben: Er nahm Abstand vom Non-Fiktionalen, um im Fiktionalen umso produktiver zu sein. In Gehen (1971) nämlich wird “bei gleichzeitiger angestrengtester Unterhaltung über Wittgenstein” gegangen und in den Jahren von 1975 bis 1982 entstand seine fünf Bände umfassende Autobiografie. “Ich weiß nicht, ob’s mit Literatur etwas zu tun hat. Das ist nur eine Aufarbeitung, würd’ ich sagen, meiner Erinnerung, und die ergibt sich dann ziemlich von selbst … Ich muss das selbst machen, bevor das andere machen … Das ist alles falsch bis jetzt … Und dann setzt man sich selber hin und versucht, das mehr oder weniger ins Authentische zu bringen. Das gelingt natürlich auch nur annähernd, wie alles, das meiste vergisst man dann wieder … Meine Literatur, die ich geschrieben hab’, hängt ja mehr oder weniger in der Luft, wenn man nicht eindeutig irgendwann einmal sagt, woher kommt das alles, nicht? Also, ich muss dem einen Halt geben. Und jetzt nach 20 Jahren hab’ ich das Gefühl gehabt, wie ich das mach”, erzählte der Autor 1978 der ORF-Journalistin Brigitte Hofer in einem Interview. Seinem Lektor Jochen Jung gegenüber äußerte er 1979 in Ohlsdorf: “Jetzt würde ich meine Geschichte gern einmal so aufschreiben, wie sie wirklich war.”

War sie wirklich so? Bringt Bernhards Autobiografie sein Leben “ins Authentische”?
“Bernhard schreibt, seine Großmutter sei als Siebzehnjährige ‘mit einem wohlhabenden vierzigjährigen Salzburger Schneidermeister verheiratet worden’. In Wirklichkeit war sie achtzehn und er dreißig. Auch hier scheint Bernhard den sozialen Status zu hoch angesetzt zu haben; Der Großvater Karl Bernhard war als Zuschneider für ein Kleidergeschäft beschäftigt.” Es sind nicht zuletzt Fußnoten wie diese, die Manfred Mittermayers neue und quasi alles umfassende Bernhard-Biografie(7) auszeichnen: Die bare Münze des Biografen lässt die kostbare Münze des “Falschmünzers” Bernhard nie weniger glänzen, im Gegenteil. Das eben zitierte ORF-Interview fehlt hier zwar(8) - geschenkt -, und auch das Lektoren-Statement taucht nicht wieder auf. Mittermayer hat es gleichwohl an anderem Ort bereits zutage gefördert.(9) Unter dem Eintrag “Ohlsdorf, 1981” findet sich ebenda Folgendes: “Auf meine Frage, ob denn nicht im nächsten Buch endlich die Frauen wichtig würden: ‘Ich mußte mich entscheiden: Wollte ich ein rundes Bauernmadl oder die Literatur? Im Jahr nach Grafenhof hab ich versucht, alles Versäumte nachzuholen; dann hab ich mich entschieden.’” Auch der Vorspann zum Vorabdruck aus Mittermayers Bernhard-Biografie stellt, unter anderem,  die Frauen-Frage: “Wer war diese voralpine, österreichische, halb großstädtische, halb landedelmännische Existenz? Und wie war das mit Thomas Bernhard und den Frauen?”(10)
Zu lesen ist: “Die Tatsache, dass der Autor nie verheiratet war und auch nie dauerhaft mit jemandem zusammengelebt hat, war schon immer Anlass für alle möglichen Spekulationen.”

Mittermayer gibt sich diesen Spekulationen freilich nicht hin; die Sache ist klar: Bernhard hegte in dieser Beziehung kein Geheimnis, schon gar kein brennendes. Aber man bemerkt: Es gibt irgendwo doch Interesse an solchen brennenden Geheimnissen. Explizit wirft der langjährige Feuilleton-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und später der Welt Ulrich Weinzierl jenes titelgebende brennende Geheimnis Stefan Zweigs auf die eine Waagschale des Dichterlebens, und gewichtet auf der anderen Seite Be- oder Entlastung.(11) Es ging und geht jedenfalls um Sex. “Der Selbstmord Stefan Zweigs in Brasilien ist rätselhaft”, schreibt Thomas Mann am 25. Feber 1942 an seine Gönnerin Agnes E. Meyer. “Er war sorgenfrei und erfolgreich, für politischen Gram war er zu charakterlos, und sein nachgelassenes Papier erklärt gar nichts. Ich vermute, dass das liebe Geschlecht im Spiele war und dass irgend ein Skandal drohte. Er war gefährdet in dieser Beziehung.” (UW 167) Die Frauenfrage jedenfalls spielt keine Rolle: Zweigs in diesem Buch vornehmlich in sexueller Beziehung ausführlich analysierter Umgang mit Frauen war zu seiner Zeit nicht skandalös; schon eher der Umstand, dass “immer wieder insgeheim oder öffentlich gemunkelt [wird und wurde], er sei im Grunde homosexuell gewesen: ein Mann, der seine wahren Neigungen verhehlte, unterdrückte” (UW 84). Anlass zu diesem Gemunkel gab Zweigs Novelle Verwirrung der Gefühle (1926), sein “am meisten sprachlich sexualisierter Text” (UW 88) und ein Klassiker für schwule Leser. “Es ist dies vielleicht das erstemal, daß sich jemand sachlich und künstlerisch zu dem Thema stellt, ohne selbst von der Gilde zu sein”, entgegnete Zweig seinem Verleger Anton Kippenberg, der ihm nahelegte, “einiges doch noch zu kürzen und zu mildern, mehr anzudeuten als im einzelnen zu schildern” (UW 87) - und tat dies nicht. Des Rätsels Lösung war diese Aufgeschlossenheit also nicht; “Genaueres und Stichhaltiges konnten mir auch die bedeutendsten Kenner [von Zweigs] Vita und seines Œuvres nicht mitteilen”, schreibt Weinzierl im Dank seiner akribischen Studie. “So musste ich mich auf eigene Verantwortung an die Lösung des Rätsels machen.” (UW 279)

In einem Brief an den Berliner Arzt Paul Orlowski enthüllte Thomas Mann 1954, was Stefan Zweig tatsächlich zu schaffen machte: “Der weltberühmteste deutsche Schriftsteller der jüngst vergangenen Zeit, Stefan Zweig, soll Exhibitionist gewesen sein.” (UW 169) Benno Geiger, einer der vertrautesten Freunde Zweigs, bezeugt in seinen Erinnerungen 1958: “Auch Zweig hatte seine kleine Perversion [...] Er selbst hat mir dies erzählt. Er litt an der Sucht des Exhibitionismus, das heißt an dem unwiderstehlichen Drang, sich in Anwesenheit eines einsamen jungen Mädchens zu entblößen. Diese Lappalie bezeichnete er mit dem von ihm erfundenen Begriff: ‘Schauprangertum’.” (UW 171f.) Wo Zweig-Biografen, etwa Donald Prater, an der Verlässlichkeit von Geigers Erinnerungen zweifelten, fördert Weinzierl den stichhaltigen Beweis, “immer übersehen bzw. überlesen [, obwohl] seit 1984 gedruckt [vorliegend]”, zutage: “Es handelt sich gleich um die erste erhaltene Eintragung seines Tagebuchs, vom 10. September 1912: ‘Dann spazieren, Liechtenstein, schaup. Das Object zu jung noch ohne tieferes Interesse, mehr frappiert als schon an richtiger psychologischer Stelle erfaßt. Dies eigentlich weniger aufreizend, aber mehr gefährlich und wäre zu meiden.’” (UW 173)

Was nicht gelang, denn Zweigs Entblößungszwang war pathologisch und im Übrigen strafrechtlich riskanter als die Pädophilie eines Altenberg oder Loos, die als Kavaliersdelikt galt. In Arthur Schnitzler, dem Arztdichter, dem “wie wir aus seinen Tagebüchern(12) wissen, wahrlich nichts Menschliches - und schon gar nicht aus dem Bezirk des Erotischen - fremd gewesen [ist]” (UW 188), hätte Zweig möglicherweise einen nicht in erster Linie degoutierten Gesprächspartner (wie Thomas Mann) gefunden, allein, als man am Abend des 17. Septembers 1912 miteinander dinierte: “Seltsam, wie hilflos ich Ss gegenüber immer bin. Conversation, bei der das geistige, das Intellectuell-Principielle einerseits, andererseit[s] das Sexuelle wegfällt, die also irgendwie gesellschaftlich bleibt, zu führen, bin ich total unfähig.” (UW 188f.) Der Grund: die Anwesenheit Olga Schnitzlers, geborene Gussmann. Man hatte 1903 geheiratet, um den unehelichen Sohn Heini (geboren 1902) zu legitimieren. Die Ehe verlief zunächst harmonisch, 1909 kam die Tochter Lili auf die Welt, die Idylle schien perfekt. Schnitzlers eigene “psych. Krankheit” (TB, 27. August 1897)? Wohl kaum war diese für die beiden anwesenden Dîner-Partner ein brennendes Geheimnis: “Meine impertinente Sinnlichkeit. Wenn ich eine Reihe von Tagen keusch war, 6-9 sind so das Maximum, so bin ich einfach ein Thier.” (TB, 10. August 1890) Dass Arthur Olga (Waissnix) mit Mizi (die er mit Fifi betrog) betrog etc. pp? Zur Zeit des Dîners hatte sich Schnitzler längst eines Bessern besonnen. Davon erfährt man bei Johannes Sachslehner, Programmleiter und Lektor bei Styriabooks, nichts. Sein biografischer Katalog(13) listet 29 so genannte süße Wiener Mädel auf und informiert über Schnitzlers Sexualleben im Zeitraum 1881 bis um die Jahrhundertwende. “Wer sind diese Frauen wirklich?”, fragt der Klappentext; doch ich wüsste nicht wirklich zu sagen, wem damit gedient ist, dass der durchaus emsige Frauenforscher Sachslehner Schnitzlers manisch-erotisches Naschvergnügen dem Vergessen entreißt: nicht Schnitzler, nicht den Mädeln, nicht den LeserInnen des 21. Jahrhunderts. Wo Weinzierl durch immer wieder auch ironische, aber nie abqualifizierende Recherche seinen Gegenstand zum Lesevergnügen erster Güte macht und den Schriftsteller Stefan Zweig zu Recht würdigt, wo Mittermayers Autor-Werk-Biografie informativ und im besten Fall eine Anregung zur Bernhard-Lektüre ist, entdeckt der Wissensdurstige hinter Sachslehners buchhalterischem Schleier bloß eins: Geheimnislosigkeit. 

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(1) Frank Möbus u.a. (Hg.): Dichterbilder. Von Walther von der Vogelweide bis Elfriede Jelinek. Stuttgart 2003
(2) Jochen Meyer: Dichterhandschriften. Von Martin Luther bis Sarah Kirsch. Stuttgart: Reclam 1999
(3) Stefan Zweig: Sinn und Schönheit des Autographen (1935)
(4) Arno Dusini im Nachwort seiner Ausgabe in der Reihe Eine österreichische Bibliothek, Salzburg/Wien: Residenz Verlag 1994
(5) Faksimile, Transkription und Erläuterungen in Meyer, Dichterhandschriften, 222f.
(6) Friedrich Dürrenmatt: Labyrinth. Stoffe. Zusammenhänge. Zürich: Diogenes 1996, 13 (= Gesammelte Werke Bd. 6) 
(7) Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biografie. Wien/Salzburg: Residenz Verlag 2015, 45, Anm. 9 
(8) Es findet sich in Joachim Hoell: Thomas Bernhard. München 2000 (= dtv portrait), 111
(9) Jochen Jung: Kleiner Bernhard-Kalender, in: Manfred Mittermayer, Sabine Veits-Falk: Thomas Bernhard und Salzburg. 22 Annäherungen. Salzburg: Jung und Jung 2001, 267-269
(10) Faszination Bernhard, Der Standard, Album, 26.09.2015 (vgl. Mittermayer, Thomas Bernhard, 242-258 in Auszügen)
(11) Ulrich Weinzierl: Stefan Zweigs brennendes Geheimnis. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2015 (UW)
(12) Herausgegeben von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach. 10 Bde. Wien: VÖAW 1981-2000 (TB)
(13) Johannes Sachslehner: Alle, alle will ich. Arthur Schnitzler und seine süßen Wiener Mädel. Wien/Graz/Klagenfurt: Styria Premium 2015

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Sandra Senfter: "Kein überflüssiges Wort - kein überflüssiger Strich". Anmerkungen zu den Gedichten von Hans Salcher

Hans Salcher: Steinwurf. Skarabaeus 2009 "Kein überflüssiges Wort - kein überflüssiger Strich" – so beschreibt Hans Salcher selbst sein Schreiben und Malen auf seiner Homepage und er beschreibt es damit treffender als jede Rezension. Kein Wort mehr bräuchte gesagt werden. Doch Salchers auf das Wesentliche reduzierten Gedichte, Prosaminiaturen und Bilder erwecken beim Lesen und Anschauen viele, viele Assoziationen, Gefühle und Gedanken, und auch hier – keine einzigen davon überflüssig. Und deshalb sollten doch ein paar Worte gesagt werden zu Hans Salchers 2014 neu aufgelegter Gedichtsammlung "Steinwurf" aus dem Jahr 2009, zu seinen Gedichten überhaupt, zu seinen Bildern, zum Werk des Osttiroler Künstlers, der im September 2016 seinen 60. Geburtstag feiert.

Schwarzes Schaf

Tag ist es geworden. Die Sonne besteigt den Himmel, man spürt noch die Nacht. Auf der Wiese grasen weiße Schafe. Ein schwarzes ist dabei. An weißen Freunden mangelt es ihm nicht. Sie grasen friedlich zusammen. Das schwarze bringt ein buntes Bild in die Herde. Wir Menschen können uns dieses Bild ins Herz stellen.
(Weißgekalkt. Prosa. 2003, S. 38)

Ins Herz, dahin kann man sich Hans Salchers einfache Pinselstriche und seine feinsinnigen und eindringlichen Texte allemal stellen. Und dort sind sie gut aufgehoben. Denn - so meint Anna Rottensteiner 2003 in ihrer Rezension zum Gedichtband "Himmelschauen" - Hans Salchers Bücher leiten diejenigen, die "sich in sie vertiefen und ihre Wirkung in Worte zu fassen versuchen, in andere Bezirke der sprachlichen und gedanklichen Wahrnehmung: in die Luft und Luftigkeit der Gedanken, in eine – fast meditativ anmutende – Stille und Zuneigung zu den Texten." Und wenn ich zurückdenke an die ersten Bilder und Texte, die ich von Hans Salcher gesehen und gelesen habe, so kommt mir immer irgendwie das Bild des schwarzen Schafs - inmitten einer Herde von weißen - wie im Gedicht oben in den Sinn. Mit kräftigen einfachen Pinselstrichen aufs Papier gemalt, aufgestellt und verteilt in der Wiese rund um das Mauthäusl am Hochstein, wo Hans Salcher in den 90er Jahren als Mautner arbeitete. Am Schlagbaum stets ein Spruch, markant und treffend. Als schwarzes Schaf hat sich auch Hans Salcher zuweilen gefühlt, die Gefühle von Außenseitern beschreibt er immer wieder einprägsam und einfühlsam in seinen Gedichten. Und ein "buntes Bild" hat er mit seinen Texten und Bildern unverkennbar in die Osttiroler (Künstler-)Welt gebracht und bringt es heute noch.

Sein schriftstellerischer Werdegang wurde von seinem Freund, dem wohl bekanntesten Autor aus Osttirol, Christoph Zanon begleitet. Er verhalf ihm auch zu seiner ersten Buchpublikation 1994 in der Grazer Edition Bohemia. Von da an erschienen jährlich bis 2000 neue Gedichtbände von Hans Salcher, später auch längere Prosatexte und zwei Theaterstücke. Heute lädt Hans Salcher täglich herzlich in sein Atelier in der Mühlgasse in Lienz ein. "Kemmt's lei vorbei", steht auf seiner Homepage zu lesen und man darf sich eingeladen fühlen, so wie früher an der Mautstelle oder in einem der Kaffeehäuser in Lienz einen Plausch mit dem Hans zu halten, wo man sich unvermittelt in einem Gespräch über Gott und die Welt und die ganz großen Themen der Menschheit wiederfindet. Heute kennt fast jeder in Österreich Hans Salchers unverkennbare Pinselstriche, auch wenn er seinen Namen vielleicht noch nie gehört hat. Dass der Künstler dank seiner Entdeckung für Servus TV - die Motive für das Corporate Design von ServusTV stammen aus seiner Feder - österreichweite Bekanntheit erlangte, ändert nichts an der Eindringlichkeit seiner Arbeiten, die bestechen, zum Nachdenken anregen, berühren. Seine Ausstellungen zeigen immer noch den sensiblen und empfindsamen Blick für die Welt, die ihn umgibt und die Menschen, die darin leben.

Auch in seiner 2015 neu aufgelegten Gedichtsammlung "Steinwurf" (2009) im kleinen feinen Taschenkalenderformat zum Einstecken und immer Dabeihaben überzeugt und berührt Salcher mit reduzierten Gedanken und Bildern der ihn umgebenden Welt, mit Bildern vom Alltag im Dorf, den Häusern darin, den Wiesen und Blumen, vor allem aber den Bergen. Den Bergen, die in dieser Welt meist aus Stein sind. Und immer wieder fällt er und wird geworfen, der Stein, in diesem Büchlein, in dem es zwar oft so scheint, als ob auch die Gedanken wie Steine einfach hingeworfen wären, wo aber jedes Wort stimmt. So lautet eine Kapitelüberschrift auch treffend: "Bergblumen an den Füßen und Steine im Mund." (S. 23) Kein überflüssiges Wort. Oder wie Christine Riccabona 2009 in ihrer Besprechung des Gedichtbandes schrieb: "Auf 121 Seiten sind einzelne Sätze ausgestreut, hineingeworfen ins beiläufige Sinnieren wie Steinwürfe, zielgenau. Manchmal treffen sie wie flache Kiesel auf einen Denk-Fluss und machen Sprünge – Salcher’sche Gedankensprünge." Und auch wenn es vordergründig um die Beschreibung der nächsten Umgebung, also Osttirol, geht, so lassen sich Salchers Texte nicht in Schubladen oder Kategorien einordnen, zu sehr geht es bei ihm immer auch um allgemein gültige Themen, um Liebe und Zuneigung, Kindheit, Menschlichkeit und Menschsein. Salchers Bücher gehören zu einer besonderen Kategorie von Büchern: "Das, was in ihnen gesagt werden will, ist gesagt. Gut gesagt." So formuliert es Anna Rottensteiner 2003 in ihrer Rezension zum Gedichtband "Himmelschauen". Und wenn Hans Salcher selbst in einem Interview seine Bilder als "Gegensatz zur Überfüllung der Welt" beschreibt, so gilt das für seine Gedichte in einer Welt des Noch-mehr und Noch-schneller umso mehr, denn in seinen Gedichten konzentriert sich Hans Salcher auf das Wesentliche, und das ohne ein überflüssiges Wort.

  Lexikon Literatur in Tirol

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Anton Unterkircher: „Mörderisches Tirol“. Ein Streifzug durch eine neuentdeckte ‚Literatur‘-Landschaft

Eifersucht, Gier, Neid, Rache und Wahnsinn sind einige der Haupttriebfedern für Verbrechen, die es seit Bestehen der Menschheit gibt und die seit jeher beliebter Stoff für (zunächst mündliche) Erzählungen waren. Und das sind weiterhin die Grundzutaten für Krimis. Verbrechen interessieren die Menschen auch deshalb, Südtirol Krimiweil das Potential zu kriminellen Handlungen in jeder Persönlichkeit angelegt ist. Warum boomt aber gerade in unserer Zeit der Krimi so? Warum werden wir von einer Krimiwelle nahezu überrollt? Bekommen wir doch tagtäglich über die Medien die schlimmsten Verbrechen in Echtzeit zugespielt. Es findet sich immer jemand, der die Kamera draufhält, ohne Rücksicht auf die Menschenwürde, und es findest sich immer auch jemand, der sich in jeder noch so grauenvollen Situation vor die Kamera stellt. (Fernseh-)Serien mit mehr oder weniger kauzigen und/oder kaputten Kommissarinnen und Kommissaren häufen sich. Jedes Land, jede sich wichtig nehmende Stadt, so auch Kitzbühel, hat ihr eigene SOKO, das ARD hat 2015 eine Krimiserie „Kripo Bozen“ gestartet (2 weitere Folgen sind für 2016 angekündigt, Dolomiten, 5./6. Jänner 2016), die Tatort-Serie, an der auch Felix Mitterer mitwirkt (eine davon hat in Telfs gespielt), hat die höchsten Einschaltquoten im Hauptabendprogramm. Der Trost und die Motivation für die vielen Konsumenten dieser virtuellen Verbrechen sind wahrscheinlich, dass hier doch zumeist das „Gute“ über das „Böse“ siegt. Wohl auch, dass die sogenannte künstliche Intelligenz, die hochtechnischen Ermittlungsverfahren schlussendlich doch der Intuition und der Kombinationsgabe der Ermittlerinnen und Ermittler den Vortritt lassen müssen. Daher eignen sich mörderische Geschichten, vor allem auch in Buchform, gut zum Einschlafen. Schlafraubend sind sie nur, wenn sie besonders gut geschrieben sind, wenn die Neugier auf die Lösung des Falls zu groß ist. Doch diese Gefahr ist gering: Masse statt Klasse gilt hier wie anderswo!

Ein Blick in die Schaufenster und Regale der Buchhandlungen zeigt, dass der Krimi auch in Buchform Hochsaison hat. Und dass eben auch in Tirol lebende Autorinnen und Autoren in diesem Genre mitmischen ebenso wie die Verlage. Das beste Beispiel dafür ist der Haymon-Verlag, der seine ehemals bemerkenswerte Literaturschiene zugunsten des Krimis zurückgefahren hat. Zu verdenken ist ihm das nicht, denn es geht im Verlagsfach, wie anderswo auch, ums beinharte Überleben. Und wenn sich die Krimis gut verkaufen, was sie offenbar tun, dann kann daneben das nun etwas schmalere, aber immer noch qualitätsvolle Literaturprogramm weitergefahren werden, sozusagen mitgetragen von der Krimi-Welle. Aus dem großen Krimi-Programm des Verlags sticht, abgesehen von einem, von dem noch am Schluss dieses Beitrags die Rede sein wird, Herbert Dutzler mit seinen Altaussee-Krimis hervor. Mit dem liebenswürdigen, etwas unbeholfenen und technikscheuen Inspektor Franz Gasperlmaier hat der gebürtige Oberösterreicher Dutzler zu Recht die Herzen der Krimi-Fans erobert.

Die Bibliotheken verbuchen die Krimis unter Belletristik. Das hat natürlich seinen guten Sinn, und ein guter Krimi ist im besten Fall auch gute Literatur, erschwert aber das Auffinden aller unter dem Stichwort Tirolensien erfassten Krimis. Eine interne Suche in der Datenbank „Lexikon Literatur in Tirol“ führt ein wenig weiter, weil zumindest bei einigen Autorinnen und Autoren das Stichwort Krimi vermerkt ist. Aber reine Krimi-Autorinnen und -autoren werden dort in der Regel nicht erfasst. Auch wenn dies den momentanen Vorgaben entspräche, dass nämlich alle Autorinnen und Autoren, die in Tirol/Südtirol geboren sind und/oder da leben und ein Buch in einem Verlag – nicht im Eigenverlag – publiziert haben, dort aufzunehmen sind. Aber der Begriff „Verlag“ hat heute, wo jeder ein Buch selbst setzen und drucken lassen kann, nicht mehr jene Bedeutung, die er bei der Konzeption der Datenbank in den 1990er Jahren hatte.

Wenn auswärtige Autorinnen und Autoren ihre Krimis in Tirol spielen lassen, dann wäre dies eigentlich ein Fall für die „Literatur-Land-Karte Tirol/Südtirol“. Doch auch dort sucht man die Krimis, die sich nun die Landschaft (vor allem Südtirols) erobern, vergeblich. In alphabetischer Reihenfolge seien hier vorerst einmal einige der Autorinnen und Autoren genannt, die sich auf dem Gebiet des Krimis versucht haben. Nur auf einige wenige kann später näher eingegangen werden: Robert Adami, Bernhard Aichner, Lena Avancini, Joe Fischler, Silvia Flür-Vonstadl (ihr Sammelband „Mörderisches Tirol“ mit Kurzkrimis hat dem Beitrag den Titel gegeben), Wolfgang Gösweiner, Irmgard Hierdeis, Lina Hofstädter, Angela Jursitzka, Christian Kössler, Lenz Koppelstätter, Kurt Lanthaler, Andreas Lexer, Marie Luise Maurer, Peter Oberdorfer, Thomas Schafferer, Daniel Suckert, Silke Schwinger, Ingrid Strobl, Peter Teyml, Dietmar Wachtler, Renate Zuniga. Im 19. Jahrhundert hat schon Josef Praxmarer über lokale Verbrechen geschrieben. Diese Liste ist sicher unvollständig, aber eines ist sicher: Krimis mit einem literarisch-ästhetischen Anspruch sind (auch) in Tirol Mangelware.

Das trifft leider auch auf die Romane des in Innsbruck lebenden Autors Bernhard Aichner zu. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen? gehört er zu den großen Aufsteigern in der internationalen Krimi-Szene. Aichner hat sich Ende der 1990er/Anfang der 2000er als ‚literarischer‘ Autor etabliert. Doch der große Durchbruch scheint ihm jetzt mit seinen Krimis zu gelingen. 2010 startete er mit einer Krimi-Serie um den Totengräber Max Broll. Im dritten Fall („Leichenspiele“, 2012) gerät Broll mitsamt seinem Freund, dem ehemaligen Fußballstar Johann Baroni, in kriminelle Turbulenzen. Auf den Inhalt soll hier nicht weiter eingegangen werden, sondern auf das Wie der Darstellung, auf die Sprache. Broll ist ein Totengräber, der sich gern ausruht, wenn er ein Grab gegraben hat: im Grab natürlich. „Oft bleibt er lange liegen, rührt sich nicht, hört nur hin. Wie still die Erde ist. Normalerweise genießt er es, jetzt aber fühlt er sich unwohl. Er ist kurz davor, etwas Dummes zu tun. Und er weiß es.“ (35f.) Diese geraffte Darstellung ist für Aichner typisch, typisch auch die strapaziöse Verwendung des Wörtleins „wie“. Noch markanter sind seine Dialoge, die er anstatt mit den üblichen Gänsefüßchen mit Gedankenstrichen markiert. Manchmal reden sogar die Gedankenstriche allein:

„ – Sei still und lass uns das jetzt erledigen.

– Max?

– Was? (31)

 

„– Alles wird gut.

– Was?

– Du sollst es sagen.

– Was?

– Alles wird gut

[…]

– Alles wird gut.“ (125)

Dass solch martialische Dialoge Folgen haben, in dem Fall zwei weitere Leichen, versteht sich von selbst. Ebenso, dass Aichner dafür 2014 den Burgdorfer Krimi-Preis erhielt und eben keinen Literaturpreis.

Doch Aichner hat noch ein Scheit nachgelegt. Er ist 2014 mit einer Leichenbestatterin-Trilogie gestartet. Zwei Bände sind schon erschienen: „Totenfrau“ und „Totenhaus“. Das Ganze nennt sich nun nicht mehr Krimi, sondern Thriller und wurde schon als Bestseller vorangekündigt: Die Rechte seien „bereits vor Erscheinen international verkauft“, vermeldet der Umschlag vom ersten Band. „Die Jägerin wird zur Gejagten! Die Fortsetzung des internationalen Bestellers Totenfrau“, heißt es daher folgerichtig auf dem Umschlag des zweiten Bandes. In gut lesbarer Schrift und luftig gehaltenem Layout füllen die Bände jeweils gut 400 Seiten, der elliptische Stil mit Verkürzungen aller Art wird beibehalten (Beispiel: Die beiden Kinder heißen Uma und Nela, der Name Manuela reicht also gleich für zwei), ebenso die Dialoge, die immer weniger überzeugen, irgendwann eher ermüden. Doch da kann man drüberblättern, denn spannend ist die Geschichte ja schon. Im ersten Teil wird die Leichenbestatterin Brünhilde Blum, die schon als (Adoptiv-)Kind mit den Leichen arbeiteten musste, zur siebenfachen Mörderin. Sie bringt ihre Eltern um und dann die Mörder ihres Mannes, denen er als Kriminalbeamter auf der Spur war. Leichen gibt es also mehr als genug, das Motiv Rache ist einleuchtend, die Beseitigung der Leichen, die mühsam zerstückelt und in Särgen von anderen ‚regulären‘ Leichen mitbestattet werden, ist es schon weniger, denn die letzte Leiche wird im Vergleich dazu einfach genial im Krematorium bei lebendigem Leibe verbrannt. Das geht einfach zu leicht, wie überhaupt alles in diesen zwei Büchern sehr leichtfüßig daherkommt. Kommissar Zufall ist dann auch etwas zu viel im zweiten Teil unterwegs. Bei einer Exhumierung werden zu viele Körperteile in einem Sarg gefunden. Der Verdacht richtet sich zu Recht gegen die Bestatterin. Aber diese ist längst auf der Suche nach einer plötzlich aufgetauchten Zwillingsschwester, kommt in ein aufgelassenes Hotel im Schwarzwald, in ein „Horrorkabinett“, in dem ein anderer Mörder am Werke ist. Der Mord an den Stiefeltern wird im zweiten Band zu einem „tragischen Unfall“ umgedeutet, es wird nur mehr von einer fünffachen Mörderin geredet. Das Warum ist wenig überzeugend, doch spannend bleibt, ob es noch ein Steigerungspotential für den dritten Teil gibt? Ob Alles jemals noch gut werden wird? Diese Formulierung wird in beiden Bänden (wieder) inflationär verwendet. Aichner sei der Erfolg herzlich gegönnt, nur, mit guter Literatur haben diese Bücher wenig zu tun.

Dass Aichners dreiteiliger Thriller eine „Kampfansage an unsere skandinavischen Krimis“ ist, wird werbewirksam auf dem Umschlag des ersten Bandes platziert. Das mag vielleicht noch für Stieg Larsson gelten, an den diese Trilogie ein wenig erinnert, nicht aber für den großartigen Henning Mankell. Dem 2015 Verstorbenen seien hier ein paar Zeilen gewidmet, weil er den ‚modernen‘ Krimi nachhaltig geprägt und viele Nachahmer in der ganzen Welt gefunden hat. Mankell hat mit Kurt Wallander einen Kommissar geschaffen, der kein klassischer Ermittlerheld ist, der manchmal sogar weniger wie der Leser weiß, der berufliche und private Probleme hat: Er ist geschieden, hat eine Tochter, ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater, schläft kaum, hat schlechte Ernährungsgewohnheiten, ein nicht gerade gelungenes Liebesleben, ist folglich depressiv und zu dick. Die zunehmende Schwere der Verbrechen und vor allem die weltumspannenden Aktivitäten der Verbrechersyndikate, die auch vor Schweden nicht (mehr) Halt machen, machen Wallander besonders zu schaffen. Was die Wallander-Romane aber zusätzlich auszeichnet, ist die Einbeziehung und Beschreibung der schwedischen Landschaft, in der der Ermittler agiert. Die Landschaft gewinnt, und da ist Mankell sicher ein Vorbild, in den gegenwärtigen Krimis immer größere Bedeutung. Es gibt viele eigenwillige und kaputte Kommissarinnen und Kommissare in der Nachfolge von Mankells Wallander, aber überzeugend sind die meisten nicht. Natürlich manövriert sich auch Wallander in brenzlige Situationen: ohne Handy, ohne Dienstwaffe. Und lange sitzt er vor den Ermittlungsunterlagen mit der Gewissheit, etwas übersehen zu haben. Und die Leser werden mit ihm müde und depressiv und können trotzdem nicht aufhören, bis der Fall gelöst ist. Ähnlich geht es Vielen wohl auch bei den Büchern von Petros Makaris mit seinem Kommissar Costas Charitos. Es sind nicht nur spannende Fälle, in diesen Krimis konnte man sich schon lange vor der Griechenlandkrise über die Zu- und Missstände in diesem Land informieren. Das kann man natürlich mit Einschränkung auch von den Krimis einer Donna Leon mit ihrem Commissario Brunetti sagen, der große Erfolg lässt sich vielleicht doch mehr mit dem prominenten Ort erklären, an dem sie spielen: in Venedig!

Was man Aichner sicher nicht anlasten kann, ist, dass er die Landschaft Tirols in seinen Krimis mitverkauft. Er hätte dies ja werbeträchtig tun können, da seine Protagonistin immerhin in Innsbruck lebt. Wenn es um das Verkaufen der Landschaft geht, ist Tirol ansonsten schon seit Beginn des Tourismus in den Alpen Spitze. Augenfällig war dies (wieder einmal) bei der letzten James Bond-Verfilmung. Gedreht wurde u.a. in Obertilliach und im Ötzal. Natürlich war dann, entgegen der Hoffnung der einheimischen Tourismusvertreter, die Örtlichkeit nicht mehr als Kulisse. Aber die Filmförderung zahlt diesseits und jenseits des Brenners und obwohl man nichts sieht, will und wird die Tourismuswerbung mit den Bond-Schauplätzen doch Werbung machen. Abstruses Detail zur (Südtiroler) Filmförderung: Der 2015 ausgestrahlte Film „Das finstere Tal“ – mit Tobias Moretti in einer Nebenrolle, in der er kaum etwas anderes zu tun hat, als im Schnee prachtvoll zu sterben – ist ein neues Genre: Das Morden in diesem ‚Alpenwestern‘ – reitende Westernhelden in den Tiroler Bergen um 1900?! – ist von Rache geleitet. Gedreht wurde u.a. im Schnalstal: Die Preise, die dieser Streifen schon eingeheimst hat, sind hoffentlich für die durchaus bemerkenswerte filmtechnische Umsetzung vergeben worden.

Landschaft und Kulinarik, das ist die neueste Masche, in die Krimis verpackt werden. Ein Beispiel sind etwa Fälle von Bruno Chef de Police, der im Périgord ermittelt. So heißt es im Roman von Martin Walker „Femme fatal“ auf der letzten Seite in einer Werbeeinschaltung des Verlags: „Martin Walker hat eine der schönsten Regionen Frankreichs zum Krimiland erhoben und damit für die Literatur erschlossen: das Périgord.“ Und Walker schreibt denn auch in seinem Nachwort (426), dass die „Traditionen und Küche, Bewohner und Landschaft [des Périgord] die wahren Helden der Bruno-Romane sind.“ Außerdem dankt er seiner Frau, die seine „fiktiven Gerichte und Rezepte“ überprüft hat. Dass die Fälle selbst gar nicht so überzeugend sind, gar nicht mehr sein müssen, versteht sich bei dieser Vermarktungsstrategie fast von selbst.

Das „NZZFormat. Das Fernsehen der Neuen Zürcher Zeitung hat eine Serie „Krimi und Küche“ gestartet. In der Folge „Hunkeler macht Sachen“ erkundet der Schweizer Bestsellerautor Hansjörg Schneider zusammen mit seinem Protagonisten Hunkeler die kulinarische Vielfalt der Region im Dreiländereck rund um Basel: Das Kochen und Genießen von Blutwurst und Kalbszunge sind auch hier wichtiger als die Inhalte der Romane (SFR1, 15.5.2014).

Bilderbuchlandschaft, gutes Essen, gute Weine, da bietet sich Südtirol besonders als Krimilandschaft an. Der in Berlin geborene und in München lebende Krimiautor Michael Böckler, der seine Fälle mit touristischen und kulinarischen Informationen zu verknüpfen versteht, hat sich auch dieses Themas angenommen und einen unterhaltsamen, auch gut lesbaren „Wein-Krimi aus Südtirol“ beigesteuert, der Salzburger Galerist Thomas Seywald einen historischen Kriminalroman rund um Befreiungsbewegung und die Attentate im Südtirol der Sechzigerjahre verfasst („Ich & Ignaz“. Wattens: Berenkamp 2014).

Der Athesia Verlag startete 2010 eine eigene Reihe „Südtirol-Krimi“. Sieben Bände sind bisher erschienen, sechs davon vom Rheinländer Ralph Neubauer, einer vom Bozner Moderator und Redakteur Robert Adami. Auffällig ist, dass alle diese Bücher schlecht redigiert sind und die Spannung keinesfalls schlafraubend ist. Es ist offensichtlich, dass diese Bücher touristische Zwecke erfüllen sollen. Schon beim ersten Fall „Rache ist honigsüß. Commissario Fameo flirtet“ besteht daran kein Zweifel. Der Band wurde gefördert von der Gemeinde Tisens und von Schloss Katzenzungen, die Schauplätze der Handlung sind. „Der Südtirolkrimi, der Sie nicht mehr loslässt!“ heißt es werbewirksam auf dem Umschlag. Fabio Fameo, nach Bozen versetzt, weil er in Rom mit seinen Recherchen dem Korruptionsfilz zu nahe gekommen ist, soll jetzt in Bozen „Eierdiebe jagen“ (6), zumindest – welch Zufall – hat er eine deutsche Mutter und kann sich somit auch auf Deutsch verständigen. In der Carabinieri-Station in Terlan lernt er Maresciallo Tommaso Caruso (aus Sardinien) kennen und schätzen, vor allem auch die Kochkünste von dessen Frau. Essen ist ein wichtiges Thema, immer wieder wird zusammengesessen und gegessen, immer gut, und natürlich bekommt man immer und nicht nur nebenbei, Geschichtsunterricht über Südtirol und platte Beschreibungen seiner Bewohner: „ Die Menschen hier sind ehrlich, fleißig, rechtschaffen. Zumindest die Alten.“ (14); „aber die Südtiroler und die echten Italiener haben nun mal unterschiedliche Mentalitäten“ (53). In Prissian trifft Fameo den ‚Dorftrottel‘ Georg, der hat klare blaue Augen, aber sein Mund „wirkte irgendwie blöd“ (21) Georg ist im Dorf als Kind 1943 aufgetaucht, wahrscheinlich das Kind von Dableibern, die zu dieser Zeit von den Nazis verfolgt und vertrieben wurden. Im Dorfgasthaus gibt es wieder ein gutes Essen, das „lecker“ (26) schmeckt und „betörend“ duftet (28) Es kommt dann der Stich einer Biene in den Fuß des Commissarios, der allergisch darauf regiert, was ihn mit dem später als Mörder entlarvten Eduard Holzleitner zusammenbringt. Fameos Mückenallergie bringt ihn aber auch in Kontakt mit der schönen Apothekerin: er ist augenblicklich fasziniert von ihren „perfekten Bewegungen und ihr makelloses Gesicht“ (42), es ist einfach eine „tolle Frau“ (43), mit der er noch am selben Abend in einem Gourmettempel im Dorf speist. Aber auch Fameo sieht „gut aus“, hat „gute Umgangsformen“, hat „Stil“ (56) und so kommen die beiden naturgemäß zusammen. Gemordet wird übrigens mit einem Extrakt, gewonnen aus dem Stachel der Bienen, die ihrerseits den Mörder, der allergisch auf das Bienengift ist, umbringen. Der Mörder ist ein „Luis-Trenker-Typ halt“. (157) In seinem Nachwort legt Neubauer offen, dass er nicht nur unterhalten will, sondern der Krimi soll dem Leser auch als „Reiseführer durch eine schöne Region Südtirols dienen.“ Die Handlungsorte seien so vorzufinden, wie beschrieben, auch die Gasthäuser und Restaurants, die Apotheke. […] Lernen Sie Land und Leute kennen – Sie werden es nicht bereuen.“ (219)

Sigrid Neureiter, Inhaberin einer PR-Agentur in Wien, aber mit Eltern aus Tirol, hat ihre bisher drei erschienenen Kriminalromane mit dem Untertitel „Südtirol-Krimi“ oder „Krimi aus Südtirol“ positioniert. In „Burgfrieden“ geht es beispielsweise um die Entdeckung einer alten Handschrift auf Schloss Runkelstein, die von Walther von der Vogelweide stammen soll, und die aber bald wieder verschwindet. Auch in „Kurschattenerbe“ ermittelt wieder die PR-Beraterin Jenny Sommer. In dem Fall geht es um Oswald von Wolkenstein, in Meran findet gerade ein Symposion über ihn statt. Einer der Wissenschaftler verschwindet. Der Mord an einem Maler steht damit in Zusammenhang. Es geht um ein Gemälde, das Oswald von Wolkenstein darstellen soll. Insgesamt mittelmäßig spannend.

Lenz Koppelstätter: Der Tote am GletscherAm besten auf der Südtiroler Krimi-Welle surft derzeit aber Lenz Koppelstätter, ein gebürtiger Bozner, der als freier Autor und Journalist in Berlin lebt. „Der Tote am Gletscher. Ein Fall für Commissario Grauner“ ist im renommierten Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, trägt auf dem Umschlag die Bezeichnung „Südtirol-Krimi“, auf dem außerdem „Südtiroler Alpenkulisse und ein raffinierter Fall“ versprochen wird. Gar so raffiniert ist der Fall dann aber doch nicht, aber immerhin publikumsträchtig. Denn in der Nähe des Fundortes vom Ötzi wird eine Leiche gefunden, ermordet von einem Pfeil, der tatsächlich einmal dem Ötzi gehörte. Dazu ermittelt ein Commissario Grauner, der im Nebenberuf Bauer ist und im Stall Musik von Mahler spielt, zusammen mit dem Ispettore Saltapepe aus Neapel, der die „Codes“ (171) der Südtiroler (noch) nicht kennt. Geschichtsunterricht – versteht sich – muss daher zwangsläufig immer wieder in den Text einfließen, ebenso wie Klischees und manche misslungene, oder originell klingen sollende Formulierung, etwa „Pamperhirten“ (178). Oder es finden sich so pathetische Formulierungen wie: „Es war Ruhe eingekehrt in Schnals. So eine wohlige und zugleich gespenstische Ruhe, wie sie nur in Südtirols winterlichen Dörfern mitten in den Bergen herrschen konnte. […] Das Lodern des Feuers, das Grummeln der Knechte und Bauern, die sich auf den Ofenbänken ausruhten.“ Wo gibt es heute noch Knechte? Oder, und das ist wohl auch der schlechten Lektorierung zuzuschreiben: Zuerst lässt der Autor Grauner romantisch mit seiner Frau durch die Landschaft spazieren und ein paar Seiten später wird gesagt: „Spazierengehen als Entspannung? Das war nichts für Grauner“ (92). Doch auf solche Kleinigkeiten kommt es nicht an. Wichtig ist, dass auf dem Umschlag Südtirol draufsteht und wenn dann noch der Schnalser Gletscher der Tatort ist, dann freut dies besonders den Direktor der Schnalstaler Gletscherbahnen, der mit dem Autor nur allzu gern am Tatort posiert. Dass die erste Auflage mit 10.000 Stück schon nach wenigen Tagen vergriffen gewesen sei, wird werbewirksam gleich mit dazu behauptet. (Dolomiten, 13.10.2015) Der zweite Fall von Commissario Grauner, der in Ulten, Meran, Bozen und am Gardasee spielen soll, wurde bereits werbewirksam angekündigt (Dolomiten, 1.12.2015).

Lena Avanzini: Tod in InnsbruckDoch wo bleibt der Nordtirol-Krimi? Natürlich gibt es ihn, aber bisher ist dort noch niemand auf die werbeträchtige Idee gekommen, Krimis mit einem solchen Untertitel zu verkaufen. Jedenfalls hat Innsbruck eine bemerkenswerte Krimi-Autorin, Lena Avanzini, die für ihren Romanerstling „Tod in Innsbruck“ 2012 den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Debüt erhalten hat. Und das sehr zu Recht. Der Fall spielt in Innsbruck, an ganz konkreten Lokalitäten, nur die Tiroler Musikakademie, rund um die die Morde spielen, gibt es nicht. Der Roman ist gut geschrieben und vor allem, die Spannung hält bis zum Schluss an. Die Lösung des Falls ist auch für erfahrene Krimi-Leser durchaus (noch) überraschend.

Tatort Innsbruck ist übrigens auch in Lina Hofstädters Roman „Erebus“ und er spielt in der Literaturszene. Der Innsbrucker Erebus-Verlag spezialisiert sich auf Lyrik und verkauft seine Bücher erfolgreich. Was dahintersteckt, sei hier nicht verraten, nur so viel: die Lyrik ist es nicht. Und doch sei hier Hofstädters „Erebus“ nachdrücklich empfohlen, nicht so sehr, weil darin auch der Literaturbetrieb satirisch-ironisch beschrieben wird, sondern vielmehr wegen der „Krähengedichte“, die teilweise schon in den Text selbst eingebaut sind, aber auch als selbstständige Broschüre beiliegen:

„Wenn die eingeschneiten Felder

Grenzenlos

In den ascheweißen Himmel münden

Sind die schwarzen Vögel

Auch verschollen –

Dann ist

Einmal

Alles

Totenstill …“ (30)

Totenstill ist es um den Krimi in Nordtirol jedenfalls nicht. Dort denkt man aber offenbar, anders als in Südtirol, in etwas weniger ‚nabelbeschauerischen‘ Kategorien. Denn hier lautet das verkaufsträchtige Zauberwort „Alpen-Krimi“. Unter diesem Stichwort hat seit 2014 auch der Haymon-Verlag vermehrt seine Krimis vermarktet. Ein Beispiel sei hier angeführt, weil in diesem Fall – in Büchern immer noch viel seltener als im Film – eine Frau die Hauptrolle spielt. Seit 2015 ermittelt Valerie Mauser, genannt Veilchen (weil sie schon mehrere blaue Augen ausgefasst hat). Der gebürtige Innsbrucker Joe Fischler hat diese Ermittlerin am Landeskriminalamt Innsbruck geschaffen und binnen kürzester Zeit 25.000 Exemplare von „Veilchens Winter“ abgesetzt, was ihm die Verleihung des Goldenen Buches einbrachte, das der Hauptverband des österreichischen Buchhandels vergibt. So steht es jedenfalls auf der Homepage des Autors (http://www.joefischler.com/). Mauser, gebürtige Tirolerin mit einem unbezähmbaren Afrolook in blond, die in Wien bei der Kripo Karriere gemacht hat, ist nun auf einen Leitungsposten nach Innsbruck berufen worden. Gleich nach ihrer Einstandsfeier, die mit einem Besäufnis endet, erhält sie vom Landeshauptmann, der auch bei den Feierlichkeiten mitgezecht hat, die Aufgabe in einem Entführungsfall inoffiziell zu ermitteln. Zum Glück gibt es den früheren Einsatzpartner, den nun in die Privatwirtschaft gewechselten Manfred Stolwerk, der ihr behilflich ist. Russenmafia, Wirtschaftskriminalität, verschwundene Akten, eine Ermittlungspanne nach der anderen, die Landschaft von der Seegrube bis nach Götzens, eine Verfolgungsjagd mit dem Bus von Hötting zum Flughafen, das sind die Ingredienzien dieses „Alpenkrimis“. Als Krimi überzeugt das Ganze nicht, auch die Figur der Ermittlerin nicht, auch nicht der geheimnisvolle Sänger samt seinen Liedern. Einer Sonderedition als Hardcover ist eine CD mit diesen Liedern beigelegt, die Joe Fischler selbst geschrieben und vertont hat. Inzwischen ist auch schon der Folgeband „Veilchens Feuer“ erschienen. Edelweiß und Alpenrose (?) auf den Umschlägen versprechen mehr, als diese Alpen-Krimis zu halten vermögen.

Auch der aus Schwaz gebürtige und in Innsbruck als freiberuflicher Texter und Übersetzer lebende Wolfgang Gösweiner hat sich in diesem Sujet versucht: 2014 erschien „Risswald“ (Reinheim: Sieben-Verlag), 2015 „Leb wohl, Tirol!“ (Köln: Emons). Selbstverständlich wagen sich auch ‚Nicht-Tiroler‘ an dieses Thema: Ines Eberl, gebürtige Berlinerin, lässt ihren Alpen-Krimi „Jagablut“ (Köln: Emons 2012) in Alpbach spielen. Der gebürtige Münchner Stefan König hat in seinen Krimis ebenfalls Tirol zum Handlungsort erkoren (z.B. „Gletscherkalt“, Köln: Emons 2012). Was aber insgesamt das Besondere an diesen Alpen-Krimis sein soll, lässt sich bis jetzt jedenfalls noch nicht erschließen.

Kurt Lanthaler: Der Tote im FelsWie sticht da aus dieser insgesamt eher tristen Krimi-Landschaft doch ein Kurt Lanthaler heraus. Schon 1993 hat er seine Tschenett-Serie begonnen, die in 5 Bänden im Haymon-Verlag („Der Tote im Fels“, „Grobes Foul“, „Herzsprung“, „Azurro“, „Napule“) bis 2002 erschienen ist, dann in der Diogenes-Taschenbuchreihe neu aufgelegt wurde und jetzt wieder als Haymon-Taschenbuch erhältlich ist. „Der Tote im Fels“ – um hier nur von dem ersten zu reden, es gilt gleichermaßen für die anderen vier – ist nämlich genau das, was ein guter Krimi im besten Fall sein kann, eben gute Literatur. Lanthaler spielt dabei virtuos mit den gängigen Krimi-Klischees. Tschonnie Tschenett (Betonung auf dem zweiten e) ist der Anti-Krimiheld par excellance. Der ehemalige Matrose, jetzt Gelegenheits-LKW-Fahrer und wochenendlicher Sportberichterstatter über den Wipptaler Fußball, stolpert in seine Fälle hinein. So ist er mit seinem LKW gerade dann vor der Pflerscher Baustelle für den Eisenbahntunnel, als dort aus dem massiven Fels eine Leiche gesprengt wird. Obwohl Tschenett von Anfang an weiß, dass er sich in Schwierigkeiten bringt, wenn er sich einmischt, tut er es trotzdem, und selbstverständlich folgen diese Schwierigkeiten auf den Fuß, was ihn aber umso mehr anstachelt, zu erfahren, was hinter diesem Fall steckt. Als er es dann so ungefähr weiß, muss er aufgeben. Nicht wegen Drohungen, einer Entführung, Schlägen und der Entlassung aus seinen Jobs, sondern weil seine skrupellosen Gegner sich an der Berta, die eine illegale Bar im hintersten Plerscher Tal führt und wo Tschenett Stammgast ist, besser gesagt, an deren Hennen vergreifen. Landschaft und Lokalkolorit, das hat Lanthaler schon damals meisterhaft in seinen ersten Roman eingebaut, und von den wirtschaftlichen und politischen Machenschaften rund um die Planung des inzwischen im Bau befindlichen Brennerbasistunnels ist hier Vieles und Verschreckendes nachzulesen. Gesoffen wird in diesen Büchern fast ein wenig zu viel, gegessen dafür immer noch zu wenig. Denn Kulinarisches servieren, das kann Lanthaler wie kaum ein anderer. Wenn er in einem Sterzinger Lokal eine mittelmäßige Weinsuppe isst, dann folgt sogleich das Rezept, wie diese richtig zu kochen wäre. Und erst die Brennnesselknödel, ein ganz einfaches Rezept, aber erst dann so richtig gut, wenn man, wie Tschenett die frischen Brennesseltriebe höchstselbst am Waldrand – ohne Handschuhe – einsammelt. Kulinarisch resümiert denn auch Tschenett seinen Fall: „Ich hatte nur kurz über den Topfrand gelinst, und feststellen müssen, was für ein Dreck da in der Brühe schwamm. Da trieben alte Nazis und neue Geldmacher, kleine, Zeit ihres Lebens unglückselige, gar nicht mehr so stolze Bergbauern, die sich in sinnlosen Erpressungen versuchten, windige Bankfilialleiter, begeisterte Tirol-Terroristen, billige Schlägertypen und ein besonders scharfgemachter Spezialbulle.“ (138)

 

Literaturliste

  • Robert Adami: Der Zwerg im Berg und die Geigerin im Sarg. Kriminalkomödie [Südtirol-Krimi]. Bozen: Athesia 2014
  • Bernhard Aichner: Leichenspiele. Ein Max-Broll-Krimi. Innsbruck: Haymon 2011
  • Bernhard Aichner: Totenfrau. Thriller. München: btb 2014
  • Bernhard Aichner: Totenhaus. Thriller. München: btb 2015
  • Lena Avancini: Tod in Innsbruck. Kriminalroman. Köln: Emons 2011
  • Michael Böckler: Tod oder Reben. Ein Wein-Krimi aus Südtirol. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2012 (rororo 25865)
  • Herbert Dutzler: Letzter Saibling. Ein Altaussee-Krimi. Innsbruck: Haymon 2015 (Haymon tb 169)
  • Joe Fischler: Veilchens Winter. Valerie Mausers erster Fall. Alpenkrimi. Innsbruck: Haymon 2015 (Haymon tb 167)
  • Joe Fischler: Veilchens Feuer. Valerie Mausers zweiter Fall. Alpenkrimi. Innsbruck: Haymon 2015 (Haymon tb 201)
  • Silvia Flür-Vonstadl: Mörderisches Tirol. Marchtrenk: Verlag Federfrei 2012
  • Irmgard Hierdeis: Der Tote am Herrschinger Ufer. Ammersee-Krimi. Oldenburg: Schard 2008
  • Lina Hofstädter: Erebus. [Beilage:] 26 Krähengedichte zum Roman „Erebus“. Innsbruck: TAK - Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative 2016 (schon Ende November 2015 erschienen)
  • Lenz Koppelstätter: Der Tote am Gletscher. Ein Fall für Commissario Grauner. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015 (KIWI 1447)
  • Kurt Lanthaler: Tschonnie Tschenett. Der Tote im Fels. Kriminalroman. Innsbruck: Haymon 1993
  • Ralph Neubauer: Rache ist honigsüß. Commissario Fameo flirtet. Bozen: Athesia 2010
  • Sigrid Neureiter: Burgfrieden. Kriminalroman [ein Südtirol-Krimi]. 2. Aufl. Meßkirch: Gmeiner 2012
  • Sigrid Neureiter: Kurschattenerbe. Kriminalroman [Ein Krimi aus Südtirol]. Meßkirch: Johann Gmeiner 2013
  • Martin Walker: „Femme fatal“. Der fünfte Fall für Bruno, Chef de Police. Zürich: Diogenes 2013

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Laura Weidacher: Fremde Heimat - Verlorene Vertrautheit, verlorener Klang?

Eine sehr persönliche Einschätzung
  

Laura Weidacher im Nov. 2016 bei ihrer Lesung im TurmbundJe mehr ich an die alte Heimat denke, desto fremder wird sie mir.
Dasselbe aber geschieht auch mit der neuen Heimat.  Es ist, als zöge sich das Rätsel, welches unter dem Begriff Heimat verborgen ist, immer mehr zurück, je mehr ich danach greifen will. Wie eine Katze, die es nur zu Menschen zieht, die sie in Ruhe lassen.

Und doch: Bei genauerem Nachdenken über diesen unübersetzbaren deutschen Begriff, den es so in anderen europäischen Sprachen nicht gibt, steigen unweigerlich Bilder, Klänge, Düfte hoch, die meist tief versenkt in der Erinnerung lagern und die offenbar nur darauf warten, abgerufen zu werden.

Es muss nicht zutreffen, dass man nur dort zu Hause ist, wo die eigene Sprache gesprochen wird. Das neue, angeeignete Idiom hilft oft, dort mehr Klarheit zu gewinnen, wo früher nur etwas halb unbewusst und automatisch Angeeignetes verschwommen wirkte, wo im Dunst von Kindheits- und Adoloszenzerlebnissen sich bestimmte Reaktionen festgesetzt hatten. Der Grund, dass anfänglich manches schief läuft am neuen Ort, liegt sicherlich darin, mangels ähnlicher Kindheitserlebnisse nicht die gleiche innere Sprache zu sprechen und zu verstehen. Aber das kann auch im eigenen Land, innerhalb der nächsten Umgebung, passieren.

In schwierigen oder traurigen Situationen in der neuen Heimat steigt unweigerlich das Gefühl auf, nicht hierher, nicht dazu zugehören („Die verstehen mich ja doch nicht“).Und ich weiß doch so viel von ihnen, oft vielleicht mehr als sie selber, weil ich sie von außen in aller Klarheit sehen und begreifen kann - und begreife sie im Innersten doch nicht. Die Mentalitätsfalle also.

Anfänglich erfüllte mich in der Schweiz neugierige Euphorie – alles war so neu und aufregend, der neue Studienplatz, das erste eigene, bei einer freundlichen alten Dame gemietete möblierte Zimmer, der überwältigende Wohlstand ringsum – man schrieb 1961. Ich selbst verdiente nicht viel an meiner Bürostelle in einer der berühmten chemischen Fabriken in Basel. Aber es reichte, um die hohen Konservatoriumsgebühren (ich bezahlte als Ausländerin das dreifache Schulgeld), Krankenkasse, Essen und Zimmermiete zu bezahlen. Mehr erwartete ich auch gar nicht. Mein eigentliches Leben würde ja viel später beginnen, dann, wenn ich die Ausbildung abgeschlossen und ein Theaterengagement gefunden hätte. Ich bewegte mich sozusagen nur in der Warteschlaufe, und das machte mich sehr genügsam und zufrieden. Immerhin hatte ich den Sprung zu einem für mich besseren Lehrer an einem fremden Konservatorium in einem neuen Land geschafft, ganz allein und aus eigener Kraft. Und ohne alle Mittel.

Aber zurück zur Sprache als Heimat:
Ich bin mir bewusst, dass viel größere Geister als ich mit meinem in Philosophie nur laienhaft geschulten Gehirn schon längst über dieses Thema erschöpfend nachgedacht und geschrieben haben. Aber ich habe mich bewusst aller Recherchen, sprich Suchmaschinen, enthalten, um nicht beeinflusst zu werden; respektive, um nicht Gefahr zu laufen, diese Überlegungen hier ganz aufzugeben (sprich neudeutsch: Past without Copy).

Beim Nachdenken über das mit Bedeutungen vielerlei Art beladene Wort
Muttersprache“ fiel mir wieder einmal auf, dass dieses praktisch am Ursprung allen kulturellen Verständnisses stehende Wort weiblich codiert ist, im Gegensatz zum männlichen „Vaterland“. Sowohl im Deutschen wie auch im Französischen (langue maternelle), Englischen (mother tongue) oder Italienischen (madrelingua), um nur einige Sprachen zu nennen. In lauter Ländern und Kulturen also, in deren Sprachgebrauch im allgemeinen die maskuline Form triumphiert. Es wird sogar der Plural von männlichen und weiblichen Adjektiven innerhalb eines Satzes automatisch in eine gemeinsame maskuline Form verlegt. Muttersprache also – Laute, die wir schon als Föten und Neugeborene gehört und für immer aufgenommen haben. Die wir von Anfang an gewohnt sind. Das ist und bleibt heimatlich und ist durch keine Bildung oder Auseinandersetzung mit fremden Sprachen zu verdrängen oder gar zu ersetzen.

Trotzdem bleibe ich bei meiner eingangs ausgesprochenen Meinung, dass ein fremdes Idiom zu besserer Klarheit verhelfen kann, dass abstraktes Denken schärfer hervortreten und zu genaueren Ergebnissen führen kann. Verlorene Heimatalso? Verlorene Vertrautheit ja, aber auch verlorenes Glück?

Alle diese Überlegungen führen fast zwangsläufig zur Feststellung, dass Heimat – ausgehend vom heimatlichen Idiom -  in seiner Auswirkung fast gleichbedeutend ist mit dem – ich gebe zu, recht verpönten – Begriff „Gewohnheit“.  Nun haben wir aber alle gelernt, dass das Bemühen, Gewohnheiten abzulegen, sich aus dem Korsett der überkommenen (nicht überlieferten!) Selbstverständlichkeiten zu befreien, eine Tugend sei. Ein nach geistiger Freiheit ringender Mensch wird nie aufhören, dieses „heimatlich“ anmutende Gefühl zu hinterfragen, auch wenn noch so viele restaurative Tendenzen unserer Zeit eben diese Hinterfragung als verdammenswert oder gar als geistigen Landesverrat anprangern.

Wobei wir wieder in der Schweiz wären, wo der „geistige Landesverrat“in den letzten Jahren geradezu zum Schlagwort einer wachsenden rechtslastigen Szene geworden ist und leider dabei immer mehr auch von der bürgerlichen Mitte aufgenommen wird. Was habe ich von all dem wahrgenommen, als ich hierher ins Schlaraffenland gekommen war, wo angeblich Milch und Honig flossen? Ich sah vor allem sehr, sehr lange keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem „Common sense“ in Innsbruck oder Basel, wohin ich ja nur verschlagen worden war, weil mein Gesangslehrer hier an der hoch angesehenen Musikakademie unterrichtete.

Als wichtigstes Schlagwort agierte auf beiden Seiten „Tradition“ – das uralte Innsbruck gegen das uralte Basel, beide Städte sich ihres historischen Erbes bewusst, beide nach geistiger und ökonomischer  Neuorientierung innerhalb der immer noch andauernden Nachkriegszeit suchend. Innsbruck, die Stadt an einem der wichtigsten europäischen Verkehrsknotenpunkte; Basel, die Grenzstadt an der Grenze zu Frankreich und Deutschland, wo man sogar mit dem Tram von der Stadtmitte aus direkt ins Ausland fahren konnte. Und beide Städte, zumindest damals, mit einer Phobie vor allem Fremdartigen, nicht Einheimischen, behaftet.

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Wie also wurde ich damals 21jährige aufgenommen? Es existierte für uns Ausländerinnen und Ausländer (wie auch heute noch) ein von allen gefürchteter Faktor: die Fremdenpolizei. Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen für Neuankömmlinge wurden höchstens für 1 Jahr ausgestellt, alljährlich neu anzusuchen, alljährlich mit Arbeits- und Wohnnachweis. Und als eine junge, schnippische Schalterbeamtin mich zum ersten Mal in dem nüchternen Basler Schaltersaal mit den vielen, durch Holz abgetrennten Einzelschaltern nach meinem Einreise- bzw. Aufenthaltsgrund befragte, gab ich wahrheitsgemäß an: Musikstudium an der Musikakademie und Arbeit als Bürokraft in der chemischen Industrie (Arbeit, die ich vorsorglich bereits gesucht und gefunden hatte, konnte ich doch mit keinerlei finanzieller Unterstützung von zu Hause rechnen). Was dann folgte, werde ich wohl nie vergessen: Die Schalterbeamtin warf sich in Positur und verkündete unwirsch: “Da müssen Sie sich schon entscheiden: Wollen Sie hier studieren oder arbeiten? Beides geht nicht!“ Mich durchfuhr ein eisiger Schreck und ich überlegte blitzschnell: Um bleiben und überleben zu können, m u s s t e ich arbeiten. Das Studium konnte ich auch heimlich betreiben, wenn ich nur die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis besäße.

Die Entscheidung war klar. Das bedeutete aber auch, dass meine Arbeitgeber nichts vom Musikstudium erfahren durften – ich also nie studienhalber ausnahmsweise frei bekam. Ich musste alle Einzelstunden auf den frühen Abend verlegen, was nicht immer gelang. Für ein Schülerkonzert oder ähnliche schulische Aktivitäten musste mir „schlecht werden“, was ich natürlich nicht allzu oft ausreizen wollte. Erst viel später erfuhr ich, dass dieser kategorische Imperativ der Schalterbeamtin nicht rechtens gewesen war, ich also ohne weiteres 4 Jahre lang hätte offen und ohne Stress studieren und gleichzeitig arbeiten können. Aber ich hatte zu grosse Angst, dass man mir auf die Schliche kommen könnte und ich dann ausgewiesen würde. So habe ich diesen Entscheid nie offiziell hinterfragt. Angesichts der derzeit überall grassierenden schrecklichen Angst der vielen Flüchtlinge vor Ausweisung durch die Ausländerbehörden kann ich nur sagen: Wenn es für mich auch nicht so drängend existentiell gewesen war, habe auch ich diese Angst jahrelang mit mir herumgetragen und verschwiegen.

Laura Weidacher (l.) zu Besuch im Brenner-Archiv mit Christine RiccabonaUnd so kam es, dass mich meine Chefs, Kollegen und Kolleginnen im Büro nicht als Studierende, sondern einfach als Ausländerin wahrnahmen, welche im Ausland Erfahrungen  schöpfen und auch ihre Fremdsprachenkenntnisse vertiefen wolle – das wurde in den hoffnungsfrohen Sechzigerjahren für einen jungen Menschen als ganz normal angesehen. Da ich mit allen im Büro natürlich nicht Schweizerdeutsch, sondern ein möglichst deutliches Hochdeutsch sprach – ich hatte ja in Innsbruck bereits privaten Schauspielunterricht genommen - , hielten sie mich lange Zeit, wie sie mir später gestanden, für eine gebürtige Deutsche, verhielten sich jedoch abwartend korrekt. Eine Meinung, die sich erst nach ungefähr einem halben Jahr ändern sollte. Als ich beim ersten Betriebsfest in guter Laune ein paar Brocken auf tirolerisch fallen liess, erfolgte ein allgemeiner Aufschrei: „Ja was, Sie sind Österreicherin? Warum haben Sie das denn nicht früher schon gesagt?“. Und mich in ihre Arme schlossen. 

-4-

Um das zu erklären, muss man wissen, dass die Grenzstadt Basel schon seit  Jahrhunderten eine recht heftige Phobie entwickelt hatte vor den „Sauschwobe“, wie man die Deutschen hier früher ganz offen betitelte. Die Bezeichnung geht auf den Schwabenkrieg von 1499 zurück, nach dem sich – der Frauenarbeit wegen! – die besiegten Schwaben dafür mit der Bezeichnung „Kuhschweizer“ revanchierten. Man sieht also – unversöhnliche, jahrhundertealte Ressentiments, welche – in deutlich abgeminderter Form, doch immerhin – bis heute halten.   Dass die Schweizer Urkantone seit Jahrhunderten immer wieder gegen die Habsburger gekämpft hatten, dass im 20. Jahrhundert Österreichs Anteil an den beiden Weltkriegen ein sehr bedeutender gewesen ist, dass man im Jahre 1961 also auch Österreicherinnen und Österreicher,  mit einer gewissen Vorsicht zu beäugen hatte, verdrängte man offenbar, so wie es ja auch in Österreich selber zu dieser Zeit gang und gäbe gewesen war. Die große Nachkriegsverdrängung allenthalben.

Und in Basel: Vor lauter Deutschen-Phobie also auf einem Auge blind.  Dabei war ein Großteil meiner Kolleginnen Grenzgängerinnen, die allerdings nicht aus dem Schwabenland, sondern aus  Baden-Württemberg oder aus dem inzwischen wieder französischen Elsass stammten. Beides Länder, die an die Schweiz und Basel am Dreiländereck angrenzen. Dieser Deutschen-Phobie und meiner wundersamen Verwandlung in eine Österreicherin verdankte ich es also, dass ich von da an freundlich und praktisch vorurteilslos aufgenommen wurde.

Zugang in irgendwelche wie auch immer geartete und zu verortenden Basler Kreise allerdings wurde mir nicht gewährt. Ich befreundete mich ausschließlich mit GrenzgängerInnen oder Musikstudierenden aus der ganzen Welt. Nur nicht aus Basel. Diese Form von baslerischer Zurückhaltung wurde und wird immer noch schweizweit ganz allgemein als Eigenschaft der etwas eigenbrötlerischen und „noblen“ Basler angesehen und kaum diskutiert. So musste ich sie auch nicht auf mich persönlich beziehen und konnte ganz gut damit leben. In den alten, reichen und beinahe adelsstolzen Basler Familien existiert diese vornehme Zurückhaltung leicht gebrochen auch heute noch, vor allem im Bewusstsein der ehemaligen Humanistenstadt, der Stadt des Basler Konzils und der ältesten Schweizer Universität.  Doch mit der massiven Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften ab den Siebziger Jahren – zuerst kamen die Italiener, dann die Spanier, Albaner und Türken, zuletzt  Kosowaren, Syrer, Schwarz-Afrikaner sowie, seit Neuestem, Deutsche – hat sich Basel zu einer der liberalsten Städte der Schweiz entwickelt. Österreicherinnen arbeiteten in Basel zur Zeit meiner Ankunft, also anfangs der Sechzigerjahre, fast ausschließlich entweder in der Spitalpflege oder als Kellnerinnen, als „Serviertöchter“, wie man hier sagte, und waren allseits durch ihre Freundlichkeit und ihren hohen Arbeitswillen sehr beliebt.

Wenn mir überhaupt noch Zeit blieb zwischen dem ganztägig ausgeübten Broterwerb und der Arbeit für die stolze Basler Musikakademie, saß ich im Zentrum Basels am Barfüsserplatz in der (immer noch existierenden) „Rio-Bar“, trank billigen Rotwein und diskutierte mit Künstlern und Studierenden bis in die Nacht hinein. Denn Basel war in den Sechziger Jahren eine lebhafte Künstlerstadt und wandelte sich in den Siebziger Jahren zur sogenannten Kulturstadt mit dem legendären „Picassofest“ für den Erhalt zweier wichtiger Picassobilder für das Kunstmuseum Basel – übrigens der ältesten öffentlichen Kunstsammlung der Welt! 

-5- 

In Innsbruck hatte diesen wärmenden Nistplatz außerhalb meiner Familie das „Café Max“ in der Anichstraße eingenommen, das, wie ich kürzlich festgestellt habe, zwar auch immer noch existiert, aber sein Design und den ganzen Habitus stark verändert hat.

Und damit hätte ich auch schon einen „Aufhänger“ gefunden, an den ich anknüpfen kann, um Vergleiche anzustellen zwischen meiner alten und meiner neuen Heimat: Im „Max“, in dem damals billiger Cognac „in“ gewesen war, haben in diesen 40 Jahren sowohl Klientel als auch Ausstrahlung gewechselt. In der „Rio-Bar“ sitzen und diskutieren auch heute noch, und zwar im genau gleichen alten Interieur, dieselben Typen wie früher, schlürfen aber zeitgeistgemäß eher Latte Macchiato oder Gin Tonic. Doch das Gefühl von Nest, von Heimat also, ist in Basel geblieben und ist dies in den letzten zehn Jahren auch in der kleinen Hauptstadt des Jura, im französischsprachigen Delémont, geworden.

Innsbruck hat sich nicht nur verändert, weil ich die Stadtentwicklung nicht mehr dauernd miterleben konnte, sondern weil hier ein ganz andrer Geist herrscht wie in Basel. Denn trotz allen Beharrens auf Tradition und Brauchtum, das in Innsbruck vordergründig weit ausgeprägter zelebriert wird als in Basel, hat hier doch ein nach vorne drängender Wechsel stattgefunden, ein Drang in die Moderne, der eher einem  angestrengten Bemühen entspricht, ja nicht als altmodisch und rückständig, als „hinter dem Berg“ verschrien zu werden. Gleichzeitig wurden und werden die konservativen Werte verteidigt, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass Innsbruck eine ausgeprägt katholische Stadt ist.

Basel ist seit der Vertreibung des Bischofs im 16. Jahrhundert zu einer ausgeprägt bewusst protestantischen und damit auch liberalen Stadt geworden. Der Schritt in die Moderne vollzog sich in Basel jedoch vor allem und sehr effizient hinter verschlossenen Türen, in den heiligen Hallen der Banken und der Chefbüros der Wirtschaft, vor allem jenen der weltweit agierenden Chemischen Industrie. Trotzdem wird Basel schweizweit als d i e  Schweizer „Kulturstadt“ eingeordnet. Nirgendwo gibt es so viele Museen, so viele Konzertsäle, so viele Mäzene wie in Basel. Doch vollzieht sich, vor allem durch die nachwachsende Jugend und die Zuwanderung, ein immerwährender Umwandlungsprozess hin zu einer multikulturellen Gesellschaft.

In der  mehrheitlich katholischen Kantonshauptstadt Delémont hingegen herrscht auch heute noch eine Art nachrevolutionärer Aufbruchstimmung nach der vor erst 36 Jahren erfolgten Gründung des eigensinnigen, kleinen – und armen – Kantons Jura. Und das ist recht eigentlich der gleiche, etwas rebellische Geist, den ich aus Tirol mitgenommen hatte, damals, vor nunmehr 54 Jahren. Hier habe ich ihn wieder gefunden. Aber sich irgendwo wohl fühlen heißt nicht Heimat. Oder doch?

./.

-6- 

Sie sehen schon und ich muss das nicht durch weitere Beispiele belegen: Mein Heimatgefühl hat sich gewandelt, wurde verschoben – aber wohin?

Ist das Vertrautsein mit der ehemals verrauchten und jetzt rauchfreien Rio-Bar zu etwas geworden, das die Erinnerung an die tiefen Fauteuils und die geradezu verschwörerischen Jugend-Runden der Max-Bar aus meinem Gefühl verdrängen konnte? Hat meine Bewunderung für den mächtigen Rhein, der durch Basel fließt,  jene für den grün oder braun schäumenden Inn in Innsbruck abgelöst?

Denn beide Städte definieren sich immer wieder über ihren Fluss. „Mein schönes Innsbruck am grünen Inn“ oder „Z’ Basel an mym Rhy, ja da möchte ich sy...“ Nein, es hat keine Ablösung stattgefunden.  Statt dessen hat sich ein Gefühl von Heimatlosigkeitbreit gemacht, und eine aus diesem Vakuum entspringende Ruhelosigkeit wurde zum  Hintergrund meines Lebensgefühls. Gewiss: Geliebte Menschen gab und gibt es zum Glück hier wie dort. Aber ich hingegen: Von beiden Seiten mehr oder weniger gemocht, manchmal sogar  geliebt, doch nicht erwartet.

Apropos Liebe: Heimat in einem geliebten Menschen zu finden, wird allgemein akzeptiert, ja, wird sogar als anzustrebendes  Wunschbild kommuniziert. Aber geliebte Menschen kann man verlieren – und wo bleibt dann die Heimat? Im Nachfolgenden, im Nächsten? Und wenn’s dann keinen mehr gibt? Wirst du dann ganz und endgültig heimatlos? Das gleiche lässt sich auch von jeder Religionszugehörigkeit  sagen.

Die Menschen in der alten Heimat, deren jeweiliges Heimatgefühl zwar im Laufe der Zeit sicherlich auch - und auf andere Art, etwas zerknittert wurde, sie brauchen mich nicht mehr. Und ich bin nur noch ein - hoffentlich freundlicher - Schnörkel am Rande, ein Semicolon in ihrer Biographie. Die vielen Menschen, die seither in der sogenannten „Fremde“ meinen Weg gekreuzt haben, die mir Gutes oder Böses angetan hatten, die ich geliebt oder gehasst habe, auch für sie bin ich im Innersten eine Fremde, „die Fremde“... Und um - bei aller Dankbarkeit - ganz ehrlich zu sein: Sie sind mir auf eine unerklärliche Art auch fremd geblieben. Auch größte Nähe, tiefste Freundschaft kann nicht Heimat sein.

Aber auch dies wäre möglich: Heimat ist ein Duft.
Viele denken dabei an kulinarische Düfte. Doch für mich ist es der Duft der Wiesen am Waldrand der Nordkette im ersten Frühling, der Duft der aufbrechenden Erde nach der Last des winterlichen Schnees, der Duft von Leberblümchen und blühendem Hasel, der Duft von heißem Fels im Sommer und das Aroma der Kiefern an der Baumgrenze – kurz: ein alpiner Duft.

Außerhalb Tirols fand ich ihn unvermutet wieder in den Bergen Graubündens, meiner „neuen Heimat“ (da ich durch Heirat Bündnerin geworden war), aber auch in den letzten Jahren auf den Jurahöhen, am Fuße der steil abfallenden „Fallaises“, wie die meist senkrechten Felsabstürze dort genannt werden.

Ein Duft der Natur in der Bergwelt also. Und allein schon dieses Duftes wegen werde ich Mitteleuropa nie aufgeben, werde nie in den vielbesungenen Süden ziehen und auch nicht in den verlockenden, glasklaren hohen Norden – von außereuropäischen Welten ganz zu schweigen. 

-7- 

Am ehesten aber dies: Heimat ist ein Klang.

Ein Klang aus der Kindheit, über die Sprache hinaus: der Klang meiner Schritte auf der hölzernen Treppe zur elterlichen Wohnung; der Klang der grossen Glocke von St. Jakob, die an Sonn- und Festtagen die alten gotischen Häuser erzittern liess. Die vielen Lieder und Opernarien, die ich am altmodischen Radioempfänger zu Hause mithören durfte; auch die alten Schlager, welche meine Mutter mitsummte und die ich bald auswendig wusste, obwohl ich deren Inhalt nicht oder kaum verstand; das jauchzende Lachen des Vaters bei dessen seltenen Besuchen zu Hause und der Klang seiner Zither; die schmetternden Märsche und Tänze der Blasmusikkapellen im Hofgarten-Pavillon; vor allem aber das Brausen des Föhnwinds in den engen Gassen oder oben in den Kiefern und letzten Fichten am Berghang.

Doch auch die neue Heimat hat ihre inzwischen tief vertrauten Klänge. Die Stimmen meiner Kinder und meines Liebsten, aber auch die Wirbel der Trommeln und das Trillern der Piccoloflöten an der Basler Fasnacht, oder das Bimmeln der vielen Trams, die Basel durchqueren. Im Jura ganz allgemein der geliebte Klang der französischen Sprache, der galante und höfliche Tonfall in der Sprache der Romands, der welschen Schweizer. Und überall unverwechselbares, vielfältiges  Glockengeläute. All das liebe ich. Aber ist das Heimat?

So viele Fragen, so viele Antworten. Ein Puzzle.
Also münden meine Überlegungen in die Vermutung (die so natürlich nur für mich gilt und auf die ich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben möchte), dass Heimat  eine Illusion ist, ein Ort, der nur in der individuellen Vorstellung existiert. Auch „Heimweh“ ist ja nur die Sehnsucht nach diesem für immer verlorenen Gefühl der Kindheit. Und was heißt schon: „daheim sein“? Ursprünglich etymologisch eher ein Diminutiv: ein abgegrenzter Raum, der Schutz und Wärme gibt, was ja auch das tirolerische „Hoamatl“ beinhaltet. Und wo vielleicht um die Ecke, vor dem nicht mehr existierenden Tore, einmal ein Lindenbaum stand: „Der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht“. Hochdramatisch, traurig und stolz.

Ja, das ist es: In den Klängen von Dichtung und Musik bleibt das Wort Heimat und immerwährender Abschied eingegraben für alle Zeit.

Und so gehe ich als Fremde meinen Weg zu Ende im Wissen, dass ich nur in mir selber meine Heimat vernehme. Ein Raunen aus alter Zeit.  

© laura.weidacher  

  Sammlung Laura Weidacher

  Lexikon Literatur in Tirol

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DER LILIT-FRAGEBOGEN

Judith Unterpertinger


Die Idee eines Fragebogens an sich ist natürlich nicht neu; entstanden ist sie im späten 19. Jahrhundert in England als Salon-Zeitvertreib. Es geht um Vorlieben und Abneigungen, Selbsteinschätzungen und Weltanschauungen – und das Ganze zur „geselligen Neugier“. Die Franzosen haben diesen Einfall bereitwillig übernommen und Marcel Proust, der große Marcel Proust, hat einen solchen Fragebogen 1890 voll Esprit ausgefüllt. (Daher die geläufige Bezeichnung: der „Proust-Fragebogen“.) Bernard Pivot, der französische Reich-Ranicki, hat die Idee für seine Literatur-Sendung Bouillon de la Culture übernommen, James Lipton für sein TV-Interview-Format Inside the Actors Studio, die FAZ als „Herausforderung an Geist und Witz“ für ihr Magazin. Die Idee ist also allemal den – leicht adaptierten –  Versuch wert. (bs)

Status quo & überhaupt

Wie geht’s, wie steht‘s?
ausgezeichnet
Worum geht’s im Leben?
um mehr
Ihre Devise?
euro
Ihre größte Schwäche?
davon gibts einige
Womit kann man Ihnen Freude machen?
eine heiße tasse schwarztee mit milch
Was ist ihr Smalltalk-Thema?
die elektronik meines autos

Fast nur Lieblinge & Lieblinge

Das schönste Wort/das hässlichste Unwort?
ich mag worte mit dem buchstaben "z" wie "zustand", "zausel", "znaim".
das hässlichste unwort: gerechtigkeit
Ihre Lieblingsbeschäftigung offline?
die muse
Und online?
auf den "beenden"-button klicken
Lieblingsfarbe und -blume?
petrol und vergissmeinnicht
Lieblingsduft?
kalte trockene bergluft
Lieblingsessen und -trinken?
frische - noch lauwarme - kuhmilch
Lieblingsbuch?
ronja räubertochter
Lieblingsbild?
"judith und holofernes" von artemisia gentileschi
Lieblingsfilm?
die geschichte vom weinenden kamel
Lieblingsmusikstück?
4'33''

Präferenzen & Schätzungen

Fisch oder Fleisch?
weder noch
Berg oder Meer?
mehr berg
Handke oder Bernhard?
nix da: ingeborg bachmann
Beatles oder Stones?
alle lebenden und toten
Hofer oder Gaismair?
robin hood
Was schätzen Sie an Ihrem Wohnort (welcher) am meisten/wenigsten?
kritzendorf. ich schätze die nähe zur donau sehr, am wenigsten die hundstrümmerl.
Was schätzen Sie an Tirol am meisten/wenigsten?
am meisten berge und natur, wo noch vorhanden, am wenigsten tourismus
Welchen Fehler entschuldigen Sie am ehesten, welchen nie?
versalzene suppe am ehesten, die österreischiche bundesregierung am wenigsten

Historizitäten & Realitäten

Ihre HeldInnen in der Wirklichkeit?
malala yousafzai
Ihre HeldInnen in der Weltgeschichte?
malala yousafzai
Welche historischen Gestalten verachten Sie am meisten?
diktatoren
Welche Reform bewundern Sie am meisten?
reform bedeutet rückschritt

Wunsch- & Antiwunschkonzert

Wo möchten Sie leben?
in der kanadischen wildnis, und in neuseeland natürlich, und in tadschikistan, in darkest peru natürlich auch, und im senegal, ...
Ihr Traum vom Glück?
bleibt der traum vom glück
Was wäre für sich das größte Unglück?
siehe: paul watzlawick
Was verabscheuen Sie am meisten?
pfefferminze
Wer oder was wären Sie gern?
ein leeres notenblatt
Hätten Sie sich gern selber als ChefIn?
natürlich! bin ich schon
Wie möchten Sie sterben?
zufrieden
Und was soll einmal auf Ihrem Grabstein stehen?
bitte in ein paar jahrzehnten wieder nachfragen.

Judith Unterpertinger - http://juun.cc/index.html - lebt und arbeitet als freischaffende Komponistin, Pianistin und Performancekünstlerin nach vieljährigem Aufenthalt in London und andernorts seit 2012 wieder in Österreich. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Realisierung musikalisch-performativer Architekturen, die Auseinandersetzung mit soziologischen und urbanen Zustandsformen sowie die Untersuchung vom Verhältnis der Künste zueinander, etwa in der Verschränkung von Musik, Tanz, Performance und bildender Kunst. Ihre Werkliste umfasst Ensemblestücke, Solowerke, Kammeropern, Klanginstallationen, Fotografien, Zeichnungen und Performances. In den vergangenen Jahren erhielt sie Kompositions- und Performanceaufträge (u.a. Janus Ensemble, ORF, Klangspuren Schwaz, Festival EchtFalsch, 4020-Festival, Soundings London, Kulturhauptstadt Linz09, Wiener Nobelpreisträgerinnen Seminar , E_May, Tanzzone3, Chicago Sound Map, Künstlerhaus Wien, Festival Musica Sacra). Als Instrumentalistin spielt sie in Ensembles verschiedenster Ausprägung von filigraner Improvisation bis zu Industrial und Noise: No Business for Dogs, deepseafishK, krillit+/-, The London Improvisers Orchestra, Hauf/Hess/Jackson/Juun u.a. 2006 Jahresstipendium des SKE.
2009 Theodor Körner Preis.
2012 Anton Bruckner Stipendium. 

 

Szenen anlässlich der Uraufführung von „Judith / Schnitt_Blende. Tanzoper für 3 Stimmen, Fagott, Viola da Gamba, Clavichord, Tanz und Video“ an der Neuen Oper Wien (Première 22.10.2015)Szenen anlässlich der Uraufführung von „Judith / Schnitt_Blende. Tanzoper für 3 Stimmen, Fagott, Viola da Gamba, Clavichord, Tanz und Video“ an der Neuen Oper Wien (Première 22.10.2015)

Szenen anlässlich der Uraufführung von „Judith / Schnitt_Blende. Tanzoper für 3 Stimmen, Fagott, Viola da Gamba, Clavichord, Tanz und Video“ an der Neuen Oper Wien (Première 22.10.2015) 

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