Archiv des Themenkreises ›F-Zeitung‹


Mit Siegfried Kracauer zu Rudolf Steiner

Konstanz, 9. April 2012, 23:36 | von Marcuccio

Nein, Kracauerfeuilleton muss nicht immer in Berlin spielen, obwohl das Stück »Friedrichsstraße 90« neulich im »Freitag« schon sehr hübsch war – und Straßenfeuilleton zurzeit ganz generell groß in Mode ist: vgl. die Torstraße in der FAS, den Durchschnitt im aktuellen »KulturSPIEGEL« …

Unser Osterspaziergang führte ins Vitra Design Museum nach Weil am Rhein. Die aktuelle Ausstellung »Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags« läuft noch bis Anfang Mai, tourt bereits seit 2010 durch die Lande – ist also in den aktuellen Feuilletons längst durch. Ein Grund mehr, der Arroganz der Gegenwart mit einer gut abgehangenen »Frankfurter Zeitung« beizukommen:

»Die Kosmogonie Steiners hier im einzelnen zu entfalten, erübrigt sich – umso eher, als trotz seiner genauen Bescheibung des Stufenpfades niemand außer ihm selber bisher in die übersinnlichen Bereiche eingedrungen ist. Immerhin mag erwähnt sein, daß er kraft seines Hellsehens von einem vor zwölftausend Jahren untergegangenem Kulturvolk zu berichten wußte, das in Luftfahrzeugen dicht über die Erde gefahren sei, und die Existenz zweier Jesusknaben behauptete, über die er mancherlei Mitteilung machte.«

Das schreibt Siegfried Kracauer in der FZ vom 18. April 1925. Soviel Spott in einem frischen Nachruf muss man sich erst mal trauen, wobei frisch heißt, dass Steiner am 30. März 1925 starb und Kracauers Nachruf erst knapp drei Wochen später erschien. Dabei war die FZ aber schon eine Tageszeitung, nennen wir es also ein retardierendes Moment in den Roaring Twenties.

In der Ausstellung

Der Stuttgarter Stuhl erinnert – nur rein namenstechnisch – irgendwie an den Ulmer Hocker. Der wiederum bringt uns über einen pindarischen Sprung zur Hollywoodschaukel und auf die Idee, dass es eigentlich mal höchste Zeit für eine rein onomastisch motivierte Sitzmöbelschau wäre. Ikea macht es im Grunde ja vor.

Biomorphe Formen in der ganzen Ausstellung. Ein bierbäuchiger Familienvater erklärt seinen asketischen Töchtern anthrosophisch. Sel isch halt, wenn d’Architekte koan rechte Winkel mäh machet. Oder so ähnlich. Und wir lernen Neues aus der Anstalt: Das frühere WDR-Signet von Paul Schatz war hochgradig eurythmisch: 19 Uhr 15: ein Senderlogo bei seiner eigenen Bewegungstherapie, sensationell.

An der Bushaltestelle

Wir überlegen kurz, zum großen Goethe-Osterei weiterzufahren (bei Kracauer 1925 nur der »verbrannte Tempel zu Dornach, dessen Wiedererrichtung jetzt droht«), halten uns dann aber lieber extralange an der Vitra-Design-Bushaltestelle (Jasper Morrison, 2006) auf. Die hat nämlich einen Teppich aus Teer, so weich wie Moos, noch nie haben wir einen so angenehmen Straßenbelag erlebt. Ist das jetzt das Osternest für unsere Füße? Eine Fußreflexzonenmassage, weil der Bus Verspätung hat? Auf jeden Fall ein astreines Stück Tiefbau, hebt die Schwerkraft jeder Warteminute auf.
 


Tobias-Meyer-Interview

Hamburg, 6. Februar 2012, 03:13 | von Dique

Der größte Hit gelang der FAZ am Samstag mit dem Tobias-Meyer-Interview, geführt von Rose-Maria Gropp. Von vorn bis hinten ein schönes Gespräch. Das liegt auch an Tobias Meyer, der einfach ein guter Fragenbeantworter ist und mit großer Lust einfach loserzählt. Der reinste Enthusiasmus schäumt da aus den Zeilen hervor, immer wieder mal gibt es emotionale Bestätigungen wie »Ja, natürlich!« oder »Und wie!« Das kennen wir schon aus dem »Spiegel«-Interview vom Januar 2006, »Let’s make it a million«. Im »Spiegel« war Meyer der »coolste Auktionator der Welt« und die FAZ spricht dagegen vom »elegantesten Mann am Pult des Auktionators«.

Neben dem wunderschönen Dahinerzählen bekommen wir auch ein paar Halbfakten endgültig aus erster Hand bestätigt. Ja, Ronald S. Lauder hat 135 Millionen Dollar für den güldenen Klimt gezahlt. Ja, kurze Zeit später wurde Pollocks »No. 5« für 140 Millionen Dollar verkauft. Geschickt tut Rose-Maria Gropp dabei immer ein wenig ungläubig. »Wenn Sie das sagen, dann glaube ich es von nun an auch«, sagt sie auf den Klimt, und auf den Pollock: »dann glaube ich Ihnen auch das«. Am Ende erzählt Meyer noch, dass er für sich selbst gern Kunstgewerbe aus dem 18. Jahrhundert kaufe, weil es einfach so billig sei, z. B. einen Becher von Höroldt für 2000 Euro, und da hat er doch einfach mal Recht.
 


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (1/2012)

Leipzig, 30. Januar 2012, 14:38 | von Paco

Über den Dächern von Danzig

1. Mole spotted above ground: Der Goldene Maulwurf 2011 a.k.a. »die Oscar Night des Feuilletons« (Die Presse).

2. Und morgen früh hier: DAS KINOJAHR 2011. (Von den Machern der Kinojahre 2010, 2009, 2008 und 2007.)

3. Einer der schönsten Essays des letzten Jahres, aus der »BELLA triste«: »Futter für die Bestie. 528 Wege … zum nächsten guten Buch«, von Stefan Mesch.

4. Herrlicher Geigenhass in der SZ (letzten Freitag, S. 11), Jens-Christian Rabe über Lana Del Rey, wunderbar.

5. »Ganz langsam sollten solche Sätze gelesen werden (welchen Grund kann es überhaupt geben, Literatur schnell zu lesen?)« (Gumbrecht über Musil)

6. »Es ist wunderbar, Figuren einfach auftreten lassen zu können.«

7. Demnächst große Regionalzeitungsgala, Anlass ist die 50. Folge unserer beliebten Serie »Regionalzeitung«.

8. »Wolfram von Eschenbach, beginne!« (2. Aufzug, 4. Szene)
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2011

Leipzig, 10. Januar 2012, 04:08 | von Paco

The Maulwurf has landed! Heute zum *siebten* Mal seit 2005, der Goldene Maulwurf 2011:

Der Goldene Maulwurf

Nach unseren umstrittenen Juryentscheidungen zu Iris Radisch (2008), Maxim Biller (2009) und Christopher Schmidt (2010) ist der diesjährige Siegertext vom Typ her eher ein Konsenstext. Vielleicht sind wir nach sieben Jahren in der Halbwelt des Feuilletons wirklich etwas milder geworden, hehe.

Aber vielleicht hat es damit auch gar nichts zu tun, denn Marcus Jauers Text über die »Lust am Alarm« ist so oder so einfach der beste gewesen. Die fürs Web geänderte Überschrift »Tor in Fukushima!« hat im letzten Jahr nicht ihresgleichen gehabt. Schon dadurch ist der Artikel lange im Gedächtnis geblieben, und beim Wiederlesen nach jetzt neun Monaten wundert und freut man sich erneut über den verblüffenden Textaufbau mit drei voll ausgebildeten Erzählsträngen. Das ist eine Übererfüllung des feuilletonistischen Solls, wie sie 2011 ebenfalls einmalig war.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier also endlich die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2011:

1. Marcus Jauer (FAZ)
2. Frank Schirrmacher (FAS)
3. Roland Reuß (NZZ)
4. Judith Liere (SZ)
5. Ulrich Stock (Zeit)
6. Tilman Krause (Welt)
7. Samuel Herzog (NZZ)
8. Kathrin Passig (taz)
9. Ina Hartwig (Freitag)
10. Jürgen Kaube (FAZ)

Eine mención honrosa geht noch an Niklas Maak (FAZ/FAS) und Renate Meinhof (SZ) für beider Berichterstattung zu den Beltracchi-Festspielen in Köln, d. h. den Prozess um die zusammengefälschte »Sammlung Jägers«. Von Maak stammt auch der schwerwiegendste Satz zum ganzen Kunstmarktskandal: »Tatsächlich muss man zugeben, dass Beltracchi den besten Campendonk malte, den es je gab.«

Ansonsten war die Longlist diesmal, wie gesagt, 51 Artikel lang, auch Dank einiger Lesermails, merci bokú! Hinweise auf Supertexte des laufenden Jahres bitte wie immer an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Feuilletonismus 2011

Leipzig, 9. Januar 2012, 00:20 | von Paco

Maulwurf popping up!Nur schnell die übliche kurze Ankündigung: Der Maulwurf steht wieder vor der Tür. In ca. 24 Stun­den kürt Der Umblätterer zum siebten Mal seit 2005 die zehn besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres (a.k.a. Der Goldene Maulwurf 2011). Und um gleich mal den BVB-Torwart Roman Weidenfeller zu zitieren: Die deutschsprachigen Feuilletonisten »have a grandios Saison gespielt«, auch 2011 wieder, und zwar alle.

Schon bis zum Frühjahr war ja mehr passiert als in so manchem Jahrzehnt der vorhergehenden Jahrhunderthälfte zusammen­genommen. Und es gab dementsprechende feuilletonistische Fort­setzungsgeschichten. Die meisten Ereignisse wurden auch von den anderen Ressorts abgedeckt, aber richtig in seinem Element war das Feuilleton bei den Telenovelas um Guttenbergs Doktorarbeit und die sympathische Beltracchi-Fälscherbande mit ihrer zusammengefakten »Sammlung Jägers«.

Eine weitere feuilletonistische Großtat war die Idee der FAZ, Hans Ulrich Gumbrecht ein eigenes Blog zu geben, »Digital/Pausen«, und es ist eigentlich ein eigenes Subfeuilleton, ein intellektueller Playground mit einer markanten Themenwahl und einmaligem analytischem Durchstich. Zwischendurch gab es am 9. Oktober noch die »Jahrhun­dert-FAS« mit superster Staatstrojaner-Coverage – die Ausgabe war sofort vergriffen, die entsprechenden Seiten 41–47 gab es dann aber schnell als PDF zum Download (zu diesem Feuilletonevent gehört unbedingt auch der »Alternativlos«-Podcast Nr. 20 vom 23. Oktober).

In der SZ, der NZZ, der TAZ, der WELT, dem SPIEGEL, der ZEIT und im FREITAG standen natürlich auch wieder die unfassbarsten Sachen drin. Die Idee des Goldenen Maulwurfs ist ja, die noch nie falsifizierte Großartigkeit eines Feuilletonjahres in den zehn angeblich™ besten Artikeln zusammenzufassen. Das ist bei einer Longlist von diesmal 51 Artikelvorschlägen eigentlich zu knapp, aber wir werden es wieder hinkriegen. Dazu dann morgen mehr.

Hier noch schnell unsere Backlist, die Preisträger der vergangenen Feuilletonjahre:

2005   (#1 Stephan Maus/SZ)
2006   (#1 Mariusz Szczygieł/DIE PRESSE)
2007   (#1 Renate Meinhof/SZ)
2008   (#1 Iris Radisch/DIE ZEIT)
2009   (#1 Maxim Biller/FAS)
2010   (#1 Christopher Schmidt/SZ)
2011   (#1 ???/???)

Am Dienstag im Morgengrauen dann also die zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2011. Hier.

Bis gleich,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

 
(Bild: Wikimedia Commons)


Vor 10 Jahren im »ZDF nachtstudio«:
»Fernsehen I bis III« (Rainald Goetz & Comp.)

Leipzig, 11. Dezember 2011, 18:20 | von Paco

Viele schauen das »ZDF nachtstudio« nur wegen Volker Panzer und seinen grauen Anzügen, grauen Krawatten und dunklen Hemden. Die Show läuft jetzt schon seit 1997, sie ist immer noch und immer wieder spitze, aber der absolute Höhepunkt bleiben die drei Sendungen vom September 2001, die unter dem Titel »Fernsehen I–III« liefen (alle bei YouTube).

Das dort ausprobierte Format geht zurück auf das beste Buch der letzten 25 Jahre (mindestens), nämlich »Dekonspiratione« von Rainald Goetz, in dem Folgendes geplant wird: »Eine wöchentliche Talkshow übers Fernsehen. Drei feste Leute, ein Gast, fünf vorher festgelegte Sendungen der vergangenen Woche, die dann nach Art des literarischen Quartetts diskutiert werden.«

Und nach diesen Regeln wird die Show im ZDF dann auch umgesetzt. Die festen Leute sind der Showerfinder Rainald Goetz, sein Wingman Moritz von Uslar und der Moderator Volker Panzer. Ein von Anfang an eingespieltes Dreamteam mit klarer Rollenverteilung, Panzer z. B. spielt den Kulturkonservativen und spielt ihn gut, und auch die drei Gäste, aus Quotengründen alles Frauen, sind genial gecastet: Alexa Hennig von Lange, Klaudia Brunst, Barbara Sichtermann.

Die erste Folge …

… läuft am 5. September 2001. Im Rückblick ist schon diese Eröff­nungssendung unheimlich, 9/11 dräut ja am Horizont. Dieses Gefühl der Unheimlichkeit ist aber noch nichts gegen die dann am 12. Septem­ber 2001 wirklich und tatsächlich stattfindende zweite Folge. Die wollte ich erst gar nicht wieder sehen, aber ich musste mich ihr natürlich aussetzen, um dann hier davon berichten zu können.

Doch jetzt erst mal Folge 1, die Einar Schleef gewidmet ist. Bei bzw. vor bzw. neben Goetz sind Zeitungen und Bücher ausgebreitet, es ist die schönste Grundierung, die sich überhaupt denken lässt. Besprochen wird u. a. die Sendung »Kulturzeit« auf 3sat, und alle machen sich über die damals gerade neu eingesetzte Moderatorin Tina Mendelsohn her, und Moritz von Uslar sagt den wahrscheinlich besten und nachvollziehbarsten Satz, der in den gesamten Nuller Jahren gefallen ist: »Ich will nicht eine Sendung sehen, wo eine Moderatorin sagt: ›Ich hab in der New York Times gelesen, dass –‹«

Insgesamt wird die »Kulturzeit« aber doch für gut und toll befunden. Und Goetz liefert auch noch gleich den zweitbesten Satz der Sendung nach, anlässlich eines »Kulturzeit«-Interviews: »Das ist wirklich ein Problem, dass alle Schauspielerinnen so dumm sind, das ist unerträglich.« Und es ist auch gar nicht polemisch oder ironisch gemeint, das muss man sich wirklich ansehen, wie das rüberkommt, es ist wie im »Abécédaire« von Deleuze, wenn er etwa sagt, der Hund sei der Abschaum der Tierwelt, es ist einfach eine sehr fein herausgearbeitete These inklusive mitgelieferter Beweiskette.

Über einen Artikel von Matthias Altenburg in der »Zeit« sagt Goetz: »Es ist ein Kracher, der Artikel, aber ich find, dass er sozusagen im Einzelnen nicht stimmt.« So muss über Feuilleton sowieso geredet werden, völlig überzogene Affirmation, die Feier des Glücks, dass da was auf Papier oder sonst wohin gedruckt wurde, und es dann unerwarteterweise doch irgendwie nicht stimmt und dass es trotzdem da steht. Und es ist so herrlich, wie Alexa Hennig von Lange an einer anderen Stelle Goetz widerspricht, es gibt da überhaupt kein böses Blut, es ist einfach der allerschönste Dissens, so wie Dissens sowieso am besten funktioniert, wenn er schön ist und nicht hässlich.

Moritz von Uslar lobt anschließend die sozialen Momente der RTL-Reality-Show »Gestrandet« (»Das ist das Beste von den Sachen, die wir heute besprechen, das Interessanteste und Avancierteste.«). Und Goetz fasst die Erfahrung Fernsehen für uns Heutige noch mal zusammen, wo wir gar nicht mehr wirklich wissen, wie das war damals, als wir noch Fernsehen gekuckt haben: »Fernsehen ist dazu da, um Erinnerung zu vernichten. Man kuckt die Sachen und weiß am nächsten Tag, Moment, was war gestern Abend eigentlich, was war da so angenehm, was ich gesehen habe?«

Das »nachtstudio«-Experiment also funktioniert auch nach 10 Jahren noch, man kann diese erste Sendung immer wieder und wieder sehen, genau wie den Auftritt von Rainald Goetz bei Harald Schmidt im April 2010. Aber dann:

Die zweite Folge …

… vom 12. September 2011 2001 (hier bei YouTube). Sie ist, wie gesagt, kaum auszuhalten. Weil man weiß, dass z. B. Harald Schmidt am 9/11-Dienstag nicht aus der Sommerpause zurückgekehrt ist, dass er eine Weile nicht auf Sendung gegangen ist, und es retrospektiv eine der wirkmächtigsten Entscheidungen der dt. TV-Geschichte gewesen ist, für die es einen Grimme-Preis der Abteilung »Spezial« gab.

Aber »Fernsehen II« ging auf Sendung. Zunächst wird Luhmann zitiert, wird 9/11 als ultimative Bestätigung seines Satzes interpretiert: »Was wir von der Welt wissen, wissen wir aus den Massenmedien.« Dem Ad-hoc-Gespräch über 9/11 setzt Goetz zum Glück sofort enge Grenzen, das rettet dann doch die Sendung: »Und ich will nur einfach nur noch eins kurz sagen. Dass wir uns wirklich zurückhalten sollten mit dem Versuch von Einschätzungen, weil uns das absolut überfordert und weil unsere Fähigkeiten der Analyse des Fernsehens, finde ich, das wirklich nicht erreichen, was da –«

Beobachtungen zusammentragen, mehr geht erst mal nicht. Nach 20 Minuten wird das 9/11-Thema abgebrochen und über die vorher ausgemachten Sendungen gesprochen, Goetz referiert die Günther-Jauch-Samstagabendshow »Der große IQ-Test« auf RTL. Und schon damals wird die Jauchlosigkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens beklagt (darum sei die IQ-Show nicht auf ARD oder ZDF gelaufen, mangels eines Moderators, der so eine Sendung quasi »mit seinem Gesicht« halten kann).

Die eingeladene Klaudia Brunst stellt dann »Herrchen gesucht« vor: »Es ist eine Tiersendung vom Hessischen Rundfunk, die es schon seit 26 Jahren gibt. (…) Ich sehe diese Sendung sehr gerne.« Goetz und Uslar finden die (mittlerweile abgesetzte) Schau deprimierend und traurig und falsch, es gibt eine entspannte Brandrede gegen die Emotionsarbeit des Fernsehens: »Ich will nicht so bedrängt werden.«

Und eine schöne Beobachtung zu »Beckmann« gibt es noch (besprochen wird die damals aktuelle Sendung mit Ulla Schmidt, Paul Sahner, Wladimir Klitschko). Und zwar beobachtet Goetz sehr fein Beckmanns schon per Körperhaltung angedeutetes »Reinschlupfen« in seine Talkgäste.

Die dritte Folge …

… kommt am 19. September 2001 (hier bei YouTube). Zu Gast ist Barbara Sichtermann, die ich damals nur als Figur aus Stuckrad-Barres »Blackbox« kannte (»Sichtie«).

Es geht u. a. um »Sex and the City«, die erste Staffel von 1998, die am 18. September 2001 auf ProSieben Premiere hatte. Goetz findet die Serie und das mitgelieferte Bilder- und Themenarsenal schon »extrem historisch« (»es ist so fucking alt, es ist so dated«). Panzer fragt: »Würden Sie denn diese Serie auch freiwillig weiterkucken?« Goetz (enthusiasmiert von Sichtermanns Analyse): »Ja, ehrlich gesagt ja, komischerweise.« 2001, das ist auch kurz vor dem Zeitpunkt, als in Deutschland das Serienjunkiewesen beginnt, was mit SATC ja auch etwas zu tun hat. Plötzlich konnte man wildfremde Menschen z. B. fragen, ob sie »Six Feet Under« s04e05 gesehen haben usw., das waren plötzlich Referenzpunkte wie Bibelstellen.

In »Fernsehen III« liefert Goetz sonst noch eine schön anzuhörende Strukturanalyse von »Sabine Christiansen« (Sichtermann: »Ich sehe die Sendung nicht so gerne. Sie ist mir zu behäbig und die Moderatorin zu …« – Goetz: »… betrunken vielleicht?«). Es ging in der »Christiansen«-Sendung natürlich um 9/11 und die Folgen, und Goetz lobt in einem Anfall von Systemtheorie den verklausulierten, staatstragenden Gestus der talkenden Politiker, Schilys zum Beispiel:

(zu Sichtermann:) »Ich finde nur, das, was Sie da angreifen an dem gesetzten Talk der Politiker, das hab ich grade in der Sendung jetzt noch mal so richtig verstanden und gut gefunden, weil es sozusagen darum geht, dass die künstliche Intelligenz der Institutionen quasi angezapft wird. Es geht jetzt nicht darum, was Schily als Person denkt, sondern es geht darum, dass diese Probleme eingespeist werden – das findet jetzt eben statt – in Apparate. Kein einzelnes Bewusstsein ist in der Lage sozusagen, die Konsequenzen zu überblicken, das denken zu können, das verstehen zu können, aber Kommunikation als Ganzes, diese Art von künstlicher Intelligenz, die da jetzt zu marschieren anfängt, und das sah man da so extrem. Es gab dann ja auch sofort in der FAZ von Mark Siemons einen Artikel darüber, dass Schily, und Fischer übrigens auch, bei ntv, dass die sozusagen die Diskurse abblocken. (…)«

Es geht dann auch noch um die ausgebliebene Harald-Schmidt-Show, es kommt zu folgendem Dialog:

Goetz: Wir haben ja sozusagen gewartet, schon letzten Mittwoch bin ich hier reingekommen und hab gesagt: Was macht Harald Schmidt? Sozusagen ich warte bereits seit einer Woche drauf: Wie tritt er vor die Leute, was passiert?
Uslar: Ich bin gleichzeitig irre gespannt und kann gleichzeitig auch verstehen, dass er im Moment nicht sendet. Die Amerikaner senden auch nicht im Moment, das ist so ein Argument –
Goetz: Die amerikanischen Talkshows laufen nicht, oder wie?
Uslar: Nee, Leno und Letterman senden nicht.
Goetz: Ah, das ist ja interessant.
Uslar: Und das ist sicher ein Argument für die, die –
Goetz (unterbrechend): Woher weißt du das?
Uslar (mit Understatement gehaucht, absolut sympathisch): Das hab ich in der Zeitung gelesen.
Goetz (sehr, sehr heiter).

Am Schluss dieses dreifolgigen »nachtstudio«-Experiments wird noch gefragt: »Ist das Fernsehen als Ganzes vielleicht das größte Kunstwerk des 20. Jahrhunderts überhaupt?« Wenn man das damals vor 10 Jahren mit Enzensbergers »Nullmedium«-Idee im Hinterkopf als provokant empfunden haben könnte, ist es heute eine noch berechtigtere Frage, aus historischer, aus kunsthistorischer Sicht, denn das 20. Jahrhundert ist ja genauso vorbei wie das Fernsehen as we knew it.

Ich habe die drei Sendungen noch irgendwo auf VHS, aber im Moment keine Zeit, um sie ins Museum historischer Abspielgeräte zu bringen. Deshalb ein großer Dank an den Uploader alexomat2, und hier noch mal der LINK zu diesem Goldnugget der TV-Geschichte.
 


Die Feuilleton-Verkehrswacht informiert:
Fahrradhelme sind das neue Ampelgelb

Konstanz, 13. November 2011, 15:09 | von Marcuccio

Peter Ramsauer hat letzte Woche sein »Verkehrssicherheitsprogramm 2011« vorgelegt und nebenbei gedroht: Das Helmtragen beim »Fahrraden« (Sascha Lobo) soll zwar erst mal keine Pflicht sein, aber:

»Wenn sich die Helmtragequote nicht signifikant erhöht, auf über 50 Prozent, dann muss man über weitere Maßnahmen nachdenken.«

Freiheit (auch die Freiheit zu verunfallen) und Eigenverantwortung im Straßenverkehr – ein feuilletonistisches Thema mit Tradition. Vor 80 Jahren war der Fahrradhelm noch nicht erfunden. Da diskutierte man, ob denn die Ampelfarbe »gelb« akzeptabel sei.

Der große Siegfried Kracauer meinte gar nicht kleinlich, sondern grundsätzlich: nein! Unter der Überschrift »Kleine Signale« schrieb er in der Frankfurter Zeitung vom 10. Oktober 1930:

»An den wichtigsten Straßenkreuzungen in Berlin wird der Verkehr bekanntlich durch bunte Lichtsignale geregelt. Das rote Sperrsignal weicht aber nicht gleich dem Grün, das die Straße freigibt, sondern verwandelt sich zunächst in ein leuchtendes Gelb.«

Kleine Semiotik des Ampelgelbs

Kracauer war gegen diese farbliche Zwischenstufe, weil sie die Fähigkeit zur Rücksichtnahme versaue. Gelb, so schreibt er,

»ermahnt Passanten und Wagenlenker zur Aufmerksamkeit und befreit sie von allen Überlegungen, die der Zwang zur Rücksicht auf Menschen und Fuhrwerke bei einem plötzlichen Wechsel der Signale erheischte. Durch die Einschaltung des Zwischenlichts wird die Rücksichtnahme gewissermaßen objektiviert und aus den Menschen herausgesetzt.«

Und dann schwenkt sein Ampelfeuilleton westwärts:

»Auch in Paris finden sich an einigen Hauptstaßen Lichtsignale. Nicht Signale eigentlich, sondern jeweils ein einziges rotes Lichtzeichen, das Halt gebietet. Erlischt es, so ist die Straße sofort wieder dem Verkehr freigegeben. Was völlig fehlt, ist der gelbe Übergang. (…) Die Verantwortung ist bei den Menschen geblieben. Ich wünschte, daß auch bei uns das gelbe Licht draußen erlöschte und in die Menschen zurückkehrte.«

Anhänger der politischen Farbenlehre dürfen da jetzt, hehe, ein Bekenntnis zur Eigenverantwortung, aber irgendwie ohne FDP herauslesen. Und feuilletongeschulte Leser ahnen: Fahrradhelme sind das neue Ampelgelb. Erst exotisch, dann umstritten, und früher oder später Teil der StVO.
 


Aus dem Leben der Sixtina

Leipzig, 4. November 2011, 06:56 | von Paco

In Dresden werden ja gerade die beiden berüchtigsten Raffael-Madonnen gegenübergestellt (Semperbau am Zwinger, noch bis 8. Januar 2012). Darüber gibt es einen schönen FAZ-Artikel von Andreas Platthaus, den ich mit etwas Verspätung eben erst gelesen habe.

Ich war jetzt selbst noch nicht in der Ausstellung, aber mir fiel beim Lesen sofort eine Episode aus dem Leben der einen Madonna ein, eine Episode, die Mitte der Achtzigerjahre von dem lettischen Künstler Mihails Korņeckis (1926–2005) nachträglich gemalt wurde – jetzt bitte nicht erschrecken:

Gerettete Madonna (1984-1985); (C) LNMM, Riga

Das Bild aus dem LNMM in Riga trägt den Titel »Gerettete Madon­na« (»Izglābtā Madonna«, 1984/85, 156×180 cm) und ist natürlich gemalte Kulturpolitik (siehe Matthias‘ Kommentar unten). Die Ge­schichte, die mit dieser Figurenanordnung erzählt werden soll, geht ungefähr so (mit Dank an Wolfgang Stärke):

Zunächst wird der Blick sofort auf das Bild im Bild gelenkt, auf Raffaels »Sixtinische Madonna«, die normalerweise in der Dresdner Gemälde­galerie Alte Meister hängt. Die dargestellte Szene zeigt allerdings, wie sie bei Kriegsende von der Roten Armee in sagen-wir-mal Sicherheit gebracht wird bzw. worden ist (zurück nach Dresden ging sie erst nach Stalins Tod Mitte der 50er-Jahre).

Der sowjetlettische Künstler hat den Raffael nun also auf seine eigene Leinwand kopiert, was ihm auch mehr oder weniger gut gelungen ist. Vor dieser Grundierung findet dann die eigentliche Story statt, die Raffaels Dreieckskomposition spiegelt:

Zwei russische Soldaten bewachen das sichergestellte Großgemälde samt einer (ebenfalls uniformierten, aber kittelbewehrten) Expertin, die direkt von der Heilige Barbara beschützt zu werden scheint, die aus dem Raffaelgemälde heraus direkt auf sie herabblickt. Die Kittelfrau wiederum hält eine Lupe in der Hand und scheint mit leichtem Silberblick mit dem linken Putto kommunizieren zu wollen. Die Linie von ihren Augen über die Lupe endet allerdings im Fußbereich des Papstes.

Korņeckis scheint überhaupt ein paar Probleme mit der Perspektivität zu haben: Die MP des rechten Soldaten (eine PPSch-41) ist recht kühn verzogen, das ist dann fast sozialistischer Unrealismus oder, bei wohlwollender Interpretation, eine Art Reprise des Manierismus.

Der linke Soldat, ein am Kopf verletzter und überhaupt etwas ramponiert aussehender Muschik, stützt sich auf ein mit einem Bajonett versehenes Mosin-Nagant, die Standardwaffe der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Der abwesende Blick des abgekämpften Kriegers lässt vermuten, dass er klischeemäßig eher weniger an Renaissancekunst interessiert ist, während sein jüngerer Kamerad neugierig zur Sixtusfigur auf Raffaels Gemälde aufschaut.

Das vielgestaltige Blickekonzert, mit dem das sowjetlettische Gemälde seine Geschichte erzählt, ist überhaupt sicher der interessanteste Aspekt hier. Und ansonsten ist es erst mal beruhigend zu wissen, dass im Moment wahrscheinlich erst mal keine schussbereiten Kriegsmänner mehr vor Raffaels Madonna stehen.

(Image © LNMM. Thanks to Gundega Cēbere!)
 


Interview zu F. C. Delius:
»Wer schreibt denn jetzt über Terrorismus?«

Konstanz, 27. Oktober 2011, 17:50 | von Marcuccio

Die Literaturwissenschaftlerin Constanze Reichardt über den Büchnerpreis für Friedrich Christian Delius, die RAF als literarischen Stoff und den Käseigel in der deutschen Literatur

Der Umblätterer: Erst mal Glückwunsch! Jahrelang musstest du auf Partys erklären, über welchen Schriftsteller du promovierst. Und jetzt ist es ein Büchnerpreisträger, am Samstag ist die Preisverleihung. Du hast kürzlich deine Dissertation über F. C. Delius eingereicht.

Constanze Reichardt: Das hört sich ja fast so an, als hätte ich den Preis bekommen. Ich habe mich natürlich sehr darüber gefreut und fand es toll, dass sich die Jury für Delius entschieden hat.

Der Umblätterer: Hast du das Medienecho bei der Bekanntgabe verfolgt?

Reichardt: Positiv bewertet hat es eigentlich nur die »Welt«. FAZ und »Süddeutsche« waren sehr verhalten, so mit dem Tenor: Falscher Mann, total langweilig, warum denn jetzt der? Der große Rest hat einfach nur die Pressemitteilung abgeschrieben. Mehr war nicht.

Der Umblätterer: Delius kommt in den Literaturgeschichten von Kritikern wie Volker Weidermann oder Richard Kämmerlings gar nicht vor. Hast du eine Erklärung?

Reichardt: Ich glaube, Delius wird oft unterschätzt, gerade von Kritikern. Die Erklärung, die sie geben, lautet, überspitzt formuliert, dass Delius zwar ein guter Sprachhandwerker, aber ein mittelmäßiger Autor sei. Das heißt, man findet ihn nicht originell, nicht innovativ genug.

Der Umblätterer: Und wie sieht das die Literaturwissenschaft? Es gibt ja nicht gerade viele Forscher, die sich mit F. C. Delius beschäftigt haben, oder?

Reichardt: Es gibt viele verstreute Aufsätze, aber nur einen einzigen Aufsatzband. Zur Dokumentarliteratur gibt es einiges. Und zu jeder Erzählung, zu jedem Roman so ein, zwei, drei Aufsätze. Aber das war’s dann auch schon.

Der Umblätterer: Dann bist du jetzt eine der wenigen Sachverstän­digen der Stunde. Was hast du untersucht und herausgefunden?

Reichardt: Ich habe mich mit dem Deutschen Herbst als politischem Mythos beschäftigt und Delius’ Terrorismus-Trilogie unter der Fragestellung untersucht, welche Aspekte politischer Mythen dort behandelt werden. Delius beschreibt in seinen Texten, welch enorme symbolische Bedeutung die Ereignisse im Herbst 1977 für das Selbstverständnis der Westdeutschen hatten.

Keine eindeutigen Antworten in Sachen RAF

Der Umblätterer: Was bietet Delius’ Trilogie über den Deutschen Herbst, was Sachbücher von Stefan Aust und das Eichinger-Kino nicht bieten?

Reichardt: So einiges. Als literarischer Autor hat Delius ja viel mehr Möglichkeiten, wie er sich der RAF nähern kann. Vor allem erhebt Delius, anders als Aust, nicht den Anspruch des »So ist es gewesen«, sondern fragt vor allem nach dem »So könnte es gewesen sein«, ohne dabei allerdings eine Legendenbildung zu betreiben. Die eindeutige Interpretation der RAF-Geschichte, die im »Baader-Meinhof-Komplex« dargelegt wird, hinterfragt Delius in seinen Texten. Er legt den Schwerpunkt auf andere Aspekte, auf andere Figuren, und er setzt sich vor allem mit der Frage auseinander, warum immer alle eindeutige Antworten haben wollen, wenn es um die RAF geht.

Der Umblätterer: Du hast den Deutschen Herbst zum Anlass genommen, dich mit der Bedeutung politischer Mythen für die modernen Demokratien zu beschäftigen. Wenn ich dich richtig verstehe, stellt Delius das kollektive Gedächtnis, die öffentliche Sichtweise zum Beispiel auf Mogadischu in Frage. Kannst du das an einem Beispiel erläutern?

Reichardt: Die Befreiung der Geiseln in Mogadischu durch die GSG 9 wurde als Sieg der Demokratie über den Terrorismus gedeutet. Die vorherrschende Meinung war, dass man die Feinde der Demokratie, also die RAF, mit demokratischen Mitteln besiegt hätte. Das war ein Einschnitt. Das Ende der Nachkriegszeit. Die öffentliche Sichtweise auf die Ereignisse in Mogadischu ist die Sichtweise der Regierung und der Medien, nicht aber die Sichtweise der Opfer. Die kommen nur am Rande vor, zum einen, wenn man sie, wie den getöteten Flugzeugkapitän Schumann, als Opfer für die Demokratie deuten, also zum Märtyrer machen kann. Und zum anderen, wenn man ihr Schicksal in den Medien ausschlachten kann.

In Delius’ Roman steht dagegen zum ersten Mal die Perspektive des Opfers im Vordergrund. Die Hauptfigur beschreibt in allen Einzelheiten, was ihr während der fünf Tage, in denen sie den Geiselnehmern ausgeliefert ist, passiert. Für sie haben die Ereignisse natürlich keinerlei symbolische Bedeutung, sondern es geht allein darum, die Entführung zu überleben. Das ist eine Perspektive, die im öffentlichen RAF-Diskurs bis heute immer viel zu kurz gekommen ist. Denn der ist von der Sichtweise der Regierung, aber auch der der Täter geprägt.

Der Umblätterer: Warum ist »Ein Held der inneren Sicherheit« (1981) ein Roman über das Herstellen von politischen Mythen – »Myth­making«, wie du es mit einem Begriff von Christopher Flood nennst?

Reichardt: In »Ein Held der inneren Sicherheit« geht es unter anderem darum, wie sich ein Vertreter der nationalsozialistischen Wirtschafts­elite in der Bundesrepublik zurechtfindet, wie er seine Karriere möglichst reibungslos fortsetzen kann. Das tut er, indem er eine strategische Position in einem Wirtschaftsverband einnimmt und dann diesen Verband zu einer Institution macht, die großen Einfluss auf die Deutung der Vergangenheit hat. Zunächst geht es darum, den eigenen Anteil am Funktionieren des NS-Systems zu vertuschen. Sehr bald wird daraus allerdings eine umfassende Umdeutung der Vergangenheit.

Im Roman wird beschrieben, wie die Bundesrepublik nach dem Krieg ihr Selbstbewusstsein zurückgewinnt. Der Text legt den Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Entwicklung. Der schnelle Wiederaufbau, den die Westdeutschen aus eigener Kraft geschafft haben, gefolgt vom Wirtschaftswunder. Darauf sind die Romanfiguren stolz und ignorieren dabei alles, was davor war. Es gibt in dem Text keine Auseinander­setzung mit der Vergangenheit. Im Roman liegt der Schwerpunkt auf der Beschreibung dieses Prozesses: wie diese Sichtweise zu einer allgemein gültigen gemacht wird, also wie ein politischer Mythos konstruiert wird.

Der Dokumentarist als Schriftsteller

Der Umblätterer: Irgendwie ist das ein Werk voller zeitgeschichtlicher Stoffe: Vom »Wunder von Bern« (in »Der Sonntag, an dem ich Welt­meister wurde«, 1994) über die Studentenbewegung (»Amerikahaus und der Tanz um die Frauen«, 1997) und den Terrorismus (Roman­trilogie »Deutscher Herbst«, 1981–1992) bis hin zu DDR-Flüchtlingen (»Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus«, 1995) und Wieder­vereinigung (»Die Birnen von Ribbeck«, 1991). Versteht sich Delius als literarische Bundeszentrale für politische Bildung?

Reichardt: Nein, eher im Gegenteil. Delius beleuchtet diese Stoffe immer von ganz anderen Seiten als öffentliche Diskurse dies tun. Seine Texte hinterfragen oder ergänzen diese. Die Figuren zweifeln allgemein anerkannte Sichtweisen oft an, oder ihre Geschichte macht Probleme sichtbar, zeigt Konflikte und Widersprüche auf. Zum Beispiel in der Erzählung »Die Birnen von Ribbeck«: Kurz nach der Wende erschienen, wird darin unter anderem die Einheitseuphorie kritisiert.

Der Umblätterer: Hat das Label, ein politischer Autor zu sein, FCDs germanistischer Anerkennung geschadet?

Reichardt: Das Label wurde ihm ja von der Literaturkritik angeheftet und zeichnet ein sehr einseitiges Bild von Delius’ Werk, das die Literaturwissenschaft nicht teilt. Wenn auch die Sekundärliteratur zu Delius nicht sehr umfangreich ist, so ist sie doch auf jeden Fall differenziert und hält sich nicht mit Labeln auf. Außerdem verstehe ich nicht ganz, was an der Bezeichnung politischer Autor schädigend sein soll.

Der Umblätterer: Na ja, Norbert Niemann und Eberhard Rathgeb schreiben in ihrer »Inventur« (2003), dass Delius den »Tod der Literatur« wörtlich genommen habe. Sie lenken den Blick auf seine genuine Form der »Dokumentarsatire, die Fiktion und Fakten vermischt«. Tatsächlich hat er ja CDU-Parteitagsprotokolle oder Siemens-Festschriften parodiert – was ihm auch Prozesse um die Kunstfreiheit eingebracht hat. Wie schätzt du diesen Teil von Delius’ Werk heute ein?

Reichardt: Die Texte waren damals eine innovative Weiterentwicklung der Dokumentarliteratur, und einige der Methoden, die Delius da entwickelt hat, hat er später auch in seinen Romanen verwendet. Aber ich denke auch, dass heute niemand mehr solche Texte schreiben würde. Übrigens, das mit dem Tod der Literatur, da würde ich das Gegenteil behaupten. Die Auseinandersetzung mit dokumentarischem Material hat Delius ja erst zur Literatur hingeführt. Sein erster Roman »Ein Held der inneren Sicherheit« war eine Abgrenzung von der vorgeformten Sprache der Dokumente und eine bewusste Hinwendung zur eigenen, literarischen Sprache.

Das Handbuch zur FAZ-Sprache

Der Umblätterer: Sprachbetrachtungen scheinen ihm überhaupt sehr wichtig zu sein. Er hat ja mal eine Schrift herausgebracht, die sich mit der Sprache der FAZ beschäftigt: »Konservativ in 30 Tagen. Ein Hand- und Wörterbuch Frankfurter Allgemeinplätze« (1988). Ich fand das neulich ganz witzig, als mit Frank Schirrmacher und Lorenz Jäger gleich zwei namhafte Stimmen der FAZ erklärt haben, nicht mehr konservativ zu sein. Klang wie Delius im Rückwärtsgang, und war noch nicht mal ironisch gemeint.

Reichardt: Ja. Gerade aus dieser Schrift kann man sehr gut ableiten, wie Delius arbeitet. Das Sprachkritische ist bei ihm extrem wichtig, von Anfang an kann man in seinem Werk beobachten, wie er sich mit ideologischer Sprache auseinandersetzt. Politische Sprachen, Wirtschaftssprachen, Fachsprachen, die er kritisiert und wo er fragt: Was sind eigentlich die Verkürzungen, die solche Sprachen mit sich bringen? »Konservativ in 30 Tagen« ist so ein Ding. Und auch in seiner Terrorismus-Trilogie geht’s ganz oft um Sprachkritik. Wobei Delius die Sprache – auch in seinen Dokumentarsatiren – so verwendet und montiert, dass sie sich selbst entlarvt.

Alles wartete auf den Wenderoman …

Der Umblätterer: Was denkst du über »Amerikahaus und der Tanz um die Frauen«? Es gilt vielen ja als das Buch über West-Berlin. Die FAS hatte es vor Jahren auf einer Liste mit den zehn prototypischen Berlin-Romanen der Gegenwart, Michael Angele, heute Kulturchef beim »Freitag«, nannte das Buch auf den »Berliner Seiten« der FAZ eine »herrliche Hommage« an das Studentenmilieu, das 1966 erstmals gegen den Vietnamkrieg politisiert.

Reichardt: Ich fand es eigentlich auch ziemlich cool. Und es beschreibt bestimmt sehr gut die Stimmung in West-Berlin Mitte der 60er-Jahre. Vor allem hat es auch biografische Züge. Ein gelungenes Buch, das die Zeit vor 1968 einfängt. Interessant eben, dass und wie Delius bei den Anfängen ansetzt.

Der Umblätterer: Der damalige FAZ-Literaturchef Thomas Steinfeld fand »Amerikahaus« 1997 gar nicht authentisch. Er warf Delius sogar »Verrat an seiner Generation« vor, weil er erst aus der Rückschau, mit 30 Jahren Abstand, über diese Zeit schreibt.

Reichardt: Total daneben. Dann soll er sich mal Sachen von Gerd Koenen ankucken. Oder von Götz Aly. Das sind zwar alles keine literarischen Verarbeitungen. Aber das wäre der eigentliche Verrat an 1968. Das ist wieder so ein typischer Vorwurf der Kritik, die offenbar nicht damit umgehen kann, dass der Delius sich nicht nur dann mit zeitgeschichtlichen Themen beschäftigt, wenn ein entsprechendes Jubiläum ansteht. Sondern er macht das zu eigenwilligen Zeitpunkten, und das stört die Literaturkritik immer ungemein. Der dritte Terrorismusroman kam 1992 raus – und natürlich sagten sofort alle wieder: Wer schreibt denn jetzt einen Roman über den Terrorismus? Wir haben doch die Wende …

Der Umblätterer: Alles wartete auf den Wenderoman …

Reichardt: So wollte bei Erscheinen von »Himmelfahrt eines Staatsfeindes« kurz nach der Wiedervereinigung kaum einer mehr was von Terrorismus hören. In den letzten Jahren sind viele lesenswerte Untersuchungen zur RAF erschienen, wenn man die liest, wird deutlich: Delius hat da viel vorweggenommen.

Er beschäftigt sich in seinen Texten fast immer mit wichtigen historischen Ereignissen der Bundesrepublik, tut dies aber oft zum scheinbar falschen Zeitpunkt. Die Sichtweisen, die in den Texten geboten werden, der andere Blick auf die Ereignisse, die neuen Erkenntnisse, die sie liefern, gehen oft unter.

Beinahe Popliteratur

Der Umblätterer: Noch mal zu »Amerikahaus«. Könnte man diese wunderbare Coming-of-Age-Erzählung im Studentenmilieu nicht auch zur Popliteratur zählen? Sie steckt doch voller Song- und Filmtitel, zitiert Werbeslogans und Zeitungsschlagzeilen, speichert also viel Alltags- und Zeitgeschichte und leistet so lustvolle Arbeit am Archiv, wie es Moritz Baßler als konstitutiv für den deutschen Poproman definiert hat. Insofern verwunderlich, dass dieses 1997 erschienene Buch nie als Popliteratur thematisiert worden ist.

Reichardt: Interessanter Gedanke. Zitate waren schon immer ein wichtiger Bestandteil von Delius’ Werk, allerdings setzt er sie ganz anders ein, als die sogenannten Popliteraten der 90er-Jahre das tun. In der Popliteratur geht es, wenn ich mich richtig erinnere, vor allem um das Sammeln und Auflisten von Bestandteilen der Gegenwartskultur. Das Einstreuen von Song- oder Filmtiteln oder auch von Markennamen dient ja der Verortung der Autorinnen und Autoren, aber auch der Leserinnen und Leser in dieser Gegenwartskultur. Die Auflistung von Bandnamen, zum Beispiel in »Soloalbum« von Stuckrad-Barre, dient ja dazu, bei den Leserinnnen und Lesern ein bestimmtes Lebensgefühl aufzurufen. Wenn die diese Anspielungen nicht verstehen, funktioniert das nicht.

In »Amerikahaus« ist genau das Gegenteil der Fall. Die Hauptfigur, der Student Martin, gibt immer wieder zu, dass er nicht mitreden kann, wenn sich seine Freunde über aktuelle Filme unterhalten. Hier geht es nicht um die »lustvolle Arbeit am Archiv«, sondern eher um eine Kritik an dessen Subjektivität. Und während die Popliteratur vom selbstverständlichen Leben in einer Konsumwelt erzählt, beschreibt »Amerikahaus« diese Konsumwelt als irritierend und störend, als Ablenkung vom »Nachkrieg« (S. 55), in dem sich die Hauptfigur nach eigener Aussage 1966 noch immer befindet, während die meisten Berliner mit Winterschlussverkauf oder der Grünen Woche beschäftigt sind.

Der Käseigel in der deutschen Literatur

Der Umblätterer: Apropos Grüne Woche. Du betreibst neben deinen Delius-Studien auch einen Veganer-Blog. Spielt Essen im Werk von FCD irgendeine besondere Rolle?

Reichardt: Da habe ich noch nie drüber nachgedacht.

Der Umblätterer: Mir ist kurioserweise ein Detail aus »Amerikahaus« in Erinnerung: Der Käseigel! So wie Stuckrad-Barre die Crunchips der 1990er ins literarische Gedächtnis eingespeist hat, so hat FCD den Käseigel unserer Omis und Tanten archiviert: dieses wunderbare kulinarische Dingsymbol der 1960er. Einerseits noch ganz Zeichen für den Überfluss der Fresswelle: Man isst jetzt Käse ohne Brot! Andererseits aber auch schon ein Vorbote der Verfeinerung (S. 103): »die neue Art Käse zu essen – Käse aus Holland: Das muß man gesehen haben, feine Holzstäbchen in Käsewürfel gespießt, die man einfach zum Munde führt, ohne Brot!« Yesss! Und dann gibt es doch auch diese Delius-Denkschrift »Einige Argumente zur Verteidigung der Gemüseesser« (1984). War er ein früher Vegetarismus-Apologet?

Reichardt: In den beiden von dir genannten Beispielen stehen Lebensmittel, steht Essen vor allem für die Konsum- und Überflussgesellschaft. In »Amerikahaus« wird das Treiben auf der Grünen Woche beschrieben, auf der nach Jahren der Entbehrung, des Hungers, nun endlich wieder geschlemmt werden darf. Und in »Verteidigung der Gemüseesser« geht es ja um den Zusammenhang von Hunger und Wohlstand, um die Industrieländer, die auf Kosten der sogenannten Dritten Welt leben. Dieser kritische Blick auf Lebensmittel wird auf jeden Fall von vielen Veganerinnen und Veganern geteilt.

Der Umblätterer: Ein Satz wie für die taz. Vielen Dank für das Gespräch. Und alles Gute für die Verteidigung deiner Delius-Diss.!
 

Constanze Reichardt hat in Leipzig, Oslo und Göttingen Germanistik, Anglistik und Politikwissenschaft studiert. An der FU Berlin hat sie vor wenigen Wochen ihre Doktorarbeit zur Begutachtung eingereicht. Sie untersucht darin, welche Rolle politische Mythen in den Romanen »Ein Held der inneren Sicherheit«, »Mogadischu Fensterplatz« und »Himmelfahrt eines Staatsfeindes« spielen. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Irmela von der Lühe.

 


Die sizilianischen Caravaggios

auf Reisen, 18. September 2011, 09:18 | von Dique

Ich stehe vor dem La Residenza in Messina. Ich habe vorher Bescheid gegeben, wann ich ungefähr eintreffe, denn die Rezeption ist nicht durchgehend besetzt, und man kann nicht einfach so ins Foyer gehen, man benötigt die Hotel-Chipkarte, die auch das Zimmer öffnet, oder es muss eben jemand da sein, der öffnen kann, so wie jetzt eine junge Dame, bei der ich mich dann anmelde, bevor ich mich auf mein Zimmer begebe.

Der gut geschützte Eingangsbereich wundert mich etwas und meine Verwunderung nimmt zu, als ich eine laminierte Karte auf dem Tisch finde. Hier wird auf Italienisch und Englisch unmissverständlich dazu aufgefordert, die Tür stets verschlossen zu halten.

Im letzten Abschnitt der langen Hinweisliste heißt es: »As an extra precaution: When leaving the room, even briefly, please be sure to check that your door has been closed and properly locked.« Mich beunruhigt besonders das »even briefly«, als ob schon gleich jemand im Flur auf eine günstige Gelegenheit wartet, in die offenen Zimmer einzudringen.

Neugierig geworden suche ich im Netz nach ›Sicherheit‹ und ›Messina‹ und muss bei EssentialTravel.co.uk Folgendes lesen:

»The biggest problem facing visitors to Sicily are the hoards of pickpockets and purse snatchers who lurk in the main cities. Messina is one of the worst, so be alert when you travel around this town. (…) The most dangerous time to be out is after dark. Any woman wandering around the streets of a Sicilian city late at night runs the risk of being raped or abducted. Men are more likely to be mugged or beaten.«

Ich traue mich dann trotzdem aus dem Haus, auch wenn es schon Abend ist, und überlebe Abendessen und Spaziergang unter den hier heimischen Strauchdieben und Halsabschneidern ohne Zwischenfälle. Den Hafen sehe ich mir ehrlicherweise nur aus der Ferne an.

Nach Sizilien bin ich gekommen, um mir die hiesigen Caravaggio-Gemälde anzusehen, und die Rahmenbedingungen hier in Messina könnten kaum besser sein. Das plötzliche Gefühl, dass diese harmlos scheinende Hafenstadt gegenüber der kalabrischen Küste tatsächlich so gefährlich sein könnte wie zu Zeiten des weltberühmten Malers und Mörders Michelangelo Merisi aus Caravaggio, hat meinem Aufenthalt eine ganz neue Qualität gegeben, für mindestens eine gefühlte halbe Stunde.

Am nächsten Tag, auf dem Weg zum Museo Regionale, bei feinstem Sonnenschein, sind dann aber alle Gedanken an mögliche Gefahren verflogen. Im Museum bin ich der einzige Besucher, außer dem Personal ist sonst niemand zu sehen. Die Atmosphäre ist staubig und morbide und im Garten verteilte antike Artefakte erscheinen sehr willkürlich platziert.

Die ausgestellten Gemälde im Innern des Hauses wurden fast alle von Lokalgrößen angefertigt, einschließlich des feinen Polyptychon des Heiligen Gregor von Antonello da Messina. Für etwa ein Jahr war auch Caravaggio eine Art sizilianische Lokalgröße, verbrachte diese Zeit zwar nicht exklusiv in Messina, schuf hier aber zwei seiner Spätwerke, die noch heute vor Ort sind, in eben diesem staubigen Museo Regionale.

Die vier Museumsangestellten sind freundlich und lassen mich weitgehend unbehelligt durch die Räume spazieren. In Raum 10 ist es dann soweit. In aller Glorie hängen hier die beiden Caravaggios, die Anbetung der Hirten und die Auferweckung des Lazarus.

Über die Hälfte des Lazarus-Bildes ist einfach nur braun-grau mit einigen architektonischen Schatten, und die monochromen Figuren strahlen aus dieser Dunkelheit heraus. Bei der »Anbetung« gibt es neben den Personen auch noch einige Kleinodien in Vorder- und Hintergrund zu sehen, einen Korb, eine Hacke und Stroh, einen Esel und eine Kuh.

Vor Messina bin ich in der Johann-Gottfried-Seume-Stadt Syrakus gewesen, wo ich bereits Caravaggios Grablege der Heiligen Lucia gesehen habe, nicht im Museum, sondern in der Kirche Santa Lucia al Sepolcro. Eine eigentümliche Kirche, innen weiß und minimalistisch und am Kopfende hängt das wunderschöne Bild, man kommt leider nicht sehr nah heran. Wie beim »Lazarus« in Messina beschränkt sich das Bild fast ausschließlich auf die Figurengruppe mit den beiden schaufelnden Giganten in der Front und den Klagenden im Hintergrund.

Nach der Kirche habe ich mir in einem kleinen Zeitungsladen auf der Via Roma noch die FAZ vom Vortag gekauft und bin auf Kaffee und Cannolo ins um die Ecke gelegene Antico Caffè Centrale di Siracusa gegangen.

Inzwischen bin ich wieder in Palermo. Auch in Palermo gab es mal einen Caravaggio, der wurde aber leider 1969 gestohlen und tauchte nie wieder auf.