23.-27.7.2017 – verfahren
23.7.2017
Ich habe mich schon verfahren, als ich Jaana nach Hause gebracht habe und Turku verlasse.
Kann ich die verlorene Zeit aufholen? Falsche Frage.
Einmal durch Helsinki und ich verpasse die Fähre. Fehler – Fehler – Fehler.
Ich habe die Buchungsbestätigung nicht gelesen, ich habe nicht geschaut, wo Finlines anlegt: in Vousaari. Ich habe mir keinen Plan von Helsinki angesehen. Meine fahrlässige Selbstvergessenheit.
Es war der letzte Tag mit Jaana, und sie sollte sich nur an Schönes erinnern. Nur das war mir wichtig.
Ich habe mir Helsinki wie Kiel oder Klaipeda vorgestellt und bin dem ersten Schild, das einen Hafen anzeigte, gefolgt. So ein kleiner Hafen?!? Als ich einen Mann mit smartphone um Auskunft bitte, schaut der mich erschrocken an und meint: das ist aber weit weg – eine halbe Stunde. Er schickt mich durch die ganze Stadt. Und die sieht prächtig aus: so hell und groß und offen zum Wasser und sehr lebendig. Das kann ich gerade noch wahrnehmen. Aber ich muss schnell durch.
Der größte Fehler kommt noch, und es ist der entscheidende: um mich bei den letzten Kilometern nicht noch zu verfahren, frage ich wieder einen Finnen. Auch der ist sehr hilfsbereit, will mir den Weg genau zeigen, so gehe ich nicht ans klingelnde Telefon, weil ich denke, das ist wieder Timbuktu, es ist doch immer Läuten aus Timbuktu. Auch ein Fehler. Gut informiert bin ich weiter gefahren, es war kein Kilometer mehr zu finlines – und dort stand ich dann vor dem geschlossenen Tor. Das ist nicht rückgängig zu machen, zu viel Technik, alles schon abgeschaltet, morgen wieder – wenn ich Glück habe.
Mit einem Anruf hätte man mir das Tor aufgehalten.
Lehrgeld: Für 500 € und ziemlich viele teure Telefonate mit Deutschland habe ich Glück. Morgen.
„Gehen Sie einen Kaffee trinken!“ meint die Frau, die mir da gerade eine Passage für morgen verkauft hat. Bis dahin hänge ich in Vousaari. Und: „Geben Sie noch ein paar Euro aus!“ Mit diesem gutgemeinten Rat bin ich entlassen.
Wieder einmal fahre ich herum, ohne zu wissen, wo ich bin. So war es oft in Finnland.
Warum verstehe ich die Dinge hier so oft falsch. Traue ich mir das Richtige nicht – mehr – zu? Oder war es zu viel, zu groß, zu weit für mein Maß?
Aufhören oder Neues lernen? Sicherheiten einbauen? Aber wie dabei Schwäche zu fühlen? Wieviel Training ist nötig? Möglich? Kann ich mir das vornehmen?
Als ich mich darüber freute, dass mir das Hinaufspringen auf den Berg zu Jaana nach drei Wochen soviel leichter fiel, bin ich – gerade oben angelangt – auf dem nassen, glitschigen Stein ausgerutscht und auf Hintern und Kopf gefallen. Heute tut auch der Hals weh, der versucht hat, dagegen zu halten.
24.7.2017

Diese letzte finnische Nacht war eine Zugabe. Ich habe lange nach einem guten Platz am Wasser gesucht. Als ich ihn gefunden hatte und geschwommen war, kamen die Motorboote. Sie übten Wendemanöver. So habe ich mir das Ende nicht vorgestellt. Ich musste mir die Ohren verstopfen.
Noch vier Stunden, dann schwimmen wir über die Ostsee von Vousaari nach Travemünde. Inshallah.
25.7.2017
Auf See. Vielleicht war das meine letzte große Reise. Ich bin an eine Grenze gekommen, verspreche mir Sylt für das nächste Jahr. Und das Licht. Die Blitze auf den Wellen.
Was ist das Licht. Es ist nichts, es ist alles.
Ich bin unglaublich ruhig. Atme auf und aus, als wäre ich in Dauerspannung gewesen, und die ist vorbei. Mit allen Fehlern und Löchern bin ich heil geblieben.
Bin ich das? Als sich die Welt wegdrehte, dachte ich: Ich bin an meine Grenze gekommen. Es ist wie eine Erleichterung: So eine Leistung muss ich nicht mehr bringen.
27.7.2017
Bis ich wieder auf einer deutschen Autobahn bin. Da hört jeder Spaß auf. Aber sofort. Kampf mit motorisierter Gewalt. Ich spüre das schmerzhaft nach dem ruhigen Fahren auf Finnlands geschwindigkeitsbegrenzten Straßen. Ich kenne kein anderes europäisches Land ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. In Estland und Lettland war ich noch nicht.
Ich verstehe die Nachrichten wieder. Auch kein Spaß.
Immer neue Variationen, wie das Land reich wird mit Kaputtmachen.
Man muss sich schämen.
Auf der A 7 überholt mich ein Kleintransporter aus HAL, nicht viel größer als mein Combo. Er fährt so schnell, dass ich nur ein paar Wörter auf der Hecktür aufgefangen habe:
Flüchten Sie bitte weiter!
Habe ich richtig gelesen?!? Ich gebe Gas, nehme die Verfolgung auf. Mal wird der Abstand größer, dann wieder kleiner, und ich kann den nächsten Satz lesen, gelbe Schrift aus schwarzen Streifen:
refugees are noch welcome
Der dritte Satz ist am schwersten zu erkennen, muss – nach mehrerem Aufholen – so heißen:
Hier gibt’s nichts zu wohnen
Unter dieser Botschaft die Fratze eines Sarotti-Mohrs mit heraushängender Zunge und einer Sprechblase über dem Kopf, die heißt:
„Ficko-Ficki?“
Bei Hannover biegt der Wagen Richtung Leipzig ab.
Ich gehe wieder runter vom Tempo. Das ist also Deutschland auf der A7 im August 2017. Ich bin wieder da und ich schäme mich.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de