24.10.2017 – Amman

24.10.2017

Ich nehme die Abbiegung nach Jordanien, soll doch meine ganze Nahost-Reise in dieses Jahr.
Also von Aqaba mit dem Bus nach Amman.

1992

Amman

 die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt

 

Vier aufeinander gestapelte Kisten mit Tomaten und daneben ein großer Sack Zwiebeln am Morgen vor dem um diese Zeit noch nicht geöffneten Kebab-Shop. Bald wird es heiß werden, dann macht er auf.

Mit einem Schlag sind alle Türen zu. Das Tor nach Bayrut ist in diesem Augenblick vor meiner Nase zugefallen im dünnen Schatten eines jungen Baumes auf dem Jabal Amman, wo ich ein paar Schritte von der Syrischen Botschaft entfernt stehengeblieben bin, betäubt von der Nachricht, die ich gerade erhalten habe, schwindelig, als hätte mich der Blitz getroffen – aus diesem Himmel?!? Die Türe schlug, als sie zufiel, an meine Stirn.
Aus.
Aus. Hier geht es nicht weiter. Das ist das Ende. Mein Ziel war ein Wort, in dem engen Bad eines Hotels in Jerusalem, in dem man aneinander nicht vorbeigehen konnte, ohne sich zu berühren, beim Rasieren eher nebenbei gefallen – aus dem Libanon kannst du mich hier anrufen. In diesem Augenblick war dieses Ziel verloren.

You have no visa for Syria – your visa is invalid.
your visa is invalid – your visa is invalid – your visa is invalid

Bayrut
Völlig unbeteiligt hatte diese junge Beamtin in der Syrischen Botschaft – weiß sie überhaupt, was sie da sagt?! – das Todesurteil gesprochen über meinen Traum. Ich war gekommen, um mein Visum, mit dem ich, wie ich gerade erst erfahren habe, nur einmal nach Syrien ein- und ausreisen darf, in ein mehrfaches Visum ändern zu lassen. Ohne dies bekam ich keine Genehmigung, in den Libanon einzureisen. Dafür mußte durch die Garantie der Deutschen Botschaft gesichert sein, dass ich zurück nach Syrien wollte und mit dem syrischen Visum für mehrere Grenzüberschreitungen auch konnte.
Das hatten die Libanesen in Amman verlangt.
Die Botschaftsangestellte hatte das Visum in meinem Paß genau angesehen, war dann in einen hinter dieser Halle liegenden Raum gegangen, dort habe ich sie mit einem Mann sprechen hören. Als sie zurückkam, sah sie mich ernst an und sagte streng:
You have no visa for Syria. There is a stamp of Taba in your passport. That is the border to Israel. With a stamp of Taba or Rafah your visa is invalid.

Damit stand ich draußen.
Dort sollte ich mich auskennen, an dem einzigen Ort, der mir sicher ist: draußen.
Und wissen: zusammen kommen wir nie.

Aus dem Libanon kannst du mich anrufen.
Libanon, Bayrut – nicht länger ein Wort, das ich wirklich machen werde.
Wem sonst soll ich folgen, wenn nicht den Worten, die fallengelassen werden oder die ich fallenlasse. Wenn ich – eine Aufforderung ablehnend schukran – danke, und gedankenlos boukra – morgen – sage, dann weiß ich schon bald, was ich morgen tun werde. Woran sonst sollte ich mich halten.
Hier, wo die Worte soviel und gar nichts gelten.

Dabei könnte ich es inzwischen doch wissen –
Dieses morgen, dieses verfluchte morgen, auf dessen Bedeutung wir uns nicht einigen können. Ich falle immer wieder darauf herein, bestehe auf meinem Sinn, wo ich doch inzwischen wissen könnte, dass mir dieses Recht nicht im Geringsten etwas nützt. Dass morgen morgen ist. Von wegen. Es kann auch irgendwann bedeuten oder nie. In Deutschland unterwegs hat er nicht angerufen, am Mittwoch hatte er ungefragt gesagt: Ich ruf dich morgen an. Morgen ist es inzwischen schon lange nicht mehr. Am Sonntag fragt er: „Habe ich morgen gesagt?“
Was soll ich da sagen. Ja? Oder: Nein –
Diesmal hat er Libanon gesagt.
Vielleicht hat er es ja wieder vergessen, vielleicht denkt er schon lange nicht mehr daran und nur bei mir ist dieses Wort kleben geblieben und mehr.
Einmal ausgesprochen – in Jerusalem – war der Traum ein Ziel: nach Bayrut, um mit dir zu sprechen: Hallo, ich bin in Bayrut und ganz nah! Wie geht es dir da drüben? Habe ich mich jemals auf irgendetwas mehr gefreut? Als Kind auf Weihnachten, vielleicht. In der Zeit, als ich noch glaubte, dass das Wünschen helfen könnte und einmal – nur einmal im Jahr – erfüllt würde: die anderen, die ich liebte, warm und nah. Doch das ist lange her. Inzwischen erwachsen geworden, hätte ich das Wünschen gerne aufgegeben, doch manchmal, ganz plötzlich, mit solchen Sätzen wie aus dem Libanon kannst du mich anrufen springt es mich wieder an, und ich mache mich auf den Weg: nach Bayrut, das ist Weihnachten, was sonst.
In Aqaba, am Roten Meer, den Blick sehnsüchtig auf Israel gerichtet, habe ich es gewußt: ich werde Jordanien und Syrien durchqueren, um am Ende Bayrut zu erreichen. Bis Amman – das ist nicht weit – bin ich gekommen, um zu hören: you have no visa for Syria.

Das hieß: Bayrut vergessen.

Wie soll ich das machen? Was eben noch das Wichtigste gewesen ist, ein Ziel, ein Sinn: das Meer, auf dem mich ein Schiff nach Haifa bringen könnte – könnte –, und ein Telefon, das nach Israel freigeschaltet ist – in diesem Augenblick muß ich es fallenlassen, vergessen, wenn ich weiterkommen will.
Lernt man das hier: vergessen?
Da stirbt ein Traum und stürzt in das Grab, das ich ihm selbst – habe ich es gewußt? – gegraben habe. In Taba, als ich den grünen Paß zurücksteckte und den roten nahm, in dem sich das syrische Visum befand. Wegen der Zeichen, wegen der Schrift, die ich nicht lesen kann! Was hatte ich in meinem Kopf, als ich daran nicht dachte, dass Taba immer nur heißen kann: du kommst aus Israel. Wozu die Vorschrift mit dem israelischen Stempel, wenn diese nicht auch für Taba gilt und Rafah. Logisch. Aber die Sonne, das Gehen in diesem Ofen und die Sonne auf dem Kopf, die Betäubung – oder was auch immer es gewesen sein mag. Ich habe die Tür selber zugeschlagen, als ich in Taba das erste Mal über die Grenze ging.

Es war nicht nur das Aus für Bayrut, das konnte mir auch schon Syrien versperren. Wie ist es damit, fragte ich, komme ich nun nicht nach Damaskus? Die Syrerin hob die Schultern und zog die Augenbrauen hoch – natürlich war es ihr gleichgültig, wo und wie ich in den nächsten Wochen leben würde, sie sagte ruhig und leise: may be or may be not.
Wenn ein Beamter den Stempel sieht, darf er mich nicht einreisen lassen?
Sie nickte. So ist es.
Wenn er ihn sieht.
Mir blieb nur die Hoffnung auf die Ungenauigkeit oder Unaufmerksamkeit – oder wie man es sonst nennen will – der Grenzbeamten. Wieviele müssen unaufmerksam sein, zwei, drei, vier, damit ich über die Grenze komme? Bei dieser Frau hier jedenfalls, die so schön war, dass ich, als ich sie betrachtete – wie fein das violette seidene Kopftuch um ihr geheimnisvolles Gesicht auf ihr Kleid abgestimmt war – beinahe vergessen hätte, warum ich eigentlich hier stand, bei ihr wäre die Reise gewiß zuende. Sie gab mir den Paß nicht gerne zurück, wie mir schien, nur dass hier eben doch nicht wirklich die Grenze war.
Wir sind immer noch in Amman.

Sie reißt mir einen Traum aus der Seele.
Da kann man nichts machen.
So schnell dürfen Träume nicht sterben.
Da kann man hier nichts machen.
Nicht schlimm –
Zum Teufel mit eurer gottverdammten Toleranz!
Nicht schlimm, das sagt ihr immer, wenn mich etwas aus der Fassung bringt, oder, wenn es doch schlimm ist, dann haben es eben alle. Das ist als Trost gemeint. Nicht schlimm.
Kann einem hier überhaupt irgendetwas wichtig sein?

Wie oft hätten wir uns schon darüber gestritten, was wichtig ist, wenn Du den Streit, den ich gerade anfangen wollte, nicht mit einem Satz beendet hättest: wichtig – das darfst du nicht so sehen.
Ja, bitte aber wie dann?!?
Die Antwort suche ich noch immer. Auch hier.
Eben noch konnte ich mir nichts Wichtigeres vorstellen – und schon ist es verschwunden?! Und ich kann nichts machen?! Wenn irgendetwas sicher ist, dann ist es dies: Ich kann nichts machen.
Auch das sollte ich inzwischen kennen. Ja: kennen – aber anerkennen werde ich es nie. Auch wenn der Zusammenstoß immer meine Katastrophe ist.
Wer bin ich? Und wo? Was ist hier überhaupt wichtig?
Das Leben und wie es ist, wo es stattfindet und mit wem? Oder ist euch euer Leben selbst auch so wenig wert wie dem Westen? 100 Araber für einen Amerikaner?

so wichtig bist du nicht

Aber wofür bin ich denn umgekehrt auf dem Weg nach Damaskus, als ich von einem deutschen Mitfahrer erfuhr, dass ich mir ein Visum für den Libanon in Amman besorgen müsse, weil es in Damaskus keine libanesische Vertretung gibt, denn Syrien erkennt den Libanon ja nicht an. Da war ich aus dem vollen Taxi gesprungen – nur mit dem Taxi brauchte ich nicht bei Nacht aufzustehen oder anzukommen –, hatte den bequemen Platz, wo ich mich gerade für die nächsten vier Stunden einzurichten begonnen hatte, aufgegeben und war auf die andere Straßenseite gewechselt, um dort einem Bus zu winken, der nach Amman zurückfuhr. Der Deutsche hatte mir noch nachgerufen: Passen Sie auf sich auf! – da war ich schon auf der anderen Seite – Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen – alles Gute!
Na ja. Ich mußte zurück, das war mir schon nicht geheuer.

Sofort bin ich zur Libanesischen Botschaft in Amman gefahren, die für diesen Tag bereits geschlossen war: 10 Uhr, sie ist nicht so lange geöffnet wie alle anderen Botschaften hier auf dem Jabal Amman. Erst am nächsten Tag konnte ich die notwendigen Unterlagen abliefern und das Formular ausfüllen. Beim Warten in dem kleinen Raum vor dem Schalter Gespräche mit anderen Deutschen darüber, wie zur Zeit die Chancen für ein Visum stünden. Die wichtigste Bedingung ist eine gesicherte Rückkehr nach Syrien. Ich warf mich entschlossen in das Menschenknäuel vor dem kleinen Glasfenster und versuchte, auch einen Arm dazwischen zu kriegen, um meine Papiere loszuwerden. Man nahm sie an und ich war zuversichtlich. – Warum eigentlich? – Ich sollte morgen wiederkommen.
Morgen: Ich war da, bevor sie aufmachten, ein Libanese sprach mich draußen an, ob ich ihn nicht heiraten wolle, damit er fortkomme, ich sagte: da muss ich erst meinen Mann fragen. Das sah er ein und wartete auf die nächste Europäerin. Drei Wochen später habe ich ihn noch einmal getroffen, mitten in Amman am Tag vor meiner Ausreise, da wiederholte er seine Frage mit einer Einladung: er hätte nichts dagegen – davon gehe ich aus, wenn er mich schon fragt –, mit mir einen Kaffee zu trinken. Auch ich wiederholte meine Antwort. Ohne Kaffee.
In der Botschaft bekam ich meine Unterlagen wieder: Nachfragen, Einwände, ich mußte zur Deutschen Botschaft, die für meine Rückkehr geradestehen sollte, und wieder zurück. Ich erhielt eine Sondererlaubnis, die ich dem Soldaten am Gartentor geben sollte, um nach der Öffnungszeit eingelassen zu werden, damit raste ich in lächerlicher – westlicher – Eile, als könnte ich Einfluß auf den Lauf der Dinge nehmen, zur Deutschen und dann auch zur Syrischen Botschaft, denn die Deutschen hatten den Mangel entdeckt: das Visum galt nur für eine einmalige Einreise nach Syrien.
Taxi her, Taxi weg, reden, telefonieren, bitten, Taxi zurück, neuer Termin, Taxi zur nächsten Botschaft, der syrischen, hier bin ich nun und alles ist nicht gewesen.
Umsonst. Für nichts.

Die beiden Tage in Amman, wo ich schon lange genug herumgelaufen war, genauso.
Immer wieder die Hügel hinauf und hinunter. Staub und noch einmal Staub, der den Blick trübt. Dann wieder klar und blendend hell. Lagern im Schatten der Pinien – erschöpft vom Hinaufsteigen in der Hitze am Mittag – auf dem Gipfel des Jabal Al-Qalá neben der Zitadelle. Ringsum die Stadt mit den mindestens sieben – warum sage ich: sieben? Ist Rom das Maß aller Dinge? – Hügeln: Jabal, jabal, jabal. Wäsche auf fast allen Dächern. Berge von Abfall auch. Wie bringen sie den jemals weg? Wer hat ihn hinaufgetragen – Möbel, Schrott, Plastik – und wer soll ihn holen? Allah oder die Müllabfuhr mit dem Hubschrauber?
Abdali. Unmengen von in den Asphalt getretenen Kronenkorken bilden eine schon fast geschlossene Decke in der Central-Busstation: Abdali, neben dem Römischen Theater, den Straßen, die zum Markt werden, denn Amman hat keinen Bazar. Amman ist neu. Was es heute ist, das ist es seit 1948 geworden, als die Palästinenser kamen, die ich überall treffe. Das Konterfei von König Hussein begleitet mich schon seit Aqaba von Geschäft zu Geschäft. Der junge, der alte, häufiger der alte, den gibt es wohl schon ewig. Wann halten sie es für nötig, das alte Bild gegen ein neues auszutauschen?
Sein Bild – umkränzt – auch bei den Friseuren. Dort wartet am Freitag hinter jedem besetzten Stuhl mindestens noch ein Mann oder ein Junge aufs Rasieren oder Haareschneiden.
Vögel, viele Tauben, einem Jungen ist die seine entflogen und unter ein Auto geflüchtet. Er kriecht hinterher. Kaninchen. Alle Tiere kauern sich in ihren Käfigen auf den Boden, wenn sie getragen werden, auch die Vögel.
Kinderwagen tauchen zweckentfremdet auf: die alten, hohen Modelle dienen zum Verkauf von Brot, von Obst, von Süßigkeiten. Dafür sind sie sehr praktisch, leicht beweglich und schnell fortzubringen. Die Kinder, die noch nicht sitzen oder laufen können, brauchen keine Wägen, man trägt sie lieber. Das hatte schon in Jerusalem angefangen und sollte sich bis Aleppo nicht ändern.
Am Abend stellen kleine Jungen in den vollen Straßen Waagen an den Rand der Bürgersteige, auf denen jeder, der es wissen möchte, sich für ein paar Piaster wiegen kann.

Das war gestern. Jetzt stehe ich hier auf dem Jabal Amman und und lasse den Zettel mit der Eintrittserlaubnis in die Libanesische Botschaft für zwölf Uhr dreißig fallen.

Mit ihr fällt viel.
Nie wird sich erfüllen, was ich mir wünsche, nicht hier, nicht dort.
Niemals wird ein Wunsch wichtig sein.

In der Begegnung dieser zerrissenen Welt hat die gefürchtete Katastrophe immer schon stattgefunden.
Und die Trennung lag schon hinter uns, als wir zusammenfanden.
Das Fallen und Zerschellen, es kann keine Drohung mehr sein.
Wo nichts geht, ist alles möglich. Ohne Hoffnung war die Hoffnung.
Immer aufeinander zu, ohne sich zu begegnen.
Warum bäumt sich alles in mir auf? Und ist auch schon starr. Eine Stange aus Eis. Bei dieser Hitze.
Später fängt sie an zu tropfen: warum der falsche Gedanke, warum zur falschen Zeit. Die Sonne. Die Hitze. Das Licht. Der Fremde. Kein Mord.
Und doch: Der erste Tag machte das Ende.
Du hast die Grenze schon in dir, wenn du aufbrichst.
Ich.

Und ich finde die Grenze nie da, wo sie ist.
Wo sie ist und wo ich sie finde, das hat gar nichts miteinander zu tun. Ich erlebe die Dinge nie dort, wo sie geschehen, den Abschied nicht am Flughafen, die Vereinigung nicht im Bett –
Das tiefste Gefühl von Zusammengehören entsteht aus einem Telefongespräch, das nicht ich geführt habe, sondern von dem mir erzählt wurde.
Und seine Gegenwart zerstört die Erinnerung, so oder so.
Dass man Dinge, die einem wichtig sind, im nächsten Augenblick einfach fallenlassen kann. Das habe ich nie verstanden. Oft bin ich wütend geworden.
Jetzt stehe ich da, bin wütend, und es nützt nichts. Hier kann ich nichts machen.
Komme nicht weiter. Khallas. Aus.
Der brennende Wunsch, nach Bayrut zu gelangen, um zusammenzukommen, über eine Leitung zusammenzukommen, geht in Flammen auf.
Der schneidende Verzicht im gleichen Augenblick. Dann eben nicht. Nicht jetzt. Später. Baden. Im nächsten Jahr. Inshallah. So Gott will. Gleichviel.
Gleichviel?!?

Die vier aufeinander gestapelten Kisten mit Tomaten und daneben der große Sack Zwiebeln am Morgen vor dem um diese Zeit noch nicht geöffneten Kebab-Shop. Unter den Kisten läuft der Saft der Tomaten heraus. Es sind die Kisten von gestern. Der Laden wurde inzwischen gar nicht aufgemacht.
Gleichviel.

Und Damaskus?
Vielleicht wird mich auch Damaskus nicht trösten. Wenn Taba den Beamten an der Grenze in die Augen springt.
Eine Stunde später sitze ich im Taxi nach Damaskus. Will es wissen. Sehen, ob das Tor nach Damaskus offen ist.
Jetzt soll es schnell gehen.
Zum Glück sprechen die beiden Mitfahrer – ein Mann mit seiner Frau – auf dem Rücksitz neben mir englisch, so dass ich meine Geschichte erzählen und meine Befürchtung teilen kann. Sie beruhigen mich: Visa is Visa, sagt der Mann, der ein Rechtsanwalt ist. Dieser Aussage kann ich nicht glauben, doch aber seinem Beistand und seiner Ermutigung. Zwei Passkontrollen gibt es für die Foreigners, Fliegen am Schalter, Scherze von außen nach innen, von innen nach außen, ich gebe mich lässig und weltgewandt, heute hier, morgen dort, selbstverständlich und gleichgültig, hier soll keiner mein Herz klopfen hören. Der Erste gibt meinen Paß an den Zweiten weiter, Augenzwinkern unter der Uniformmütze, beide vergleichen das Bild, das sie vor sich haben mit mir – schön, wenn das ihre einzige Sorge ist, dass ich die bin, die sie auf dem Photo sehen –, dann reicht mir der Zweite den Paß zurück.
Das war’s.

Damaskus ist gerettet.
Von dort werde ich einen Brief nach Hause schicken – auch diesen Fehler, damit einen gemeinsamen Ort zu meinen, habe ich mir noch nicht abgewöhnt.
Schreiben – hat er immer gesagt, wenn es nicht mehr weiterging, schreiben.
Was bleibt mir sonst übrig. Er kennt sich aus in dieser Welt.
Schreiben und Bayrut vergessen.

Ich bin in Syrien.
Draußen lasse ich mich erst einmal auf die Stufen vor dem Gebäude fallen und atme tief durch, etwas später kommen auch meine Mitfahrer heraus, sie freuen sich, als sie hören, dass Taba nicht entdeckt wurde, und die Frau sagt: Du hast Glück, weil wir mit dir sind. Ja.
Eine kleine Omi, die mir schon bei einer Zwischenstation auf unserer Fahrt aufgefallen war – rundlich, schwarz und voller freundlicher Falten, neben einer großen bleichen Tochter – macht ganz überraschend ein paar schnelle Schritte auf mich zu, nimmt mein Gesicht in ihre beiden Hände und küßt mich ein paarmal auf die Wangen. Dabei lacht sie. Ihre Worte kann ich nicht verstehen, ihr Lächeln – glücklich sieht sie aus! – vielleicht. Was ich verstehe, kann ich nicht glauben. Dafür ist es zu spät.

Jetzt muss ich Geld wechseln. Ich habe heute noch gar nichts gegessen.

Aber das Vergessen ist unmöglich, wenn sie mich von nun an überall mit ihren Rufen nach Bayrut verhöhnen. Das fängt schon an, als ich in Damaskus aussteige: Bayrut! Bayrut! Schreie der Begeisterung sind es in meinen Ohren, als gäbe es nichts Schöneres. Gestern noch eine Verheißung ist es heute ein Hohn.
Wenn sie doch still wären, wenn sie doch aufhörten damit, mich zu erinnern!

In welcher Sprache schweigst du? wollte ich wissen.
Natürlich bekam ich darauf keine Antwort.
Die Ringe des Schweigens fingen an, sich um ihn zu legen, schon Wochen, bevor er nach Hause fliegen wollte.
Als er wiederkam – er ist tatsächlich wiedergekommen – , war er  stumm.
Ich weiß nicht, ob er meine Sprache noch versteht.
Vielleicht spricht er ja auch in den Liedern zu mir, die er singt und deren Sprache ich nicht verstehe.
Überhaupt verstehen wir nicht mehr, was wir sagen, auch nicht in meiner Sprache.
Nichts verstehst du, gar nichts. Sagt er.

Darum ist es auch nie gegangen.
Worum ging es dann?
Das Gegenteil. Den Riss im Spiegel. Den Schmerz in dem Blick, der zeigt, dass sich die Welt nicht zu einem Ganzen fügen läßt.
Aber das ist ja genau das, was ich will.
Und das Versprechen der Hände zusammenzufügen, was die Worte, die es nicht gibt, zerrissen haben.
Dort ist der Punkt, an dem wir uns treffen: er hat die Grundfläche des Schnittes zweier Seile, um mit beiden Füßen darauf zu stehen. Und der Sturz ist in jedem Blick schon immer mitgelebt.
Seiltanzen. Angst umarmen. Feuer legen aus Eis.
Hin und her zwischen der Sicherheit des Federns nach dem Sprung und der Angst in den unendlichen Zeiten dazwischen. Die Angst und die Wut, wenn die Angst zuviel wird.

Der einzige Halt liegt in der Berührung seiner Fingerspitzen.
Niemandsland und Wolkenkuckucksheim.

Immer, wenn Du mich warten läßt mit einer Nachricht und mit einem Zeichen, dass unser Band besteht, dann habe ich nur ganz kurz die Angst, die ich so gut kenne, zum Absturz reicht es nie, denn sofort setzt die Gewissheit ein, dass an der Stelle der erwarteten, gewünschten Beruhigung etwas viel Großartigeres, Einzigartiges, Einmaliges stattfinden wird.
Eine Gewissheit, die sich noch nie bestätigt hat, sie kann mir keiner nehmen.
Nicht einmal Du.
Am östlichsten Punkt meiner Reise, in Dayr-as-Zaur, wo ich mit dem Bild des Euphrat in mir umkehren wollte, bin ich ich einem Paar begegnet, das auf seiner Hochzeitsreise war, beide waren festlich schön gekleidet. Bayrut war ihr Ziel. Sie baten mich, sie vor der Brücke über den Euphrat zu fotografieren, und nachdem ich das getan hatte, machte der Mann ein Foto von seiner Frau mit mir, die dazu ihre Schulter an die meine drückte und ihre beiden Hände warm auf meinen Oberschenkel legte.
Wieder diese Nähe einer Frau und ihre Zärtlichkeit. Lächelndes Angenommensein ganz ohne Vorsicht, ohne Neid. Als gäbe es auf einmal viele Schwestern, viele Mütter, und ich wäre bei ihrer Hochzeit dabei.
Bayrut? fragten sie mich hier – ihr Kopfnicken, mein Kopfschütteln: Bayrut –
mehr gemeinsame Worte hatten wir nicht. Als sie sich verabschiedet hatten und zur Stadt zurückgingen, um sich miteinander – das ist es wohl – auf ihren Weg nach Bayrut zu machen, schauten sie sich noch oft nach mir um und wir winkten uns lange. Inzwischen werden sie ihr Ziel erreicht haben.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de