25.10.-2.11.2017 – viele Herbste

25.10.2017

Wer hat’s gewusst?
Die Gloi heißt: die Kleine und ist für den Nachbarn mein Hund.
Die Gloi isch glei komma!
Erzählt er mir, wenn Yalla unterm Zaun durchgeschlüpft ist, weil es ihr zu lange gedauert hat, bis ich das Tor aufgemacht habe. Er und Yalla  freuen sich, Yalla tanzt und jubelt, er strahlt.
Ich frage dann immer, wie es ihm geht, und da gibt es so viel, was nicht mehr geht, nicht nur die Augen.
Dabei werde ich immer stiller, bescheidener? – wenn ja, dann nur kurz. Aber von mir rede ich nicht.

Dass ich mit der zunehmenden Schwäche nicht zurechtkomme, ist geradezu lächerlich. Ich sollte mich schämen. Eigentlich bin ich ein Ausbund von Gesundheit, pumperlgsund, könnte man sagen.
Das ist noch gar nicht lange so. Genauer: seit ich – als ich nur noch mit Schmerztabletten schlafen konnte – zum Placebo gegriffen habe. Das ist jetzt drei Jahre her. Da bin ich auf Joe Dispenza gekommen. Habe Du bist das Placebo. Bewusstsein schafft Materie gelesen, und die Schmerzen im Iliosakralgelenk, mit denen ich nicht mehr liegen und ohne Tabletten gar nicht schlafen konnte, sind verschwunden und tauchen nur, wenn ich mal wieder „richtig“ zugepackt habe, wieder auf. Zur Erinnerung gewissermaßen. Denn: der Körper hat alles, was er braucht. Ich kann ihm vertrauen, kann ihn unterstützen. Mit dem Knie, das zur Operation stand, laufe ich nun schon jahrelang weiter herum. Und Skifahren muss ich auch noch nicht vergessen.
Ich müsste mich also nicht fürchten.
Aber: dass ich zu schnell müde werde, zu wenig Kraft in den Händen habe, nicht so sicher auf meinen Beinen stehe, wie ich mir das vorstelle, das macht mich ungnädig mit mir, geradezu gnadenlos.
Ich will keine Schwäche haben und keine Schwäche sehen. Weg, weg, weg!
Und weil ich weiß, dass es so nicht geht, wird es eng und enger.
Angst. Jede Schwäche, jeder Schmerz könnte der Anfang vom Ende sein. Spielt sich zur finalen Bedrohung auf. Das ist der Fehler, der Mangel, die Schwäche.
Das dünne Eis, über das ich gehen muss. Tagelang. Wochenlang. Immer?
Die vielen Schrecksekunden. Die Rauchmelder, das Efeu, der Gulli, wie lange habe ich die Abbuchungen schon nicht mehr kontrolliert? – und leerer Schrecken. Der füllt sich mit Angst vor den kleinen Fehlern, die es nicht geben darf.
Die Angst vor Fehlern, die ich mir ausdenke, wo ich schon übervorsichtig war, ist schlimmer, als es die Fehler sein können.
Darf es Fehler geben?
natürlich – für alle
aber nicht für dich

26.10.2017

Zum ersten Mal ein Nebel, den die Sonne erst holen muss. Sie tut es und lässt das letzte Laub leuchten, das noch oben ist.
Oder gerade herunterkommt – mit verneinender Gebärde, natürlich.

Kein Herbst ohne den von Rilke:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, 
als welkten in den Himmeln ferne Gärten; 
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde 
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. 
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen 
unendlich sanft in seinen Händen hält. 

Hatte ganz vergessen, dass es bei Rilke so gut ausgeht. Schau mer mal.

27.10.2017

Gestern hat Yalla lange vergeblich nach dem Nachbarn geschaut, dann ist er doch noch gekommen, wie ich es ihr versprochen habe. Räumt den Garten weiter auf und packt die Gartenmöbel ein, das würde er wahrscheinlich auch blind machen. Blumentöpfe lässt er noch draußen, es ist ja wieder warm geworden, das hat vor einer Woche keiner geglaubt. Die Behälter mit dem Vogelfutter hängt er noch nicht auf, die Eichkätzchen würden es holen. Das Verteilen ist immer häufiger zu meiner Aufgabe geworden, seit ich immer hier bin.
Wir sind beide traurig darüber, dass in den letzten Jahrzehnten so viele Vögel verschwunden sind. Es waren so viel mehr! Meint mein Nachbar und schüttelt den Kopf. Er füttert schon mehr als 60 Jahre. Heute ist sein Garten eine Insel in den Maisäckern. Säcke mit Sonnenblumenkernen und Eimer voller Maisenknödel stehen auch jetzt wieder bereit. Und irgendwann werden die Säcke und Eimer bei mir stehen.
Bis zum „stummen Frühling“ –

28.10.2017

„Die langen Abende – die hat der Teufel gesehn!“ An diesen Satz meines Vaters musste ich gestern denken. Er hat ihn oft gesagt nach Muttis Tod. Verstehen konnte ich da noch nicht, wie schwer die Abende sein können. Und von morgen an sind sie noch eine Stunde länger.
Ich hätte gestern gerne mit einem Menschen gesprochen, dem ich mich nah fühle. Dafür kommen um diese Zeit nur allein Lebende in Frage. Seit Paul tot ist, sind es nur noch Frauen. Ich habe zwei telefonische Versuche gemacht, erfolglos. Niemand zuhause. Pech gehabt.
Wer redet, ist nicht tot? Gottfried Benn? Kommt, reden wir zusammen, wer redet, ist nicht tot…

Ich hätte gerne darüber gesprochen, was gerade ist: Unsicherheit, kein Gefühl mehr für ohnesinn, warum und wozu und überhaupt. Es war nicht schlecht, was ich gemacht habe, es war sogar manchmal gut. Das weiß ich jetzt. Nicht wenige haben es inzwischen gelesen. Und ich stehe da und sage: wenn es weiter gehen soll, muss es immer besser werden. Und das gerade jetzt in der schwersten Zeit meines Jahres.
Es kommt mir so vor, als hätte mein vernachlässigtes Überich seine Chance gesehen und will sich wichtig machen: du musst immer noch besser werden!
„Wenn sie wollte, könnte sie es besser.“ Sagte der Lateinlehrer zu meiner Mutter, eine Eins statt der Zwei.
Helmreich hieß er. Lebt schon lange nicht mehr. Als ich einmal so heiser war, dass ich meinen Satz nur krächzend flüstern konnte, verlangte der, als ich damit fertig war: „Und nun das Ganze noch einmal von vorne!“

Auch heute fällt mir erst mal nichts anderes ein, als zu verweigern. Das Beste? – das geb ich nicht her!

Aber mit ohnesinn hat sich mein Leben verändert: ich nehme mehr auf, lasse mehr an mich heran als früher. Als wäre da einer, mit dem ich über das reden kann, wo ich – allein – schnell abgeschaltet, weggeschaut habe, nichts genauer wissen wollte. Jetzt höre ich mehr, sehe mehr, und es ist mir manchmal zu viel. Mit dem hilflosen Wissen, welche Hoffnungen sich nicht erfüllt haben für unsere Welt. Prinzip Hoffnung und Geist der Utopie – was nehmen wir heute dafür?

29.10.2017

Die Nacht war so laut. Der Sturm kam gegen Mitternacht. Mit Ohrstöpseln hätte ich schlafen können. Ohrstöpsel und Handschuhe zum Lesen. Damit werde ich mich ausrüsten müssen.
Es sollte ein Tag sein, wo ich unter Leute gehen wollte: eine Ausstellung, eine Führung, ein Besuch. Hab mich drauf gefreut. Aber so nicht: ein Sturm tobt sich aus und Regen fliegt. Der Hund kehrt auf der Treppe um. Wir bleiben im Haus. Und es geht weiter mit Rilke:


Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. 
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, 
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben 
und wird in den Alleen hin und her 
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 

30.10.2017

Ich hab mein Über-Ich abgeschüttelt! Es wollte sich in ohnesinn drängen: du musst alles sagen! Darfst nichts für dich behalten. Wo bleibt das Ganze?!? Das Lebenswerk?
Nix da! Ich entscheide, was in die Welt geht und was nicht. Ich mache, was ich will.
Nur so kann es mir wieder die Freude bringen, mit der ich angefangen und schon ein dreiviertel Jahr gelebt habe. Und ich kann weitermachen mit ohnesinn.

Im Traum hatte mich mein palästinensischer Freund angerufen. Er wollte 40 €. Er grinste zynisch – das konnte ich sehen – und meinte, dass mir das sein Status als mein Pianist wohl einbringen würde.
Ich stehe auf mit Lust darauf, die eingefügte Palästina-Reise auf Unverständliches oder Überflüssiges durchzusehen.

31.10.2017

Zarte Blüten haben diese Nacht nicht überstanden und lassen die Köpfe hängen. Steif gefroren waren am Morgen das Gras und der Duschvorhang auf meinem Bett. Ein weißer Schimmer über allem, bis die Sonne kam. Ich habe Holz herein und Handschuhe herausgeholt. Bachmann?

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.

1.11.2017

Wenn mir die nötigen Dinge immer schwerer fallen, kriege ich Angst.
Was wird, wenn ich nichts mehr tun will. Auch das Holz nicht mehr hereinholen?
Muss ich dann mein Land verlassen?

Angst:
Vergessen ist blöd
Angst vor dem Vergessen ist noch blöder
Ärger über die Angst vor dem Vergessen ist am blödesten.
Am allerblödesten: der Ärger, wenn ich dasselbe bei anderen sehe.

2.11.2017

„Wenn es erst mal so weit ist, dann ist es auch bald vorbei.“
Gilt das Vaterwort auf für den November? Dass er anfangen muss, um vergehen zu können und vergangen zu sein? Der Anfang macht dem Warten auf den Anfang ein Ende. Und das ist gut.

Wenn ich nicht alles sagen muss, habe ich die Freiheit, alles zu sagen.
Was ich nicht muss, kann ich wollen.

Der Tag wird besser, wenn ich die andere Richtung nehme: hinten durch den Wald hinauf in die Heide, zum Panzerkessel. Das Übungsgebiet der Amerikaner nach dem Krieg, wurde der Natur überlassen, als sie wieder verschwunden waren.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de