4.-9.11.1017 – ça va? ça va?

4.11.2017

Den großen Novembermond hat Nebel verschleiert, als er hinter dem Haus verschwand.
Jeden Morgen erwarte ich das lautlose Wunder des Lichts. Das Auftauchen der Farben an der Birke, der Buche, dem Ahorn, der Eiche. Noch leuchten sie.
Wenn alle da sind, stehe ich auf.

Es war der erste Sommer ohne Rotkehlchen am Bett und mein erster Herbst ohne Winteräpfel, weil die frühe Blüte im späten Frost erfroren ist.
Auch die Zaunkönige bleiben im Winter bei uns.

Wieder ein Überfall mit Toten bei Timbuktu.
Und Mamadou braucht Geld. Wie könnte es anders sein. Wie kann es anders werden?
Dreimal hintereinander schickt er die Meldung, dass kein Essen mehr im Haus ist. Als ich wegen der Transaktionsnummer anrufe, sage ich, ich würde ihm schreiben.
Wieviele Briefe habe ich schon geschrieben und wieviele nicht. Als ich noch geschrieben habe – und das ist nicht leicht für mich, wenn ich verstanden werden will, ich muss ja nicht nur die Wörter übersetzen – hatte ich die Hoffnung, mich verständlich machen und können. Und Mamadous Antworten schienen das zu bestätigen. Alles verstand er. Und immer wieder Dank und gute Wünsche. Aber nichts, gar nichts hat sich geändert. Er lebt, als hätte er selbst genug Geld für die Dinge, die ich als Luxus verstehe: das Fest zur Taufe für 500 €! Und an der Ausstattung der Kinder für die Schule hat er sicher nicht gespart. So etwas wie sparen kennt er wahrscheinlich gar nicht. Womit hätte er es auch lernen sollen.

5.11.2017

„Du musst aufschreiben, was du dir merken willst!“ sagte eine Freundin, als ich von den Löchern im Kopf sprach und meiner Angst davor, in diese zu fallen.
Aber es ist doch das Selbstverständliche, das einfach weg ist. So weg, als wäre es nie da gewesen. Merke ich natürlich erst, wenn es wieder auftaucht.
Einmal erschrecke ich wirklich: ich habe beim Marmelademachen das Sterilisieren der Gläser einfach ausgelassen. Das war etwas Neues.
Meine Freundinnen raten zum Zettelschreiben.
Soll ich aufschreiben: tu Zahnpasta auf die Bürste?? Und was dann noch alles?
Wenn ich daran denke, auf den Zettel zu gucken, weiß ich auch, was ich geschrieben habe.
Mit dem Zettelschreiben hab ich es sowieso nie gehabt.
Dabei schreiben so viele Menschen Zettel, sie leben damit. So auch die Freundin, mit der ich aufs Gymnasium gegangen bin. Wir beide waren Außenseiterinnen in der Klasse: Flüchtlingskind und Tätertochter. Man solle auf uns Rücksicht nehmen, hätten Lehrer gesagt. Das hörte ich beim einzigen Klassentreffen, da waren wir vierzig.
Als die Freundin mich besuchte, legte sie den Zettel mit allen ihren Vorhaben für diesen Besuch in unserer Stadt, wo sie schon lange nicht mehr lebt, auf meinen Küchentisch, kontrollierte ihn, schaute mich kurz an und strich meinen Namen entschlossen durch.
Da wusste ich mal wieder, warum ich Zettel nicht mag.
Es kommt vor, dass ich behaupte, dass es etwas nicht gegeben hat. Es ist weniger vergessen als verschwinden. Nicht da und nicht gewesen. Unglaublich.

6.11.2017

Idrissa hat sich sich wieder gemeldet. Ich rufe zurück, versuche eine billige Nummer, nachdem ich meine Telefonrechnung gesehen habe, die funktioniert nicht. Also die übliche Nummer. Ich kann Idrissa nicht verstehen. Er klingt aufgeregt und ich ahne nach dem: ça va? ça va?  Etwas wie malade. Ach so. Aber wer und wie und warum? Ich bitte ihn, ganz langsam zu sprechen, aber es bleibt gestört. Ich sage, dass ich später noch einmal anrufen werde, und lege auf.
Auch später bleibt nur die Telekom, wenn ich Idrissa verstehen will. Also: er war drei Tage im Krankenhaus, weil ihn ein Kamel getreten hat. Und das Krankenhaus sei das Problem. Ich sage: ich weiß. Und jetzt weiß er nicht, was er machen soll ohne Geld. Ich frage, ob es ihm helfen würde, wenn ich 100 € schicke? „Das wäre eine gute Idee!“ sagt er und seine Stimme klingt wieder froh. Ob er laufen kann? Ein bisschen. Das Bein ist nicht gebrochen. Ich wünsche ihm gute Genesung und bestelle Grüße an seine Familie.
Dann gebe ich jetzt mal die Zahlen durch.

Ich stelle mir vor, wie Idrissa auf einer Düne steht, weil die Verbindung da besser ist, und dann – nach dem ça va? und ça va? in die Hocke geht, um die Zahlen, die ich bemüht deutlich spreche, in den Sand zu schreiben. Dann wiederholt er sie genauso langsam und deutlich. Alles stimmt. Es wäre zu umständlich, Papier und Big aus der kleinen Tasche herauszuholen, die er immer um den Hals gehängt unter dem Boubou trägt. Das wird er nach dem Telefonieren machen.

7.11.2017

Als ich heute aufgewacht bin, waren die Farben schon da. Und wie. Satt durch den Regen. Ich bleib noch im Bett, um zu schauen.

Wenn ich mir einen Menschen denken kann – aber nicht jeden, er muss mir lieb und wichtig sein – dann fällt es mir auf einmal leicht, etwas dafür zu tun, dass mein Land bekommt, was es braucht. Wenn ich allein davor stehe, mich nur allein sehe, sind mir die Arme oft zu schwer. Ich lasse sie sinken und habe Angst, dass mir alles über den Kopf wächst.
Mein Freund, der Oberförster, kommt.
Er ist mein ältester Freund und kommt mich wieder besuchen. Ich habe so viele Fragen. Es sind so viel mehr geworden, seit ich mit ohnesinn lebe. Er soll mir mein Land erklären. Ich werde mit ihm den Weg gehen, den ich heute wieder mit dem Hund gegangen bin und wo ich mich gefragt habe: warum ist das so?

8.11.2017

Klimakonferenz in Bonn. Es ist gar nicht mehr möglich, irgendetwas nicht zu wissen. Warum die Bewegungen von Luft und Wasser so maßlos sind, wenn die Erde wärmer wird. Ich werde mich nicht mehr wundern, wenn Bäume umgerissen werden. Wo der Tornado 2013 die hohen Fichten geholt hat, drängen sich jetzt kleine Birken und Ahornbäume. Die Natur könnte soviel verzeihen.
Aber es sind doch immer noch dieselben Menschen, die die Energien in die Welt schicken, die – wie es ihre Natur ist – ihren Weg suchen.
Klimaflüchtlinge folgen Kriegsflüchtlingen und „Wirtschaftsflüchtlingen“. Und wer will sie haben?
Ich bewundere jeden, der Kraft und Hoffnung hat, um für Veränderungen zu kämpfen.

Als ich dann den Rechner aufmache und die Mails lese, finde ich wieder zwei von Mamadou, von gestern Abend und heute Morgen: sein Junge kann wieder vor Husten nicht mehr schlafen. Sie haben die Medikamente weggelassen, weil sie dachten, sie wären nicht mehr nötig. Jetzt war er mit dem Kind im Hospital und braucht Geld. Dazu schreibt er eine Abrechnung über die Dinge, die er für diesen Monat gekauft hat, Hirse, Reis, Fleisch… Damit waren 100 € fast weg. Und das Versprechen, dass er in diesem Monat nichts mehr will.
Inzwischen die dritte Mail. Ob ich die beiden ersten bekommen hätte.

9.11.2017

Wie ich mich auf den Besuch freue! Ich finde es wunderbar, wie eine Geschichte so lange leben kann. Verwirrend ist es, dass ich mir dabei so jung vorkomme. Als wäre mein Selbstbild nicht mitgewachsen. Stehen geblieben am Anfang. Ich sehe mich auf den Mann zulaufen, wenn er auf meinem kleinen Bahnhof aus dem Zug steigt, und in einer Umarmung landen. Und ich weiß genau, wie es sein wird: der große Mann mit den schneeweißen Haaren schaut sich um und ich erschrecke. Ja: so alt bin ich. Mein Spiegel. Dann gehen wir langsam, fast vorsichtig aufeinander zu und fangen an zu reden.

Ich hoffe, dass keine Maus mehr in meinem Auto wohnt. Mäuse auf Rädern. Zwei sind inzwischen in die Falle gegangen. Als ich die zweite herausholte, erzählten sie im Radio gerade vom Rattenfänger von Hameln. Die Falle muss bleiben. Es können jederzeit neue Mäuse kommen.
Bin gespannt, was mein Oberförster dazu sagt.

Ich habe sogar Lust zu kochen. Hoffentlich verderbe ich es nicht.

Unsere Nachrichten berichten kaum mehr von Syrien. Manchmal zeigen sie die Zerstörung, manchmal ist von Friedensgesprächen die Rede, dann wieder Tote.
Wenn es einen Frieden gäbe, so wäre es derselbe, aus dem ein Krieg entstanden ist. Mit Assad 2.

Als ich Syrien und seine Plakate mit dem riesigen Kopf von Assad 1 wieder verlassen hatte, wollte ich vor der Rückkehr nach Israel und Jerusalem noch die älteste Karte von Palästina sehen. Sie liegt in Madaba.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de