Umberto Eco: Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana (Illustrierter Roman) |
Umberto Eco:
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Inhaltsangabe:Am 25. April 1991 erwacht der neunundfünfzigjährige Mailänder Bücherantiquar Giambattista ("Yambo") Bodoni aus dem Koma, in das er nach einem Herzinfarkt gefallen war. An seinem Bett steht der behandelnde Arzt.
"Ich bin Doktor Gratarolo. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle. Wie viele Finger zeige ich Ihnen hier?" Bodoni weiß, dass er den Namen eines berühmten Typografen trägt: Giambattista Bodoni (1740 - 1813). Aber er muss erst von Dr. Gratarolo darüber aufgeklärt werden, dass er seit dreißig Jahren mit einer Psychologin verheiratet ist. Und von seiner Ehefrau Paola erfährt Bodoni, dass sie sich vor fünfunddreißig Jahren an der Universität Turin kennen lernten. Ihre gemeinsame Tochter Carla hat zwei Kinder – den fünfjährigen Alessandro und den zwei Jahre jüngeren Luca –, und Nicoletta, ihre andere Tochter, ist die Mutter eines Dreijährigen mit Namen Giangio. Bodini fragt sich, wieso er seine nächsten Angehörigen nicht erkennt, jedoch ohne weiteres seine Zähne putzen kann und sich offenbar an vieles Gelesene erinnert. "Ich wusste alles über Alexander den Großen, aber nichts über meinen kleinen Alessandro." (Seite 25) Dr. Gratarolo sagt dazu: "Sie haben nicht das semantische Gedächtnis verloren, sondern das autobiografische, das Gedächtnis an die Episoden Ihres Lebens." (Seite 17) Als seine Frau ihn vom Krankenhaus abholt und nach Hause bringt, wundert Bodini sich darüber, dass er nicht ahnt, was als Nächstes kommt. Geduldig erklärt ihm seine psychologisch geschulte Ehefrau: "Wir leben in den drei Zeitstufen der Erwartung, der Aufmerksamkeit und der Erinnerung, und keine davon kann auf die andere verzichten. Du kannst dich nicht in die Zukunft wenden, weil du deine Vergangenheit vergessen hast." (Seite 35)
Schließlich erfährt Bodoni, dass er Literaturwissenschaften studierte, mit einer Arbeit über Hypnerotomachia Poliphili promovierte und in Mailand ein Antiquariat für seltene Buchausgaben führt, auf das während seiner Abwesenheit seine aus Polen stammende Assistentin Sibilla Jasnorzewska schaute. Bodoni sucht sein Geschäft auf. Der Anblick Sibillas erregt ihn, und er fragt sich, ob er mit ihr eine Affäre hatte. Sicherheitshalber erkundigt er sich bei Gianni Laivelli, mit dem er – wie er inzwischen erfahren hat – seit der Schulzeit befreundet ist. Laivelli versichert ihm, er habe nie etwas von einem Verhältnis zwischen ihm und seiner Assistentin mitbekommen, aber Bodoni argwöhnt daraufhin, seine Beziehung mit Sibilla könne so ernst gewesen sein, dass er nicht einmal seinen besten Freund eingeweiht habe. Ich bin dort geboren, aus Versehen, in den Weihnachtsferien des Jahres 1931. (Seite 38)
Bei seiner Geburt waren die Eltern seiner Mutter bereits tot, und seine andere Großmutter starb, als er fünf Jahre alt war. Der Großvater besaß ein Antiquariat, aber keines mit wertvollen, sondern eines für gebrauchte Bücher. Der Vater war Direktor in einer Import-Firma in Mailand, aber die Schulferien verbrachte Yambo Bodoni in Solara, und als in Mailand die Bomben fielen, wohnte er von 1943 bis 1945 ununterbrochen im Haus seines Großvaters. Die Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als Yambo und seine jüngere Schwester Ada noch nicht erwachsen waren. Ada heiratete mit achtzehn und ging mit ihrem Mann nach Sydney. "Jawohl! Ich werde Soldat sein, ich werde kämpfen, und wenn Italien es will, werde ich sterben für seine neue, heroische, heilige Kultur, die der Welt Wohlstand bringen wird und die nach Gottes Willen in Italien Wirklichkeit geworden ist." (Seite 231)
Glaubte er an den Faschismus, oder tat er nur so, um gute Noten zu bekommen? Ich schlug das Heft auf und vertiefte mich in die fadeste, dümmste Geschichte, die je ein menschliches Hirn sich hatte ausdenken können. Es war eine roh zusammengehauene Erzählung, die in allen Scharnieren klapperte, die Geschehnisse waren repetitiv, die Leute entbrannten grundlos in plötzlicher Liebe [...] (Seite 278)
Königin Loana bewahrt durch eine geheimnisvolle Flamme ihre Jugend, während sie zweitausend Jahre lang über einen afrikanischen Stamm herrscht. Damit ist es vorbei, als bei irgendeiner Katastrophe die Flamme erlischt. Ich fühlte mich verwirrter als zu Beginn meiner Suche. Vorher hatte ich wenigstens keine Erinnerungen gehabt, es war die absolute Leere gewesen. Jetzt erinnerte ich mich noch immer nicht, aber ich hatte zu viel gelernt. (Seite 238) Als Bodoni in einer Kiste auf dem Dachboden auf eine äußerst seltene Shakespeare-Ausgabe aus dem Jahr 1623 stößt, bricht er vor Aufregung mit einem weiteren Herzinfarkt zusammen. Wie kommt es, dass ich mich plötzlich an all das erinnere? Wo bin ich? Ich wechsle von nebulös verschwommenen Panoramen zu überscharf klaren Bildern häuslicher Szenen und sehe eine große souveräne Ruhe. Aber nichts davon ist außer mir, alles ist in mir drinnen. Ich versuche, einen Finger zu bewegen, eine Hand, ein Bein, doch es ist, als hätte ich keinen Körper. Als schwömme ich im Nichts und schwebte über Abgründen, die sich zu Abgründen öffnen. (Seite 341) In dem erneuten Koma lebt Bodoni in seinen Erinnerungen: Er ist wieder der kleine Junge, der ein Schwesterchen bekommt und macht noch einmal die Zeit der Partisanenkämpfe mit. Zwischendurch stellt er sich vor, dass Paola, Carla, Nicoletta und Dr. Gratarola an seinem Bett stehen und beratschlagen, ob sie die Geräte abschalten sollen oder nicht (Sterbehilfe). |
Buchbesprechung:Witzig und einfallsreich schildert Umberto Eco in "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana" zunächst das Erwachen des Protagonisten aus dem (ersten) Koma. Die Gedanken des Mailänder Antiquars sind mit Zitaten durchflochten. Sobald Giambattista Bodoni sich in seinem Geburtshaus auf Spurensuche begibt, wird der Roman vollends zur Collage aus Zitaten, Bezügen und Abbildungen. Da mein Held sein persönliches Gedächtnis verloren hat, muss er versuchen, es anhand objektiver Materialien zu rekonstruieren – und die hat er mit seiner ganzen Generation gemein. (Umberto Eco in einem Interview)
Giambattista Bodoni versucht, sein autobiografisches Gedächtnis wieder aufzufüllen und seine Identität zurückzuerlangen.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Gedächtnisverlust, Amnesie |