Michel Houellebecq: Karte und Gebiet (Roman) |
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet |
Inhaltsangabe:
Jed Martin ist der Sohn des Pariser Bauunternehmers Jean-Pierre Martin und dessen Ehefrau Anne. Die Mutter stammte aus einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie; ihr Vater betrieb ein kleines Juweliergeschäft in Paris. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren heiratete sie den sieben Jahre älteren Architekten Jean-Pierre Martin. Mit vierzig, kurz vor dem siebten Geburtstag ihres Sohnes, nahm sie sich das Leben [Suizid]. "Das ist ein guter Autor, wie mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes Bild unserer Gesellschaft."
Obwohl Jed seit Jahren mit Frédéric Beigbeder keinen Kontakt mehr hatte, bittet er den koksenden Schriftsteller, sich bei Michel Houellebecq für ihn zu verwenden. "Ja, es stimmt, ich empfinde nur wenig Solidarität mit der menschlichen Gattung [...] Ich muss sogar sagen, dass mein Zugehörigkeitsgefühl zu den Menschen mit jedem Tag ein wenig abnimmt."
Einige Zeit später besucht Jed den Schriftsteller ein drittes Mal. Der ist inzwischen in das Haus seiner Großmutter im Dorf Suppes im Departement Loiret gezogen. Weil Houellebecq den Abgabetermin nicht einhalten kann, wird die Ausstellung auf Dezember verschoben.
"Schon seit langem wird der Kunstmarkt von den reichsten Geschäftsleuten der Welt beherrscht. Und heute haben sie zum ersten Mal die Gelegenheit, nicht nur etwas zu kaufen, was vom ästhetischen Gesichtspunkt an der Spitze der Avantgarde steht, sondern noch dazu ein Bild, das sie selbst darstellt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Angebote ich von Geschäftsleuten oder Industriellen bekommen habe, die sich von dir porträtieren lassen wollen. Wir sind in die Epoche der Hofmalerei des Ancien Régime zurückgefallen … also, ich will damit nur sagen, dass im Moment verdammt großer Druck auf dich ausgeübt wird. hast du noch immer die Absicht, Houellebecq sein Porträt zu schenken?"
Mit seinem Vater trifft Jed sich diesmal zu Weihnachten nicht in der Villa in Le Raincy, sondern in einem Restaurant. Jean-Pierre Martin leidet inzwischen unter Darmkrebs. Der Kopf des Opfers war unverletzt. Sauber abgetrennt ruhte er auf einem Sessel vor dem Kamin, eine kleine Blutlache hatte sich auf dem dunkelgrünen Samt gebildet; auf dem Sofa ihm gegenüber, lag der Kopf eines großen schwarzen Hundes, der ebenfalls sauber abgetrennt war. Der Rest war ein einziges Blutbad, ein unglaubliches Gemetzel, der Fußboden war mit Fleischbrocken und Hautfetzen übersät. Doch weder das Gesicht des Mannes noch das des Hundes war in einem Ausdruck des Entsetzens erstarrt, sie spiegelten eher Ungläubigkeit und Wut wider. Zwischen den vermischten Fleischstücken des Mannes und des Hundes führte ein fünfzig Zentimeter breitet sauberer Gang bis zum Kamin, in dem sich Knochen stapelten, an denen noch Fleischreste hingen.
Der Tatort wird Quadratmeter für Quadratmeter möglichst senkrecht von oben fotografiert. Michel Houellebecq und sein Hund wurden offenbar zunächst mit einem Baseballschläger oder ähnlichem betäubt und dann mit jeweils einem einzigen Schuss aus nächster Nähe getötet. Zum Zerstückeln benutzte der Mörder seltsamerweise einen teuren Argon-Laser wie er von Chirurgen im Krankenhaus bei schwierigen Amputationen eingesetzt wird. Der Gerichtsmediziner schätzt, dass der Mörder damit über sieben Stunden zu tun hatte. Zwei Scheidungen und ein Kind, das er aus den Augen verloren hatte. Er hatte seit über zehn Jahren keinerlei Kontakt mehr zu seiner Familie. Liebesbeziehungen hatte er offensichtlich auch nicht. Jasselin kommt zu dem Schluss, dass es sich um einen "verdammt eingebildeten Kerl" gehandelt haben müsse. Aber Ferber widerspricht ihm: "Da tust du ihm unrecht. Er war kein schlechter Schriftsteller, weißt du."
Guillaume Lorrain, ein einfacher Kriminalobermeister mit fotografischem Gedächtnis, dem Jasselin und Ferber Fotos von der Beerdigung auf dem Friedhof Montparnasse nicht weit vom Grab Emmanuel Boves vorlegen – Houellebecqs Überreste passten in einen Kindersarg – erkennt unter den Trauergästen den Künstler Jed Martin. Der Raum von zwanzig mal zehn Metern war an allen vier Wänden mit zwei Meter hohen Glasschränken möbliert. Im Inneren dieser Schränke reihten sich, von Spots beleuchtet, in regelmäßigen Abständen abscheuliche menschliche Schimären aneinander. Oberkörper mit darauf verpflanzten Geschlechtsorganen, Nasen, die mit den winzigen Armen von Föten rüsselförmig verlängert waren [...] All diese Gebilde waren durch Konservierungsmethoden, die den Beamten unbekannt waren, so gut erhalten, dass sie unerträglich realistisch wirkten.
Ein junger Kriminalmeister entdeckt in der Villa des perversen Arztes das Gemälde "Michel Houellebecq, Schriftsteller". Etwa um die gleiche Zeit begann er Fotos von allen Menschen, die er gekannt hatte, abzufilmen, von Geneviève, Olga, Franz, Michel Houellebecq, seinem Vater und anderen – tatsächlich allen, von denen er Fotos besaß. Er heftete sie an eine neutral graue, wasserdichte Leinwand, die auf einen Metallrahmen gespannt war, filmte sie direkt vor seinem Haus und überließ sie diesmal dem natürlichen Verfall. Die Fotos, die der abwechselnden Einwirkung von Regenschauern und Sonnenlicht ausgesetzt waren, wellten sich, verwitterten, rissen in Stücke und waren nach ein paar Wochen zerstört. Noch erstaunlicher war es, dass er kleine Spielfiguren erwarb, schematische Darstellungen menschlicher Wesen, die er der gleichen Behandlung unterzog. Die Figuren waren widerstandsfähiger, und er musste, um ihren Verfall zu beschleunigen, wieder seine Säureflaschen benutzen.
Als Jed nach zehn Jahren erstmals wieder ins Dorf kommt, staunt er: Es ist dreimal größer geworden. Die Einheimischen sind verschwunden, und die Zugezogenen aus der Stadt haben nicht nur in Châtelus-le-Marcheix, sondern auch in der Umgebung alles verändert. Ein geostationärer Satellit sorgt für schnelle Internetverbindungen. Asiatische Unternehmer bieten regionale Besonderheiten an, die seit einiger Zeit hoch im Kurs stehen. Frankreich ist nach mehreren Weltfinanzkrisen inzwischen zum bevorzugten Reiseziel des Sextourismus in der Welt geworden. "Ich will die Welt darstellen … ich will ganz einfach die Welt darstellen …" Und er erzählt ihr von einer Reise ins Ruhrgebiet, die er vor dreißig Jahren anlässlich einer Retrospektive seiner Werke unternahm. Von Duisburg bis Dortmund und von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte veranstaltet wurden, und gleichzeitig bemühten sich die Kulturinstanzen, einen industriellen Tourismus ins Leben zu rufen, der die Nachbildung der Lebensweise der Arbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Rahmen hatte. Tatsächlich glich die ganze Gegend mit ihren Hochöfen, Abraumhalden, stillgelegten Bahngleisen, auf denen Güterwagen endgültig verrosteten, und Siedlungen mit blitzsauberen, identischen kleinen Häusern, die manchmal über einen kleinen Gemüsegarten verfügten, einem Museum für das erste Industriezeitalter in Europa. Jed war damals beeindruckt von den bedrohlich dichten Wäldern, die nach knapp hundert Jahren der Untätigkeit die Fabriken umgaben. Nur jene, die ihrer neuen kulturellen Bestimmung angepasst werden konnten, waren saniert worden, die anderen verfielen allmählich. Diese industriellen Kolosse, in denen sich früher der Großteil der deutschen Produktionskapazität konzentriert hatte, waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel. |
Buchbesprechung:
In "Karte und Gebiet" erzählt Michel Houellebecq zunächst vom Aufstieg, dann von der Vereinsamung und dem körperlichen Verfall eines Künstlers. Dieser zentralen Figur Jed Martin steht die Romanfigur des Schriftstellers Michel Houellebecq gegenüber. Bemerkenswert ist die Selbstironie, mit der Michel Houellebecq sich in den beiden einander ähnlichen Charakteren spiegelt. Dem Autor gelingt in diesem Buch das Unwahrscheinliche, den zeitgenössischen Kunst- und Marktbetrieb, den keine Finanzkrise zu bremsen vermag, in seinem ganzen Wahnsinn zu zeigen und doch nie in die Karikatur verfallen. Hinter aller Groteske der Rituale, Diskurse und Verkaufszahlen steht immer ein Kern Authentizität. (Joseph Hanimann, Süddeutsche Zeitung, 8. September 2010)
Michel Houellebecq veranschaulicht die Marktmechanismen des kapitalistischen Kulturbetriebs und demonstriert damit dessen Sinnlosigkeit. "Karte und Gebiet" ist ein Abgesang auf die Kunst, ein grotesker Künstlerroman. Nach zwei Dritteln mutiert das Buch darüber hinaus zu einer Parodie auf das Genre des Thrillers. Er wandte sich von der analogen Fotografie ab, die er bisher ausschließlich praktiziert hatte, und kaufte ein BetterLight-6000-HS-Scanrückteil, das es erlaubte, 48-Bit-Dateien im RGB-Modus mit einer Auflösung von 6000 x 8000 Pixeln zu erstellen. Joseph Hanimann zeigt sich von "Karte und Gebiet" begeistert: La Carte et le Territoire (Flammarion) ist ein großer Wurf, sein bisher bester Roman. Michel Houellebecq hat Stoffe, er hat eine unverwechselbare Sicht auf die Welt, er hat einen Stil, und in diesem Buch beweist er zum ersten Mal auch kompositorisches Geschick. (Joseph Hanimann, a.a.O.)
Für "Karte und Gebiet" wurde Michel Houellebecq mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone |