Robert Menasse: Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust (Roman) |
Robert Menasse: Don Juan de la Mancha
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Inhaltsangabe:Als Nathan sechs Jahre alt war, verließ sein Vater ihn und die Mutter. Sein Vater, der als Gesellschaftsredakteur für eine Zeitung in Wien tätig war, nahm ihn weiter mit auf Reisen, wenn er von einem Hotelbesitzer, der auf einen werbewirksamen Artikel spekulierte, eingeladen wurde. So wie ihr geschiedener Mann eine Frau nach der anderen hatte, ließ sich auch Nathans Mutter auf Liebesaffären ein, aber sie suchte dabei nach einem neuen Ehemann. Einer, dem sie den Spitznamen "Killer" gegeben hatte, starb bei einer Messerstecherei in einem Wiener Vorstadtcafé. Der Reitlehrer Philipp kam ums Leben, als er durch Wien ritt, das Pferd scheute und ihn gegen eine entgegenkommende Straßenbahn schleuderte. Große Hoffnungen setzte die Mutter auf den Diplomkaufmann Hermann Hollmann, nicht zuletzt, weil er einen Sohn in Nathans Alter hatte. Nathan konnte Harald allerdings nicht ausstehen. Ich konnte meiner Muter alles sagen, er musste seinem Vater alles verschweigen und dann gestehen. Ich sollte glücklich sein. Er sollte perfekt sein. (Seite 97) Hollmann war ein Angeber. Er bestellte Hummer. Aber genoss ihn nicht. Es war eine Werbemaßnahme: Meine Mutter sollte sehen, was er ihr bieten konnte, und dann demonstrierte er Hummerverzehr-Kenntnis. Wenn meine Mutter kicherte beim Versuch, eine Hummerschere zu knacken, lächelte er gequält. Und doch irgendwie stolz – er hatte sie in eine fremde Welt entführt und beeindruckt. (Seite 94)
Bei einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen liefen die beiden Jungen voraus, und obwohl sie gut angezogen waren, überredete Nathan Harald, sich mit ihm über einen Hang hinunterzuwälzen. Als die Erwachsenen nachkamen und Hollmann sah, dass sein Sohn sich schmutzig gemacht hatte, gab er ihm eine Ohrfeige. Daraufhin verließ Nathans Mutter auf der Stelle ihren Liebhaber, denn sie vermutete, dass er auch ihren Sohn schlagen würde. Ein paar Wochen später wurde Hermann Hollmann "zu Gott gerufen". Mir war das jedenfalls recht. Ich hatte ja selbst keine Erfahrung. Ich hatte vor, in der Zeit, die Helga noch brauchte, eine Art Schnellkurs zu buchen, um nicht gleich beim ersten Mal bei meiner ersten Freundin völlig ahnungslos zu sein und womöglich zu versagen. (Seite 35)
Seine erste sexuelle Erfahrung machte Nathan also nicht mit Helga, sondern mit Barbara Hader, der dreißigjährigen Sekretärin seines Professors. Eine Woche später war Helga dann auch so weit.
Wir fanden gleich nach der Autobahnausfahrt ein preisgünstiges Hotel. Martina ging ins Bad. Ich begann einen Joint zu drehen. Martina kam aus dem Bad, sah, was ich tat, riss mir den Joint aus der Hand, raffte alles an sich, was an Stoff da war und vor mir auf dem Tisch lag, rannte ins Bad, ich lief ihr nach, sie warf es ins Klo, spülte. Als Nathan plötzlich Fieber bekam, suchte Martina im Telefonbuch nach einem Arzt, der auch Hausbesuche durchführte. Ein Wunderheiler: Der Arzt befreite mich von meiner Frau, und ich war gesund. Martina bekam mit diesem Doktor vier Kinder und wurde glücklicher, als sie es mit mir je geworden wäre. (Seite 73)
Am Institut für Publizistik freundete sich Nathan mit zwei Kommilitonen an: Franz Vesely und Alice Kranzelbinder. Mit Alice hatte er auch ein Liebesverhältnis, und eines Tages merkte er, dass die Freundschaft von Franz und Alice ebenso wenig platonisch war. Einmal gingen sie zu dritt ins Bett. Dann kam der Tag, an dem Alice sie beide stehenließ und mit dem Kunststudenten Bormasin nach Paris zog. Alles Psychologie. Nur wenn wir eine Zeitung für die Jungen machen, bedienen wir die Alten. Weil: Sie wollen haben, was die Jungen haben, sie wollen beweisen, dass sie noch jung sind, mithalten können, und sie wollen wissen, was man braucht, um jung zu sein. Und sie können es sich leisten. Sie haben ja selbst gesagt: sie haben das Geld. (Seite 113) Da begriff Nathan, dass er zum falschen Zeitpunkt jung gewesen war: Als ich jung war, war das Glück alt. In der Werbung gab es nur Alte. Alle möglichen Formen des Glücks wurden von graumelierten oder weißhaarigen Männern in der Reife ihrer Jahre beglaubigt, saubere Wäsche, aromatische Kaffees, heiterer Alkoholismus [...] Als ich endlich vorrückte zur Möglichkeit, Teilhaber des Glücks zu ein, waren alle Glücklichen, die das Glücklichsein in der Werbung ausstellten, dreißig Jahre jünger. (Seite 9f)
Margit Reiter, Steffi Slama und Niki Nosseck blieben für Nathan Episoden. Bei einem Gastvortrag von Alfred Sohn-Rethel über "Das Ideal des Kaputten" lernte er Beate kennen, die er zunächst für die Garderobenfrau hielt, weil sie auf einem Stuhl hinter dem Garderobentisch saß. Aber sie hatte Philosophie studiert, über "Warenform und Denkform" promoviert. Obwohl sie zunächst infolge einer Pilzinfektion in der Vagina nach Mottenkugeln roch, kamen sie sich näher. Nathan zog bei ihr ein, und im April 1990 heirateten sie. Ziel der zweitägigen Hochzeitsreise, die Beate mit einer Dienstreise verband, war Mailand. Strebsam verfolgte sie ihre Karriere, übernahm die Leitung der Marketingabteilung und dann die Geschäftsführung von Inditex Österreich. Nathan rückte immerhin in die Chefredaktion seiner Zeitung auf. Nach acht Ehejahren konnten sie sich ein Haus in Groß-Schweinskreuz kaufen.
Wir gehen essen – eine Gruppe von Freunden. Christa geht aufs Klo, eine Minute später gehe ich aufs Klo. Damen. Die Tür ist angelehnt. Christa sitzt auf der Klomuschel, ich stelle mich vor sie, sie nimmt meinen Schwanz in den Mund [...] Nur ganz kurz. Es ist kein Akt. Nur eine Szene [...] Es ging nicht um das Vergnügen, es zu tun, sondern um das Vergnügen, dann bei Tisch zu wissen, dass wir es getan haben. Christa grinst. Inzwischen reden [Christas Ehemann] Georg und die anderen über Wettbewerb. (Seite 11f) Christa bedauerte, dass sie nur Chili zur Hand hatte; die alten Griechen hätten es mit frischem Meerrettich gemacht, behauptete sie. Obwohl Nathan zu der ersten Generation gehörte, die durch die sexuelle Revolution von 1968 von der Pubertät an frei war und er nun neben der karrieregeilen Ehefrau eine perverse Geliebte hatte, stellte er fest, dass er – im doppelten Sinn des Wortes – keine Lust mehr hatte ... [...] in einer Gesellschaft, die nicht einmal einen Liter Mineralwasser verkaufen kann, ohne diese Ware erotisch zu besetzen. (Seite 8)
Im dreizehnten Jahr seiner zweiten Ehe begann er deshalb eine Therapie bei Dr. Hannah Singer, einer dicken, herrischen Psychotherapeutin mit fragwürdiger Kompetenz. |
Buchbesprechung:
Der Don Juan, den uns Robert Menasse hier vorstellt, benötigt für die Auflistung seiner Geliebten kein Leporello. Obwohl Nathan 1968 ein Kind war, also zu der ersten Generation gehört, die von der sexuellen Revolution befreit wurde, hat er keine Lust mehr, denn "in einer Gesellschaft, die nicht einmal einen Liter Mineralwasser verkaufen kann, ohne diese Ware erotisch zu besetzen" (Seite 8), ist die Sexualität zum Zwang geworden. (Das erinnert ein wenig an Michel Houellebecq: "Ausweitung der Kampfzone".) Gegen die Überbewertung der Sexualität und die eigene Lustlosigkeit führt der verunsicherte, melancholische Protagonist, bei dem man an Woody Allen denken muss ("Der Stadtneurotiker"), einen aussichtslosen Kampf – so wie dereinst Don Quijote de la Mancha gegen Windmühlenflügel gekämpft hatte. Der Titel des Romans von Robert Menasse lautet denn auch: "Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust". Er hatte einen Traum, den er – nein! Warum schreibe ich plötzlich in der dritten Person? (Seite 100)
Robert Menasse entwickelt die Handlung nicht linear, sondern springt mit leichter Hand in der Chronologie vor und zurück. Neben satirischen und tragikomischen Szenen sorgen pointierte Beobachtungen, witzige Formulierungen und ein ironischer Unterton für ein besonderes Lesevergnügen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009 |