Anna Mitgutsch: Abschied von Jerusalem (Roman) |
Anna Mitgutsch: Abschied von Jerusalem |
Inhaltsangabe:
Hildegard hat zwei "arische" Großväter und väterlicherseits eine ebenfalls "arische" Großmutter. Bei der anderen Großmutter wuchs sie in der Nähe von Wien auf; sie hieß eigentlich Rivka, aber alle nannten sie Beatrice. Dass sie Halbjüdin war, fand die Familie nämlich peinlich. Rivkas aus Böhmen stammender, nach Wien verzogener Vater hatte nach dem frühen Tod seiner ersten Frau, Rivkas Mutter, eine Katholikin geheiratet und den Namen seiner jüdischen ersten Ehefrau aus dem Stammbaum getilgt.
Man hätte mir jedes beliebige Elternpaar unterschieben können, so gleichgültig waren sie mir, der Vater ein ausgezehrter Kriegsheimkehrer mit grauem Gesicht, die Mutter ein rothaariges Mädchen, das meine Gegenwart in Verlegenheit brachte. Auch nach der Hochzeit wohnte ich bei meinen Großeltern, die Eltern holten mich an Wochenenden, ich war ihr Sonntagsgast. Ob sie aus einer Mischehe stamme, wird Hildegard später einmal gefragt. Sie antwortet: Schlimmer noch, aus einer Familie, die sich ihrer jüdischen Wurzeln schämte und sich zugleich schuldig fühlte, sie verleugnet zu haben. (Seite 147)
Als Hildegard sieben Jahre alt war, starb ihr Großvater, ein biederer katholischer Jurist, fünf Jahre später ihre Großmutter. Kurz vor dem Tod bekannte Rivka sich zum Judentum, lehnte die Letzte Ölung ab und verlangte ein jüdisches Begräbnis mit Kaddisch. Aber die Hinterbliebenen ignorierten diese Wünsche, und am Grab versicherte der Priester, die Verstorbene sei mit Gott versöhnt entschlafen. – Erst nach dem Tod ihrer Großmutter wohnte Hildegard bei ihren Eltern. In meiner Jugend hatte ich eine Zeitlang den Wahn, die beiden Seiten miteinander versöhnen zu müssen, aber für eine Versöhnung war zu viel Unverzeihliches geschehen. (Seite 147)
Auf der Suche nach der seit 1940 verschollenen Martha spürte Dvorah eine Frau auf, der die Cousine ihrer Großmutter noch einen Brief nach Jerusalem geschickt hatte. Frieda Lipkin hatte in Israel den Namen Channa angenommen. Dvorah reiste mit ihrem Ehemann Alwin, mit dem sie seit einem Jahr verheiratet war, von Wien nach Israel, aber Channa wusste auch nichts über den Verbleib ihrer früheren Freundin. Nur das Unrecht der Juden in Palästina, dem Land, das sie sich widerrechtlich angeeignet hätten, konnte ihn von seinem niemals eingestandenen, bedrückend gegenwärtigen Schuldgefühl erlösen [...] sieh dir das an, ein Verbrechen, ein Vergehen gegen das Völkerrecht, nein, dafür könne es keine Erklärung geben, ich solle zugeben, dass das, was hier geschähe, rassistisch sei, faschistisch. (Seite 156)
Nach der Israel-Reise ließen Alwin und Dvorah sich scheiden. Eines Tages werden sie uns alle niedermetzeln, sagt sie gelassen und stellt Früchte und Brötchen auf den Tisch. Sie sagt es mit derselben Stimme, mit der sie erklärt: Zwischen zwei und vier Uhr halte ich Siesta. Noch nicht gleich, denn wir haben die beste Armee, aber es ist unvermeidlich. (Seite 24)
Dvorah hat viel von Jerusalem gesehen, weiß jedoch, dass sie immer eine Fremde bleiben wird.
Und dann drängte er mir wieder die Halskette auf, er hielt sie gegen das Licht, reines Feuer, das passt zu dir, nicht der Elatstein, der ist zu kühl, nur hundert Schekel für dich.
In ihrem Hotelzimmer spricht sie arglos mit dem palästinensischen Angestellten, der ihr das Bett macht, putzt und frische Handtücher bringt. Unvermittelt drängt er sie aufs Bett und zerrt an ihrem Kleid. Sie wirft ihn hinaus und beschwert sich an der Rezeption über ihn. Am Abend vertritt ihr der Hotelmanager den Weg und beklagt sich darüber, dass sie einen Mann, der eine Familie zu ernähren hat und jeden Tag von der Westbank zur Arbeit kam, um seinen Job brachte. Ohne es auszusprechen, wirft er ihr durch seine Blicke das offene Haar, den Ausschnitt, die nackten Arme und Beine vor.
Sie liebt die Stadt, in der sie aufgewachsen ist, aber sie hört nicht auf, ihren Zustand als unerträglich und hoffnungslos zu beklagen. Natürlich sollst du bleiben und dich hier niederlassen, nirgendwo sonst findet du so viel Schönheit und Spiritualität, aber es wird dich zugrunde richten, am Ende bist du ein Wrack, ein Nervenbündel, reif für das Irrenhaus. (Seite 49f)
Nurit beabsichtigt, Israel zu verlassen und nach Indien zu ziehen. Ich weiß nicht, welche Funktion er mir zugedacht hat, ich glaube, ihm gefällt einfach die Idee, viele Freunde aus vielen Ländern zu haben. (Seite 63)
Zufällig begegnet sie einmal einer Österreicherin, die sie schon als Kind kannte. Irene Wittrich war damals Jungscharführerin. Jetzt arbeitet sie als Reiseleiterin von Pilgergruppen.
Wo wohnen Sie?, fragte ich. Sivan gibt ihr zwar weder eine Telefonnummer noch eine Adresse, unter der sie ihn erreichen könnte, trifft sich aber jeden Tag mit ihr. Sobald sie mit ihm an die Grenzen der jüdischen Stadtviertel kommt, wirkt er gehetzt. Er weigert er sich, sie im Hotel abzuholen oder sie dorthin zu begleiten. Wenn sie sich verabschieden, weiß Dvorah nicht, wohin er geht und was er tun wird. Aber wir schlichen im Schutz der Büsche durch Grünanlagen wie Verbrecher, saßen unter mageren Olivenbäumen im Hinnom-Tal, liebten einander in Parks hinter Hecken und zwischen den Grabsteinen des arabischen Friedhofs. Immer angespannt auf Geräusche horchend, immer vor Menschen auf der Flucht und immer im Niemandsland zwischen Ost- und Westjerusalem, im Schutz der Stadtmauer, aber schon drüben im Westen. Streunende Katzen umschlichen uns, israelische Volksmusik drang aus den Pavillons der Hotels herüber, und wir lagen im tiefen Schatten, sogar vorm Mond verborgen, glücklich, ja, aber ausgeschlossen, unerlaubt. Nicht er war es, der mich demütigte am Anfang. (Seite 47)
Er drängt sie, ihn mit nach New York zu nehmen, aber sie macht sich keine Illusionen: Liebe würde nicht ausreichen, die Unterschiede zwischen ihnen dauerhaft zu überbrücken. In dem Maße, wie sich seine Unruhe zur Panik steigert, wachsen Dvorahs Zweifel: Wer ist er wirklich? Und was hat er vor?
Was ist mit deinem Medizinstudium?
Nach ihrer Rückkehr aus Galiläa und einen Tag bevor Dvorah den Leihwagen zurückgeben muss, fährt sie mit Sivan in die Wüste. Dabei übersieht sie einen Felsbrocken, der am Fahrzeugboden schrammt. Sivan verspricht ihr, für die Reparatur zu sorgen. Um nach dem Freund zu suchen, an den er dabei gedacht hat, lässt er sich von ihr in den arabischen Teil von Jerusalem bringen und sie in ihrem Wagen mit israelischem Kennzeichen eine Stunde lang warten, bis er zurückkommt, und ihr mitteilt, dass die Reparatur erst am folgenden Tag vorgenommen werden könne.
Solange Sivan hier ist, werden sie mir nichts tun, dachte ich, es geht schließlich um seine Ehre. Aber dann fiel mir die Geschichte ein, die vor Jahren durch die Zeitungen gegangen war, von der jungen Europäerin, in deren Handtasche bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen ein Sprengsatz gefunden wurde, und sie war ahnungslos gewesen – ein Abschiedsgeschenk von ihrem Verlobten, einem Palästinenser, dessen Kind sie trug: Sie war hochschwanger und hätte mitsamt dem ganzen Flugzeug explodieren sollen. (Seite 231)
Unvermittelt drängt Sivan zum Aufbruch. Der Araber, der auf dem Parkplatz in Jemin Moschee angeblich den Schaden inspizierte, setzt sich wieder ans Steuer. Als sie in eine Militärkontrolle geraten, schaltet der Araber die Scheinwerfer aus, gibt Vollgas, durchbricht die Straßensperre und rast weiter. Erst als er sicher ist, dass sie nicht verfolgt werden, bringt er den Wagen zum Stehen. Sein Freund habe vorhin nicht angehalten, weil er keinen Führerschein besitze, erklärt Sivan. Ich bin aus der Unschuld gefallen, jetzt erst, obwohl ich schon längst schuldig bin. Jede Bombe, die einen überfüllten Bus zerreißt, könnte mit meiner Hilfe gelegt sein, jeder durch Terror Ermordete könnte auf meine Rechnung gehen. (Seite 174f) Sie befürchtet, Eli, Nurit, Channa und Jaakov in Gefahr zu bringen, denn man könnte sie als Mitwisser verdächtigen.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Als sie bei Channa zu Besuch ist, wird in den Fernsehnachrichten von einer Schießerei in Jemin im Westjordanland berichtet, bei der ein israelischer Soldat, zwei arabische Terroristen und eine unbeteiligte Palästinenserin ums Leben kamen. Dvorah fällt auf, dass die Namen der Terroristen nicht genannt werden; ihre Individualität interessiert hier niemanden. Und wie geben die andern, drüben, ihre Todesnachrichten weiter? Dort haben die zwei ungenannten Terroristen Namen, eine Geschichte, Witwen, Kinder, dort sind sie nicht gesuchte Terroristen, sondern Gefallene, bewundert, geehrt. (Seite 267)
Am nächsten Tag sieht Dvorah in einer Zeitung ein Ausweisfoto von Sivan. Er ist einer der beiden Terroristen, die bei der Schießerei getötet wurden. Er hieß Sawad Radadeh, war vierundzwanzig Jahre alt und stammte aus Ostjerusalem. Von ihm wurde der gleichaltrige israelische Soldat erschossen.
Wollen wir versuchen, Plätze nebeneinander zu bekommen?, fragte er, bevor er sich in die kürzere Warteschlange für Israelis einreihte. |
Buchbesprechung:
In ihrem Roman "Abschied von Jerusalem" beschäftigt Anna Mitgutsch sich mit dem Nahost-Konflikt, aber nicht, indem sie darüber reflektiert oder gar referiert, sondern in Form einer konkreten und anschaulichen Handlung, in der sie Juden und Araber, Israeli und Palästinenser aufeinandertreffen lässt. Beim Lesen spürt man die besondere Beziehung der österreichischen Autorin zu Jerusalem, und sie kennt auch Ecken, in die Touristen nicht kommen. Das Panorama, das sie in "Abschied von Jerusalem" entwirft, reicht zurück bis zur Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten. Diese Komplexität wirkt an keiner Stelle angestrengt; der Roman ist fugenlos aufgebaut und in einem großen Schwung komponiert. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Anna Mitgutsch (Kurzbiografie / Bibliografie) |