Patrick Modiano: Place de l'Étoile (Roman) |
Patrick Modiano: Place de l'Étoile |
Inhaltsangabe:Raphaël Schlemilovitch ist der Sohn einer aus Osteuropa stammenden französisch-jüdischen Boulevard-Schauspielerin. Die Carinthy-Tourneen, waschechtes Boulevard-Theater. Da sie Französisch mit Balkanakzent sprach, spielte sie russische Fürstinnen, polnische Gräfinnnen und ungarische Amazonen.
Der Vater stammt aus einer Familie sephardischer Juden und wuchs in Caracas auf. Nachdem er die Tochter des Diktators der Galapagosinseln verführt hatte, floh er mit falschen Papieren auf den Namen Jean Cassis de Coudray-Macouard nach Europa und wurde Sekretär des französischen Hochstaplers, Betrügers und Finanzjongleurs Serge Alexandre Stavisky. In Paris wohnt er in der Rue des Saussaies gegenüber der Gestapo. Im Juli 1944 gelingt es ihm, den Wald von Fontainebleau an die Deutschen zu verkaufen. Danach emigriert er in die USA und gründet Kaleidoscope Ltd in New York.
Alles, was vor Gesundheit und Glück strotzt, verursacht mir Übelkeit.
Während Gesellschaftskolumnisten Lobeshymnen über Schlemilovitch schreiben, werfen ihm antisemitische Journalisten wie Léon Rabatête und Dr. Louis-Ferdinand Bardamu vor, er führe "mit Hilfe von Sexpartys und Millionen die jüdische Weltverschwörung".
Ich fragte ihn, warum er Frankreich verlassen habe:
Sie verlassen Lausanne und ziehen ins Hôtel des Bergues in Genf.
Die französische Linke stürzte sich mit Feuereifer auf den Gewissenskonflikt des Jacob X, wie ich es mir gewünscht hatte. Das war Frankreichs dritte Judenaffäre nach der Dreyfus-Affäre und der Finaly-Affäre. [...] In der Hotelbar werden Schlemilovitch und Des Essarts von Maurice Sachs angesprochen. Der spricht von Gide, Cocteau, Coco Chanel. Er erzählt uns von seinen Missgeschicken seit 1945, dem Datum seines angeblichen Todes. Er war nacheinander Gestapoagent, GI, Viehhändler in Bayern, Makler in Antwerpen, Bordellwirt in Barcelona, Clown in einem Mailänder Zirkus unter dem Spitznamen Lola Montès. Schließlich hat er sich in Genf niedergelassen, wo er eine kleine Buchhandlung betreibt. Schlemilovitsch gibt Sachs seine Studie Drieu und Sachs, wohin falsche Wege führen zu lesen. Pierre Drieu la Rochelle oder das ewige Paar von SS-Mann und Jüdin lautet die Überschrift des ersten Teils, Robert Brasillach oder das Fräulein von Nürnberg die des zweiten. Als er Robert Brasillach kennenlernte, flehte er ihn um eine antisemitische Glosse in dem Hetzblatt "Je suis partout" an, denn er fand selbst den Antisemitismus der Goijim plump und wollte es besser machen. Er sei der gute Jude der Kollaboration, beteuerte er. Ich für mein Teil habe beschlossen, ich werde der größte jüdische Schriftsteller nach Montaigne, Marcel Proust und Louis-Ferdinand Céline. Maurice Sachs missfällt Schlemilovitschs leidenschaftlicher Rassismus, und er warnt ihn vor der polnischen Jüdin Tania Arcisewska, die seit kurzem seine Geliebte ist. Sie habe einen schlechten Einfluss auf ihn, meint er. Diese junge Frau zerstört sich langsam, ohne Krämpfe, ohne Geschrei, als wäre das etwas ganz Selbstverständliches. Sie verwendet eine Pravaz-Spritze und sticht sich in den linken Arm. Mitten in der Nacht weckt sie Schlemilovitsch, zeigt ihm die am linken Unterarm eintätowierte Nummer und singt das Gebet für die Toten von Auschwitz. Schnell versuche ich sie zu beruhigen. Ich habe hochgestellte Freunde. Ich gebe mich nicht mit den kleinen Spaßvögeln der Pariser Kollaboration zufrieden. Ich duze Göring; Heß, Goebbels und Heydrich finden mich äußerst sympathisch. [...] Ich habe als einziger Jude aus Hitlers Händen das Verdienstkreuz erhalten. Tania schneidet sich jedoch eines Morgens, als er nicht bei ihr ist, die Pulsadern auf und verblutet. Am nächsten Tag reist eigens ein Polizist aus Paris an, Inspektor La Clayette, um Schlemilovitsch zu vernehmen. Die besagte Tania Arcisewska, meint er, werde von der französischen Polizei gesucht. Drogenhandel und Drogenkonsum. Bei diesen Ausländern muss man mit allem rechnen. Diese Juden. Diese Gauner aus Mitteleuropa. Na ja, sie ist tot, und das ist auch besser so. Maurice Sachs setzt sich in den Orient ab. Schlemilovitsch und Des Essarts geht das Geld aus. Wir besitzen nur noch sechzig Schweizer Franken. Aber Des Essarts' Großvater und mein venezolanischer Onkel Vidal sterben am selben Tag. Des Essarts erbt den Titel eines Herzogs und Pairs, ich begnüge mich mit einem kolossalen Vermögen in Bolivars. Das Testament meines Onkels Vidal überrascht mich: offenbar genügt es, mit fünf Jahren einem alten Herrn auf den Schoß zu klettern, und schon bestimmt er dich zu seinem Universalerben. Die beiden Dandys kehren nach Frankreich zurück. Nachdem sie die Bank des Kasinos von Aix-les-Bains gesprengt haben, gibt Schlemilovitsch im Hôtel Splendid eine Pressekonferenz. In der Rolle des jungen Milliardärs gefällt er sich. Aber als er nach dem Antritt der Erbschaft auch noch an Tuberkulose erkrankt, ist er entsetzt, denn das verstärkt seine Attraktivität ungemein.
Ich muss diese lästige Krankheit verbergen, denn sie würde mir einen Popularitätsanstieg in allen Hütten Europas bescheren. Angesichts eines reichen, verzweifelten, schönen und tuberkulosekranken jungen Mannes würden die kleinen Arierinnen plötzlich eine Berufung zur heiligen Blandine in sich fühlen. Um die Wohlgesinnten zu entmutigen, wiederhole ich vor Journalisten, dass ich JUDE bin. Folglich interessieren mich nur Geld und Wollust. Man findet mich sehr photogen [...]. Jean-François Des Essarts fordert ihn auf, mit zu einem Maskenball zu fahren, aber Raphaël Schlemilovitch mag nicht und nimmt die Arbeit an seiner Tragikomödie als Vorwand. Er verließ mich mit traurigem Lächeln. Als der Wagen durch das Hoteltor gefahren war, spürte ich ein leichtes Schuldgefühl. Wenig später verunglückte mein Freund auf der Westautobahn tödlich.
(Einige Jahre nach dem Unfall wird Schlemilovitch sich daran erinnern, wie er die Bremsen am Auto seines Freundes manipulierte.)
Der Vorhang fällt. Niemand klatscht. Alle starren auf mich mit argwöhnischen Blicken. Man hatte sich von einem Juden mehr Freundlichkeit erwartet. Ich bin wirklich undankbar. Ein richtiger Flegel. Ich habe ihnen ihre helle und klare Sprache gestohlen, um sie in hysterisches Gefurze zu verwandeln. Nach diesem Misserfolg beschließt Raphaël Schlemilovitch, seiner kosmopolitischen Vergangenheit abzuschwören und Paris endgültig zu verlassen. Ich wollte meine Tuberkulose auskurieren. Ein vernünftiger und zurückhaltender junger Mann werden. Ein richtiger kleiner Arier. Bevor er abreist, vermacht er seiner Mutter einen Teil des geerbten Vermögens und bietet seinem Vater 350 000 Dollar an. Der reist daraufhin aus Südamerika an, und sie treffen sich im osmanischen Salon des Hôtel Continental in Paris. Raphaël sieht ihn zum ersten Mal seit seiner frühen Kindheit. Mein Vater trug einen nilblauen Alpakaanzug, ein Hemd mit grünen Streifen, eine rote Krawatte und Schuhe aus Persianerpelz.
Die New Yorker Geschäfte des Seniors stehen vor dem Bankrott. Wie kann man aber auch Kaleidoskope bauen und nicht merken, dass der Markt dafür schrumpft! Ich hatte Lust, dem Direktor zu antworten, ich sei leider Jude. Und folglich: stets Klassenbester. Schlemilovitch schlägt eine Anthologie griechischer Redner irgendwo auf, übersetzt eine Stelle ins Lateinische und kommentiert sie. Der Direktor staunte. Wusste er nichts von jüdischer Auffassungsgabe, Intelligenz? Am Abend vor dem Schulbeginn wirft er seine exquisite Garderobe weg, denn er wird jetzt nur noch den schlackegrauen Schulkittel tragen. Der Vater, der es sich nicht nehmen ließ, ihn nach Bordeaux zu begleiten, lädt ihn beim Abschied zu einem Besuch in New York ein, aber Raphaël meint: Ich werde demnächst sterben. Hab gerade mal Zeit, die Aufnahmeprüfung für die École normale supérieure zu schaffen. Sein Französischlehrer Adrien Debigorre wird wegen seines Klumpfußes von den Schülern verspottet. Ich beschloss, der Leibwächter dieses armen Mannes zu werden. Trotz meiner noch frischen Tuberkulose wog ich neunzig Kilo, war einen Meter achtundneunzig groß, und der Zufall hatte mich in einem Land von kleinen Arschkerlen zur Welt kommen lassen. Nachdem Raphaël Schlemilovitch die Rädelsführer krankenhausreif geprügelt hat, wird "der jüdische Terror" gefürchtet. Allerdings erstatten die Eltern der drei Verletzten Gerbier, Val-Suzon und La Rochepot Anzeige wegen Körperverletzung und beschweren sich beim Schuldirektor, der Schlemilovitch daraufhin von der Schule verweist. Vergeblich versucht der Missetäter sich dagegen zu wehren: "Wenn diese Herren mich vor Gericht schleppen wollen", antwortete ich ihm, "werde ich ein für allemal meine Meinung sagen. Das wird eine gute Werbung für mich sein. Paris ist nicht Bordeaux, wissen Sie. In Paris gibt man immer dem armen kleinen Juden recht, nie den arischen Bestien! Ich werde die Rolle des Verfolgten meisterhaft spielen. Die Linke wird Versammlungen und Demonstrationen organisieren, und glauben Sie mir, es wird zum guten Ton gehören, ein Manifest für Raphaël Schlemilovitch zu unterschreiben. Kurz und gut, dieser Skandal wird Ihrer Beförderung äußerst hinderlich sein. Überlegen Sie gut, Herr Direktor, Sie kämpfen gegen einen starken Gegner. Ich habe Routine in derlei Geschichten. Denken Sie an Hauptmann Dreyfus und, erst unlängst, an den Radau um Jacob X, diesen jungen jüdischen Deserteur ..."
Debigorre ist erschüttert, sowohl seinen Beschützer als auch seinen besten Schüler zu verlieren. Kurz darauf wird er nach Arcachon in eine Nervenheilanstalt gebracht. Die Französin steht zufällig hoch im Kurs. Liefern Sie mir die Ware. Ich bin zu alt, um diese Arbeit selbst zu übernehmen. 1925 lief das wie geschmiert, aber wenn ich heutzutage den Frauen gefallen will, zwinge ich sie vorher, Opium zu rauchen. Lévy-Vendôme nimmt Schlemilovitch mit nach Hause und erzählt ihm, dass er bibliophil sei und zu seinem Vergnügen Apokryphen fälsche. "Ich habe für mich allein die gesamte französische Literatur neu erfunden. Da, Pascals Liebesbriefe an Mademoiselle de La Vallière. Eine frivole Erzählung von Bossuet. Erotisches von Madame de La Fayette. Ich habe mich nicht damit begnügt, die Frauen dieses Landes zu verführen, ich wollte auch die gesamte französische Literatur prostituieren. Die Heldinnen Racines und Marivaux' zu Huren machen. Junie, die es aus freien Stücken mit Nero treibt, vor den entsetzten Augen des Britannicus. Andromache, die sich schon bei der ersten Begegnung Pyrrhus in die Arme wirft. Marivaux' Gräfinnen, die in die Kleider ihrer Kammerzofen schlüpfen und sich deren Liebhaber für eine Nacht leihen. Sie sehen, Schlemilovitch, der Mädchenhandel hindert mich nicht daran, ein kultivierter Mensch zu sein. Seit vierzig Jahren verfasse ich Apokryphen."
Der Aristokrat hat gerade zwei Bestellungen vorliegen, eine aus Rio de Janeiro, die andere aus Beirut. Sie wird großen Erfolg haben nächsten Sommer in den Bordellen von Rio. Kanonikus Saint-Gervais, der Superior des Internats, überredet Schlemilovitch, als Geschichtslehrer auszuhelfen. An diesem Punkt meiner Biographie angelangt, ziehe ich vor, einen Blick in die Zeitungen zu werfen. Bin ich ins Seminar eingetreten, wie Perrache mir damals riet? Henry Bordeaux' Artikel "Ein neuer Pfarrer von Ars, Abbé Raphaël Schlemilovitch" (Action française vom 23. Oktober 19..) gibt Anlass zu dieser Vermutung: Der Romancier gratuliert mir zu dem apostolischen Eifer, den ich im kleinen savoyischen Dorf T. an den Tag lege. Während langer Spaziergänge mit Loïtia nimmt Schlemilovitch sich vor, das unschuldige Mädchen auf keinen Fall brasilianischen Zuhältern auszuliefern, sondern stattdessen selbst in T. zu bleiben und sich hier zu verheiraten. Aber dann kündigt er Lévy-Vendôme doch telegrafisch die Lieferung der Ware an. Am vereinbarten Tag holt er Loïtia von der Schule ab, lockt sie zum Busbahnhof von Annecy und fährt mit ihr nach Genf. Dort werden sie von Lévy-Vendôme erwartet.
Er rückt sein Monokel zurecht und reicht mir einen mit Dollarnoten vollgestopften Umschlag. In dem normannischen Städtchen Fougeire-Jusquiames gibt sich Schlemilovitch als Vertreter für Kolonialwaren aus und schleicht sich bei der Schlossherrin Véronique de Fougeire-Jusquiames ein. Ihr Chauffeur heißt Gérard, und sie verrät ihrem neuen Freund, der Mann genieße einen ausgezeichneten Ruf im Milieu.
"Die Ganoven nennen ihn Pompes Funèbres oder Gestapo-Gérard. Gérard gehörte zur Bande aus der Rue Lauriston [Gestapo-Zentrale in Paris]. Er war Sekretär meines verstorbenen Vaters, sein böser Geist …"
Um sich für die Behandlung seines Vaters zu rächen, steigt Raphaël Schlemilovitch eines Nachts unbemerkt aus dem Bett der Marquise und erwürgt Gérard. Er schneidet ihm die Ohren ab, schält ihm die Augen aus den Höhlen und tritt ihm die Zähne ein, bevor er ihn verscharrt.
"Stark frequentiert unter der deutschen Besatzung! Mein seliger Vater, Charles de Fougeire-Jusquiames, spielte den Kuppler für die kollaborierenden französischen Intellektuellen. Aber der Spaß endet abrupt, denn der Emir von Samandal wartet in Beirut ungeduldig auf die Lieferung seiner Bestellung, und Vicomte Charles Lévy-Vendôme kommt deshalb persönlich mit seinen beiden Helfershelfern Mouloud und Mustapha nach Fougeire-Jusquiames, um nach dem Rechten zu sehen.
Er winkt Mouloud und Mustapha. Lévy-Vendôme entlässt Schlemilovitch und vertraut ihm zum Abschied noch an, was er mit dem Schloss vorhat: "Wir sind die neuen Herren von Fougeire-Jusquiames. Die Marquise wird uns ihr gesamtes Hab und Gut vermachen. Freiwillig oder unfreiwillig.
Raphaël Schlemilovitch zieht nach Wien. Dort erfährt er, dass Albert Speer und Baldur von Schirach die Zitadelle Spandau in großen schwarzen Luxuslimousinen verlassen haben und der ehemalige Gauleiter von Wien seine Pressekonferenz im Hotel Hilton Berlin mit den Worten begann: "Tut mir leid, dass Sie so lange auf mich warten mussten." "Hofmannsthal?" sagte ich. "Ein Jude, mein liebes Hildchen. Österreich ist eine jüdische Kolonie. Freud, Zweig, Schnitzler, Hofmannsthal, ein richtiges Ghetto." Als Hilda ihm ein Kaleidoskop mit dem Firmenzeichen von Schlemilovitch Ltd., New York, zeigt, hätte er sie beinahe darüber aufgeklärt, wem die Firma gehört. Ich wollte ihr schon anvertrauen, dass mein Vater der Hersteller dieser kleinen Wunderwerke war, aber sie redete schlecht über Juden. Sie forderten Entschädigungen unter dem Vorwand, ihre Familien seien in Lagern ausgerottet worden; gnadenlos schröpften sie Deutschland. Sie fuhren Mercedesse, tranken Champagner, während die armen Deutschen für den Wiederaufbau ihres Landes rackerten und ein kümmerliches Leben führten. Ach! diese Schufte! Nachdem sie Deutschland verdorben hatten, schickten sie es auf den Strich. Schlemilovitch bringt Hilda dazu, sich jeden Abend in der Blauen Bar des Hotels Sacher die reichsten Männer auszusuchen und ihnen ihre Gunst zu verkaufen. Nach drei Wochen besitzen wir fünfzehnhundert Dollar. Hilda findet Gefallen an dieser Tätigkeit. Sie entdeckt darin jene Disziplin und Ernsthaftigkeit, die ihr bislang fehlten. Als Hilda sich eng mit einer jungen, aus Istanbul stammenden Hure namens Yasmine anfreundet, ziehen sie zu dritt in die Bäckerstraße und schlafen in einem großen Himmelbett miteinander. Yasmine machte mich mit ein paar dubiosen Gestalten bekannt: Jean-Farouk de Mérode, Paulo Hayakawa, die alte Baronin Lydia Stahl, Sophie Knout, Rachid von Rosenheim, Monsieur Igor, T. W. A. Levy, Otto da Silva und noch andere, deren Namen ich vergessen habe. Im Kreise all dieser Schlawiner trieb ich Schleichhandel mit Gold, setzte falsche Zlotys in Umlauf, verkaufte Unkraut wie Haschisch und Marihuana an jeden, der was zu knastern wollte. Schließlich heuerte ich bei der französischen Gestapo an. Nummer S 1113. Dienststelle Rue Lauriston." Schlemilovitch eröffnet ein Bordell in Wien. Die deutschen Soldaten trösten sich in meinem Etablissement, bevor sie wieder an die russische Front müssen. Heydrich höchstpersönlich besucht mich hin und wieder. Er hat eine Schwäche für Tania, Loïtia und Hilda, meine allerschönsten Huren. Es ekelt ihn nicht, wenn er sich auf die Jüdin Tania wälzt. Heydrich ist sowieso Halbjude, Hitler sieht, wegen dem Eifer seines Statthalters, großzügigig darüber hinweg. Nach einer Weile wird Schlemilovitch der Aufgabe des Zuhälters überdrüssig. Eines Abends führt er Hilda nach dem Besuch des Praters in einen Park und zieht sie dort in die Büsche. Ich habe ihr drei Ohrfeigen hintereinander verpasst. Es hat mir Spaß gemacht, als ich das Blut aus ihren Mundwinkeln rinnen sah. Großen Spaß. Eine Deutsche. Zu anderen Zeiten verliebt in einen jungen SS-Totenkopf. Ich bin nachtragend. Seit 1935 ist er der Liebhaber Eva Brauns, die von Hitler auf dem Obersalzberg so viel allein gelassen wird.
Liebe auf den ersten Blick bei ihr und bei mir. Hitler kommt einmal im Monat auf den Obersalzberg. Wir verstehen uns bestens. Gern akzeptiert er meine Rolle als Evas Cavalier servente. Das alles scheint ihm so unwichtig … Abends erzählt er uns von seinen Plänen. Wir lauschen ihm wie zwei Kinder. Er hat mich zum SS-Brigadeführer h. c. ernannt. Ich muss Eva Brauns Foto wiederfinden, auf das sie geschrieben hat: "Für meinen kleinen Juden, meinen geliebten Schlemilovitch. – Seine Eva." Schlemilovitch verlässt Wien, besucht Vettern in Triest und dann seine Cousinen Sarah, Rachel, Dinah und Blanca in Istanbul. Von dort reist er weiter nach Kairo und organisiert in Port Said einen Jahrmarkt.
Für zwanzig Dinar pro Kopf konnten die Gaffer Hitler sehen, der in einem Käfig den Hamlet-Monolog deklamierte, Göring und Rudolf Heß, die eine Trapeznummer vollführten, Himmler und seine dressierten Hunde, den Schlangenbeschwörer Goebbels, den Schwertschlucker von Schirach, den ewigen Juden Julius Streicher. Aber Raphaël Schlemilovitch ist nicht tot. Er trifft seinen Ethiklehrer Joseph Joanovici wieder und räsoniert: Ich war unverbesserlich. Ich versuchte, mir den Tod eines anderen anzueignen, genauso wie ich mir die Füllfedern von Proust und Céline hatte aneignen wollen, die Pinsel von Modigliani und Soutine, die Grimassen von Groucho Marx und Chaplin. Meine Tuberkulose? Hatte ich die nicht Franz Kafka gestohlen. In Tel Aviv wird Schlemilovitch verhaftet. General Tobias Cohen, Kommissar für Jugend und Anhebung der Moral, fragt ihn, warum er nach Israel gekommen sei. Schließlich bringt man ihn zusammen mit anderen Häftlingen in einen Strafkibbuz, dessen Leiter über die Neuankömmlinge klagt:
"Lauter Intellektuelle, natürlich!", sagte er mit wutschnaubender Stimme. "Wie soll man aus diesem menschlichen Abfall stahlharte Kämpfer machen? Mit euren Jeremiaden und eurem kritischen Geist habt ihr uns in Europa schön in Verruf gebracht. So, meine Herren, Schluss mit der Jammerei, jetzt werden die Muskeln trainiert. Schluss mit der Krittelei, jetzt wird konstruiert. [...]
Die Männer müssen Steine klopfen. Nach getaner Tagesarbeit geht Hermann Rappoport zu den drei englischen Juden, zieht seinen Revolver und erschießt sie teilnahmslos.
"Was? Schlemilovitch? Ich dachte, man hat Sie in einen Strafkibbuz geschickt! Und obendrein noch in Luftwaffenkluft! Also, diese europäischen Juden sind unverbesserlich." Übergangslos befinden sie sich in Paris, wo sie von Nachtschwärmern umringt werden: [Schlemilovitch] erkennt die Marquise de Fougeire-Jusquiames, den Vicomte Lévy-Vendôme, Paulo Hayakawa, Sophie Knout, Jean-Farouk de Mérode, Otto da Silva, Monsieur Igor, die alte Baronin Lydia Stahl, die Fürstin Chericheff-Deborazoff, Louis-Ferdinand Céline und Jean-Jacques Rousseau. Bloch schlägt eine Spazierfahrt in den Bois de Boulogne vor, und sie machen sich alle zusammen auf den Weg. Ob Schlemilovitch nicht gewusst habe, dass das Nachtlokal Grand-Duc den Agenten der französischen Gestapo und Schwarzmarkthändlern vorbehalten sei, fragt er.
"Mir werden Sie es verdanken, dass man Ihnen dereinst die Märtyrerkrone aufsetzt, nach der Sie seit Ihrer Geburt immerzu gestrebt haben. Ja, das schönste Geschenk, das man Ihnen machen kann, werden Sie jetzt gleich aus meinen Händen erhalten: eine Ladung Blei ins Genick! Vorher erledigen wir noch Ihre Verlobte. Sind Sie zufrieden?" Auf der Allée des Acacias halten sie an. Die Polizisten Saul und Isaak zerren Rebekka aus dem Delahaye und vergewaltigen sie vor Schlemilovitchs Augen, während Bloch dem gefesselten Häftling mehrmals den Dolch in den Oberschenkel sticht, allerdings nicht tief. Kommandant Bloch hatte mir zuvor Handschellen angelegt, und die Türen waren verschlossen. Ich hätte sowieso keinen Finger gerührt, um meine Verlobte zu verteidigen. Als Saul und Isaak genug haben, lassen sie Rebekka liegen. Sie fahren weiter. Auf der Place de l'Étoile werden sie von den anderen bereits erwartet.
"Um diese Zeit ist Ausgangssperre", sagt Jean-Farouk de Mérode zu mir, "aber wir haben Spezialausweise." Schlemilovitch wird übel. Er lehnt sich in einer Toreinfahrt an; beim Weitergehen stolpert er und fällt der Länge nach hin. Bloch bleibt allein mit ihm zurück und zieht einen Revolver aus der Tasche seines Trenchcoats. Schlemilovitch steht auf, weicht taumelnd zurück und versucht mit letzter Kraft zu lachen. Bloch nähert sich ihm.
"Du lachst? DU LACHST! Da hast du's, kleiner Jude, da hast du's!" Doktor Sigmund Freud ist bei ihm und erklärt ihm, dass er nachts am Franz-Josefs-Kai gelegen habe. Krankenpfleger brachten ihn nach Wien-Pötzleinsdorf, in die Klinik. Er gibt sich zuversichtlich, dem Patienten wieder zu einem klaren Kopf verhelfen zu können. "Sie können ein gesunder junger Mann werden, optimistisch und sportlich, versprochen!" Dann erwähnt Freud das Buch "Betrachtungen über die Judenfrage" von Jean-Paul Schweitzer de la Sarthe. "Sie müssen unbedingt eines begreifen: den JUDEN GIBT ES NICHT, wie Schweitzer de la Sarthe vollkommen richtig sagt. SIE SIND KEIN JUDE, Sie sind ein Mensch unter anderen Menschen, das ist alles. Sie sind kein Jude, ich wiederhole es noch einmal, Sie haben einfach nur halluzinatorische Delirien, Wahnvorstellungen, weiter nichts, eine ganz leichte Paranoia … Niemand will Ihnen Böses tun, mein Kleiner, alle möchten bloß nett zu Ihnen sein. Wir leben heute in einer friedlichen Welt. Himmler ist tot, wie kommt es, dass Sie sich an all das erinnern, Sie waren noch gar nicht geboren, kommen Sie, seien Sie vernünftig [...]" Aber Raphaël Schlemilovitch würde sich nur von Dr. Louis-Ferdinand Bardamu behandeln lassen, und er hört Doktor Freud nicht mehr zu. Obwohl er sich auf die Knie wirft, mich mit ausgestreckten Armen anfleht, sich mit beiden Händen an den Kopf fasst, sich aus Verzweiflung am Boden wälzt, auf allen Vieren läuft, bellt, mich anwinselt. |
Buchbesprechung:Was für ein Roman!
Im Juni 1942 tritt ein deutscher Offizier auf einen jungen Mann zu und sagt: "Pardon, monsieur, où se trouve la place de l'Étoile?"
Diese "jüdische Geschichte" stellt Patrick Modiano vor den Beginn des Romans "Place de l'Étoile". Dann wirbelt er uns durch die fiktive Biografie des französischen Juden Raphaël Schlemilovitch. In der Mariahilfer Straße spürten wir, wie Angst in uns hochstieg. Ein paar Schritte noch, und wir würden auf der Place de la Concorde sein.
Raphaël Schlemilovitch ist Dandy und Milliardenerbe, Kollaborateur der Nationalsozialisten, Zuhälter und Mädchenhändler, Häftling in einem israelischen Strafkibbuz und mit Hitlers Billigung Geliebter von Eva Braun auf dem Obersalzberg. Ich wusste nicht, dass Robert Desnos La Place de l'Etoile geschrieben hatte. Ich hatte ihm, völlig unabsichtlich, seinen Titel gestohlen. (Patrick Modiano: Dora Bruder) Patrick Modiano wurde 2014 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Patrick Modiano (Kurzbiografie / Bibliografie) |