Christian Oelemann: Totmann. Ein schwebendes Verfahren (Roman) |
Christian Oelemann: TotmannEin schwebendes Verfahren |
Inhaltsangabe:Georg Berger wurde schon in der Grundschule gehänselt und erhielt den Spitznamen SchlauBerger.
Die Anlage zum Schrätel habe ich schon als kleiner Junge nicht verheimlichen können. Und meinen Eltern war das ganz recht so. Ich brachte wenigstens nicht andauernd Kinder ins Haus. Kinder! [...] Meine Eltern hassten Kinder im Grunde, wissen Sie. Und ich brachte nicht nur nicht andauernd Kinder ins Haus, sondern nie. Zum Verdruss seines Vaters träumte er von einer Karriere als Schriftsteller, bis er sich vor 16 Jahren bei den Wuppertaler Stadtwerken bewarb und Schwebebahnfahrer wurde. Seither ist er der Schwebebahnschorsch. Freunde hat der eigenbrötlerische 56-Jährige ebenso wenig wie eine Frau, aber seit zwölf Jahren sind Günter und Jochen seine Skatbrüder. Es gibt weltweit nur ungefähr fünfundsiebzig Schwebebahnfahrer, und die naturgemäß allesamt in Wuppertal. Die Schwebebahnfahrer bilden keine Gemeinschaft. Nicht einmal eine Weihnachtsfeier wird organisiert. Es gibt nicht den Schwebebahnfahrer schlechthin. Wir sind alle Individuen. Alle einmalig, das ist ja das Groteske! Das Einmalige haben wir gemeinsam. Nun soll Georg Berger sich einen Tag lang von einer Schriftstellerin aus Kamen begleiten lassen, die darüber ein Buch schreiben möchte. Beck, sein Chef, hat ihm das eingebrockt. Auf die eine oder andere Art steckt Schikane dahinter, ich bin sicher. Georg erinnert sich noch gut an die Leute vom WDR, die fünf Runden mit ihm fuhren und ihn fortwährend filmten. Davon wurden dann gerade einmal drei Minuten im Fernsehen gezeigt. Man sah Georgs Glatze von hinten und hörte, wie er zweimal die Haltestelle "Alter Markt" ausrief. Das war alles. Diese Frau Winding will nun sogar alle sieben Runden einer Schicht mitfahren. Georg weiß nichts über sie. In der Buchhandlung schauten sie für ihn eigens in den Computer, fanden aber den Namen Winding nicht. Hauptsache, sie raucht nicht. Für mich ist es immer der erste Gedanke, wenn ich es mit einem neuen Menschen zu tun bekomme: Raucht er oder raucht er nicht. Raucht er, kann er mir gleich gestohlen bleiben. Raucht er nicht, hängt es davon ab, wie er sonst auf mich wirkt. Manche Menschen rauchen nicht, haben aber etwas dermaßen Raucherhaftes an sich, das allein ich schon nicht ertragen kann, seitdem ich selbst nicht mehr rauche. Am Abend vor dem Tag mit der Schriftstellerin sitzt Georg in seiner Wohnung, trinkt ein Gläschen Cognac nach dem anderen, insgesamt neunzehn, und malt sich aus, was auf ihn zukommen könnte. Durch den Kakao ziehen lassen werde ich mich nicht, das steht fest. Zumindest dann nicht, wenn ich es rechtzeitig merke. Über die Geschichte der Wuppertaler Schwebebahn wird Frau Winding sich wohl bereits vorab informiert haben. Aber Georg wird ihr erklären, was es bedeutet, Schwebebahnfahrer zu sein. Ich habe einen Dienst abzuleisten, Oberbarmen – Vohwinkel und retour, siebenmal am Tag. Das ist auf eine Art anstrengend, die ich Ihnen gar nicht beschreiben kann. Er wird ihr die Hebel zeigen und vor allem die Totmannseinrichtung.
Ein Schwebebahnfahrer ist ein Totmannspedalbediener, sonst eigentlich nichts. [...] Technisch wäre es längst möglich, die Wuppertaler Schwebebahn fahrerlos zu betreiben. Aber noch ist es nicht so weit. Noch bleiben die Fahrer und vermitteln den Fahrgästen ein anachronistisches Sicherheitsgefühl. Der Vorteil dieser Überflüssigkeit ist, dass Georg auch während der Schicht seinen Gedanken freien Lauf lassen kann. Er hat im Dienst schon den Plot eines Thrillers entworfen: Eine Gruppe von Palästinensern kapert die Wuppertaler Schwebebahn. Ich brauche meine Freiheit, und die habe ich bei meinem Dienst. Nur selten ist die volle Aufmerksamkeit des Fahrers erforderlich. Wenn es einmal schaukelt, dann herrscht mindestens Windstärke 7 vor, eher sogar mehr. Dann wird das Schwebebahnfahren urplötzlich wieder zum Abenteuer, zumindest ein paar Minuten lang. [...] Irgendwann kommt dann allerdings per Funk eine Direktive, und schon ist das abenteuerliche Flair auch schon wieder zunichte. Dann stehst du vielleicht ein, zwei Stunden im Bahnhof und bekommst die Strecke einfach nicht freigeschaltet.
Beim Schwebebahnfahren hat Georg eine Menge gesehen. Am 18. August 1988 sah er beispielsweise im Vorbeifahren die Gladbecker Geiselnehmer. Und als er am 6. März 1984 in die Wagenhalle fuhr, erblickte er die Überreste einer 67-jährigen Selbstmörderin, die sich hinter Schwelm vor einen Zug geworfen hatte und bis Oberbarmen mitgeschleift worden war. Was ist, wenn Sie mal Pipi müssen, hat mich neulich ein kleiner Junge gefragt. Pragmatisch, nicht wahr? Es ist ein Problem, das hatte der Junge absolut richtig erkannt. Sie müssen zusehen, dass sie während der Runde nicht müssen. [...] Mal eben rechts 'ranfahren scheidet naturgemäß aus. Georg vergleicht die Schwebebahn mit dem Geschlechtsverkehr:
Die Schwebebahn ist der Phallus, der auf sein Ziel zusteuert. Das Ziel ist jeweils der nächste Schwebebahnhof, die Vagina. Er will, er muss da hinein. Und naturgemäß auch wieder heraus. Bis vor 30 Jahren gab es in Barmen noch eine Berg- bzw. Zahnradbahn. Die führte zum Toelleturm hinauf. Mein Vater hat uns sonntags gerne zum Toelleturm geschleift, und ich habe die anderen Sonntägler, die nämlich, die mit der Bergbahn hinauffuhren, immer auf das Innigste beneidet. Für uns kam es nicht in Frage, mit der Bergbahn zum Toelleturm hinaufzufahren. Das ist etwas für Ommas und Oppas, hatte mein Vater entschieden. Ob meine Mutter ihre Kopfschmerzen hatte, interessierte ihn nicht. Solange wir noch zwei Beine haben, die uns überall hintragen, brauchen wir keine Bergbahn, so mein Vater. Als die Barmer Bergbahn 1959 stillgelegt wurde, gehörte Georgs Vater allerdings zu den Leuten, die am lautesten dagegen protestierten. Der Vater, ein Oberregierungsrat, hielt die Parteien einschließlich der CDU, deren Mitglied er war, allesamt für "Waschlappenparteien". Kommunisten, Schwule ("Hinterlader"), Alkoholiker, Raucher und Muttersöhnchen verabscheute er gleichermaßen. Seinen Sohn – ein Einzelkind – verspottete er als "Mammis Liebling". Geschlagen hat er mich übrigens nie, kein einziges Mal. Die Sarkasmen meines Vaters taten jedoch mehr weh [...] Dass Georg als Kind des Öfteren krank war, betrachtete sein Vater als Zeichen von Schwäche. Im Alter von zwölf Jahren lag der Junge mit Ziegenpeter im Bett und las "Im Westen nichts Neues". Als sein Vater ihn dabei erwischte, schimpfte er: Hätte ich mir ja denken können! Mein Herr Sohn macht in Pazifismus! Drei Jahre später gab Georg der Nachbarstochter Moni Geld für einen Kuss. Sie merkten nicht, dass sie von seinem Vater beobachtet wurden. Als Georg heimkam, empfing der Vater ihn mit den Worten: Deine Mutter hat sich vor lauter Gram, dass du dich mit der Schlampe herumtreibst, erhängt. Nein: Deine arme Mutter hatte er gesagt. Arme Mutter.
Selbstverständlich war das eine Lüge, aber Georg erschrak und weinte dann, als er seine Mutter ins Zimmer kommen sah. Das Ganze hatte etwas dermaßen Peinliches, dass ich nicht mehr wagte, meinen Kopf wieder zu heben. Ich lutschte und saugte an Iris Brust, bis sie sie mir irgendwann entzog und mit deutlich genervtem Unterton beschied, ich solle es gut sein lassen, das führe eh zu nichts. Der Vater nahm schließlich seinen Sohn zur Seite und wies ihn darauf hin, dass er über entsprechende Beziehungen verfügte für den Fall, das Georg ein Mädchen schwängern würde. In der Öffentlichkeit sprach er sich aber gegen eine Abschaffung des Paragrafen 218 aus, also gegen eine Lockerung des Abtreibungsverbots. Wenn er wenigstens konsequent das Arschloch gewesen wäre, das er war. Aber nein, nicht einmal darauf war Verlass.
Mit 19 zog Georg zu Hause aus.
Ich denke nicht gerne daran. [...] Wie ein Schemen sehe ich Klara im Bett sitzen und sagen, machen wir uns doch nichts vor, Georg.
Am nächsten Tag kamen zwei Kerle mit einem VW-Bus und holten Klaras Sachen ab. Die Scheidung folgte. Solange Georg sich als Schriftsteller versuchte und nichts von ihm zu holen war, ließ Klara ihn in Ruhe, aber sobald er als Schwebebahnfahrer das erste Geld verdiente, wurde er schriftlich aufgefordert, einen Ausbildungsbeitrag für den Sohn Christian zu zahlen. Bevor Georg einen Vaterschaftstest beantragen konnte, verunglückte Christian allerdings mit dem Motorrad tödlich.
Janette, sagte er. Eine gute Bekannte. Macht gerade ihren Doktor. Verdient sich was nebenbei. Gell, man muss was tun heutzutage?
Nach diesem Besuch war Georg noch keine zwei Stunden zu Hause, als die Prostituierte, die er bei seinem Vater kennengelernt hatte, bei ihm in der Tür stand. Janette sei ihr Künstlername, erklärte sie, sie heiße Lucrezia Franca. Georg
In der Überzeugung genial zu sein, war ich im Grunde viel zu sehr mit dem Genitalen beschäftigt. Weil Georg keine Einnahmen hatte und aus Hass die Schecks zerriss, die ihm der Vater schickte, lebte das Paar von dem, was Lucrezia verdiente. Georg nahm das hin, wollte nur, dass sie ihre Freier nicht mit in die Wohnung brachte und seinen Vater mied. Sie hurte nur im Rahmen des unbedingt Nötigen.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Im September 1980, also vor 16 Jahren, kam Georg angetrunken nach Hause. Schon im Treppenhaus roch der das Rasierwasser seines Vaters. Ekelerregend. Er riss die Tür auf. Lucrezia war allein, saß nackt auf einem Stuhl, die Lehne zwischen den gespreizten Beinen. Zornig rannte er nach unten, um den Vater auf der Straße einzuholen, fand ihn aber nicht. Zurück in der Wohnung, öffnete er die Flasche Cognac, die sein Vater mitgebracht hatte, und trank davon. Er genoss es, dass Lucrezia offenbar Angst vor ihm hatte. Sie sagte:
Er interessiert sich wirklich für dich. Er will helfen, nur lässt du ihn nicht. Er ist selbst der unglücklichste Mensch, dass er nicht an dich herankommt. Lucrezia beteuerte schluchzend, in den dreieinhalb Jahren ihres Zusammenseins keinen Sex mehr mit seinem Vater gehabt zu haben, aber Georg war die Vorstellung unerträglich, dass sein Vater in dem Manuskript des halb fertigen Romans "In der Schwebe" gelesen haben könnte.
Die Vorstellung, dass mein Vater erfahren hatte, wie ich wirklich über ihn dachte, war nicht schlimm. Im Gegenteil, schlimm war, dass ich es ihm nie hatte sagen können. Das war ja das Schlimme, Frau Winding. Schlimm war, dass er sich über meinen Hass ganz sicher kranklachen würde. Sich aufgeilen an meinem Hass, sich weiden an meiner Empfindlichkeit, wie er es schon getan hatte, wenn ich im Rock meiner Mutter Schutz vor seinem Zynismus suchte, dreijährig, vierjährig, was weiß ich. Lucrezia schluchzte. Plötzlich kippte sie seitwärts vom Stuhl und blieb mit offenen Augen am Boden liegen, während sich eine Urinpfütze bildete. Georg rief seinen Vater an und berichtete lallend, dass Lucrezia tot war. Während des Telefonats verlor er das Bewusstsein. Er kam erst wieder zu sich, als sein Vater und Dr. Pferdemenges bereits neben ihm standen.
Merke dir jetzt eines, mein Junge, sagte der Göttergleiche. Du hast dein Mädel nicht angerührt. Sie hat einen ganz gewöhnlichen Schlag bekommen. Einen ganz gewöhnlichen Schlag. Ihr habt euch gar nicht angefasst. Sie ist schlichtweg umgekippt. Hast du das verstanden? Zu viel gesoffen und umgekippt und hopp, verstehst du! Von dem Roman-Manuskript war sogar sein Vater begeistert und er ließ seine Beziehungen spielen, damit ein renommierter Verlag in Frankfurt am Main das Buch ins Programm nahm, aber Georg wollte nichts mehr mit Literatur zu tun haben. Er bewarb sich bei den Wuppertaler Stadtwerken und wurde Schwebebahnfahrer. Eine Fernsehillustrierte ist seither das einzige Druckerzeugnis in seiner Wohnung. Das Literarische Quartett schaute er sich zwar an, aber nur, weil sich herausgestellt hatte, dass er Marcel Reich-Ranicki gut imitieren konnte. Wissen Sie, was ich über Goethe denke? Ein aufgeblasener, wichtigtuerischer Phrasenheini, mehr nicht. Ein Vielschreiber, der sich überall eingemischt hat mit seiner Schreiberei. Ein angepasster Karrierist. Ein pädophiler Faun. Einer, der nach oben buckelt und nach unten tritt. Ein richtiger Deutscher, wenn Sie verstehen. |
Buchbesprechung:
Der Roman "Totmann. Ein schwebendes Verfahren" von Christian Oelemann besteht aus dem Monolog eines Wuppertaler Schwebebahnfahrers, der abends in seiner Wohnung sitzt, Cognac trinkt und sich vorstellt, was er am nächsten Tag einer Schriftstellerin erzählen könnte, die beabsichtigt, etwas über die Schwebebahn zu schreiben und deshalb angekündigt hat, sieben Runden mit ihm fahren zu wollen. Das Thema Schwebebahn bildet denn auch so etwas wie einen roten Faden durch die 19 als "Gläschen" bezeichneten Kapitel. (Es sind übrigens ebenso viele wie es Stationen an der Schwebebahnstrecke zwischen Oberbarmen und Vohwinkel gibt.) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Christian Oelemann (kurze Biografie) |