Hanns-Josef Ortheil: Agenten (Roman) |
Hanns-Josef Ortheil: Agenten |
Inhaltsangabe:
Bevor der Ich-Erzähler in die Tertia kommt, zieht er mit seiner Familie aus einer Behausung, in der er sich mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Sarah ein Zimmer teilen musste, in ein Reihenhaus in einer Kreisstadt bei Wiesbaden, wo sein Vater eine Anwaltskanzlei übernommen hat. Weil der Gymnasiast bei der Vorstellung in der neuen Schule eine Ballade von John Maynard aufsagt, erhält er den Spitznamen Maynard. Er nimmt ihn an, ersetzt allerdings das erste A durch ein E. Ich hatte den naiven Dünkel derer, die darauf vertrauen, alles falle ihnen in den Schoß, doch ich hasste mich oft selbst wegen dieses zwar abenteuerlichen, aber bequem machenden Selbstvertrauens. Die Zeit schleifte so dahin, und um mich herum machten die anderen ungehemmt Anstalten, die noch freien Plätze zu besetzen. Er sucht erst einmal einen Job und wendet sich deshalb an Lautner. Der lädt ihn daraufhin zum Brunch ein. Lautner empfing seine Gäste gegen Mittag auf der Dachterrasse einer Jugendstilvilla, in der er die obere Etage allein bewohnte. Die Villa befand sich im Nerotal. Das repräsentative Anwesen gehört einem alten Herrn, der für einige Wochen verreist ist und auch sonst froh ist, wenn er nicht allein im Haus wohnen muss. Lautner erklärt Meynard: Ich habe an Jobs nie gedacht, das war mir zu dürftig. Ich habe mir Geld geborgt und alles gesetzt, auf Gedeih und Verderb. Glaub nicht, mir hätte jemand etwas geschenkt. Mit Jobs kann kein Mensch etwas werden. Dann demütigt er den Bittsteller erst einmal: "Siehst du, das ist es, du kommst daher und willst mir einen Job absteißen, du denkst, der managt das schon, aber du kannst nichts, du weißt nichts, du hast nichts." Schließlich stellt er Meynard als Korrektor des Anzeigenblatts ein und vermittelt ihm eine Zwei-Zimmer-Wohnung nahe der Fußgängerzone am Michelsberg. Dorthin kommt Meynard allerdings oft erst weit nach Mitternacht, denn vor allem spätabends gibt es im Büro viel zu tun. "Du siehst bleich aus", sagte Blok und nippte kurz an seinem doppelten Espresso. Wir saßen am frühen Nachmittag vor dem Café Maldaner.
Meynard und Bloks Zimmernachbarin Doris kommen sich näher. Ihr Vater ist Winzer, und sie wuchs als einziges Mädchen mit drei Brüdern zusammen auf. Nachdem sie die Schule abgebrochen hatte, machte sie eine Lehre in einem Modegeschäft in Wiesbaden und wohnte während dieser Zeit bei einer Tante.
"Aber wir verschweigen es Blok. Es geht ihn nichts an." Sein unter Depressionen leidender Vater verursachte inzwischen zwei leichte Verkehrsunfälle, beide beim Ausparken. Er schien an Substanz zu verlieren und bekam das Aussehen eines aufgeriebenen BKA-Fahnders, der seine Aufträge nur noch von ihm früher untergebenen V-Männern erhielt. Das jahrelange, erbärmliche Stochern in Prozessakten hatte ihm jeden Glauben an überschaubare Verhältnisse genommen, und er versuchte, diese übertriebene Reaktion mit Gebärden eines abgrundtiefen Lebensekels zu adeln, die ich als Entschuldigungen nicht gelten ließ. Seit ich das Elternhaus verlassen hatte, begegnete er mir mit einer gewissen Scheu, als wage er mich nicht nach meinem Leben zu fragen. Sarah und die Mutter haben die Rollen vertauscht: Die Tochter hat zu Hause das Regiment übernommen, bestimmt, was eingekauft und gegessen wird. Aufgrund ihrer überragenden schulischen Leistungen will ihr die Direktion des Gymnasiums zu einem vorgezogenen Abitur verhelfen. Obwohl Biologie ihre Leidenschaft ist, macht sie inzwischen auch einen Hebräisch-Kurs. Sarah trat an die Spitze, hemmungslos darauf bedacht, eine starke Einzelle zu werden; Mutter verabschiedete sich aus dem banalen Leben, um die esoterischen Rufe von innen heraus deutlicher zu vernehmen, und Vater glitt in das Schattenreich der müden Depressiven, denen längst alles zu viel war. Nachdem Meynard wochenlang als Korrektor für "Wiesbaden live" gearbeitet hat, ruft Lautner ihn an und beauftragt ihn, ein Interview mit der Theaterschauspielerin Linda Francis zu führen. "Du schreibst mir ein Porträt. Du gehst hin, morgen Mittag um zwölf, und du quetschst sie aus, nach allen Regeln der Kunst. Du bist angemeldet, sie weiß, dass du kommst.
Am nächsten Tag taucht Meynard bei der Probe des Stücks "Das Leben ein Traum" von Pedro Calderón de la Barca auf. Als Linda Francis ihn entdeckt, geht sie mit ihm in die Kantine. Ihre Mutter sei Spanierin, erzählt sie, der Vater Amerikaner. Sie wurde in Deutschland geboren, wo ihr Vater stationiert war. Inzwischen leben ihre Eltern in Boston. "Das Wichtigste ist: Sie kommen von draußen, aus der tiefsten Prärie! Niemand hat Ihnen etwas gelötet, Sie sind ein frischer Landexport, erste Ware! Eingestiegen sind Sie noch nirgends, das war mit Herrn Lautner vereinbart. Sie haben Korrekturen gelesen, nicht mehr, Herr Lautner hat sich daran gehalten, obwohl, bei ihm ist man nie sicher." Meynard bezweifelt, ob seine Ausbildung dafür ausreicht, aber Piehl wischt die Bedenken weg: "Jetzt enttäuschen Sie mich nicht. Ich weiß exakt, wie viel Sie für Lautner getan haben. Sekretariat, Redaktionelles, Gestaltung, Satz, sogar im Layout. Lautner hat mir bestätigt, Sie beherrschen das Handwerk. Und was Sie brauchen, das lernen Sie rasch. Die ersten Monate sind ihnen die Jungs vom Lokalen behilflich."
Meynard soll gleich anfangen. Sein erster Artikel im Wiesbadener Boten ist das Linda-Francis-Porträt. Ihm steht zwar ein kleines Büro im Verlagshaus zur Verfügung, aber er gestaltet auch seine eigene Wohnung zu einem Arbeitsplatz um und kauft sich einen Anrufbeantworter. "Was ist Kultur denn für die? Der Spott, den sie über Leute wie sich selbst ausgießen! [...] Kultur ist Parfum, in den Redaktionskonferenzen schweigen alle betreten, wenn die Feuilletonisten sich melden. Wieder Minuten verschenkt! Was Meynard sich vorstelle, fragt Blok. "Biografien! Ein Forum für Biografien! Was fangen Menschen, die hier leben, mit der Gegenwart an?" Meynard hätte gern, dass Blok Restaurantkritiken für ihn schreibt, aber sein Freund erklärt ihm, er könne das nicht und vertraut ihm auch den Grund an: Er werde im Savoy kündigen, sagt er, und ein eigenes Lokal eröffnen, eine American Bar mit kleiner, aber guter Küche. Das Geld hat er von seinem Vater. Ohne zu ahnen, wo sein Sohn arbeitete, verbrachte Frankie heimlich Nächte im Savoy, schlief mit Frauen und verlor große Summen in der Spielbank. Blok erpresste ihn damit und bekam schließlich eine halbe Million. "Das ist mein Abschied von Frankie. Er hat mein Wort drauf bekommen. Keine Erbschaft, keine weiteren Ansprüche, das hat er schriftlich von mir. Besiegelt von einem Anwalt." Als Meynard das vernimmt, staunt er: "Agenten, Blok, du handelst wie ein Agent … [...] Was ist nur mit uns? Ich seh es genau, wir spielen uns die Trümpfe geschickt in die Hand, wir verheimlichen, sehr routiniert, wir schicken den agent provocateur, andere reinzulegen, uns selbst zum Plaisir ... [...] Warum geht uns das alles nichts an? Agenten stehen draußen, Blok, sie leben außerhalb aller Verhältnisse, nur ihre eigenen im Kopf." Blok fragt, ob Meynard nichts von seinen Auseinandersetzungen mit Frankie gehört habe.
"Hast du gar nichts geahnt, von Frankie und mir?" Linda Francis schenkt Meynard zum Dank für das Porträt im Wiesbadener Boten zwei Premierenkarten für "Das Leben ein Traum", und er nimmt Doris mit. Das geht nicht gut, denn Doris wirft ihm vor, die ganze Zeit Linda Francis angestarrt zu haben, und von der hält sie nicht viel: "Unmöglich führt sie sich auf! Sie reißt alles an sich, in jeder Szene, in der sie auftritt, sind die Übrigen nur Statisten." Bei der Premierenfeier sagt Lautner zu Meynard: "Ohne mich wärst du nichts, soviel steht fest. Und ohne mich wirst du nicht bleiben, das ist deutlich. Du musst wissen, wem du etwas schuldest." Meynard entgegnet: "Schulden?! Das geht zu weit. Dankbar bin ich dir, ja, doch schulden tu ich dir nichts …" Aber Lautner weicht nicht zurück: "Ach ja? Das werden wir sehen. [...] Schneller Aufstieg, rascher Fall! [...] Ich verlange Kooperation, verschwiegen und klassisch, das biete ich an. Du stänkerst mir nicht gegen alte Bekannte, du bleibst an der Leine."
Dann beschuldigt Lautner ihn noch, von Bloks Plänen gewusst und ihm nichts davon erzählt zu haben.
"Sag mal, warum steht ihr so gegeneinander? Was steckt dahinter?"
Blok ist froh, Lieferanten gefunden zu haben, die nicht von Lautner abhängig sind. Zur Eröffnung von Bloks American Bar ist Meynard selbstverständlich eingeladen, und Blok erklärt ihm, dass er auch später nichts zu bezahlen brauche. "Du machst nur noch Scheiß! Es läuft nicht mehr richtig. Keine Ideen, du bist völlig verbraucht."
Männie unterrichtet Meynard darüber, dass die Kollegen über ihn tuscheln. Franz Schmahl, der schon länger als 20 Jahre in der Anzeigenabteilung tätig ist, verhöhnt ihn als Tristan ohne Isolde. Außerdem meint Männie, dass Linda Francis Meynard nur benutzt habe. Der Nächste sei Lautner gewesen. Der sei mehrmals mit ihr zusammen in Frankfurt gesehen worden. Er habe ihr dort eine Wohnung besorgt. Ihn habe sie jedoch ebenfalls abserviert, als sie seine Unterstützung nicht mehr benötigte. Weil die Schauspielerin jedoch wochenlang kein einziges Mal in ihrer Wohnung war, ist Männie überzeugt, dass sie inzwischen mit einem anderen Mann zusammen ist, vermutlich einem, der ihr noch mehr bieten kann. Außerdem, sagt Männie, habe Linda von ihm zweimal Kokain gekauft, und zwar beachtliche Mengen. Er glaubt jedoch nicht, dass sie selbst drogensüchtig ist. "Sie bringen in baldiger Zukunft was über Lautners rasenden Service. Sie wissen, er füttert die neureichen Cliquen mit diesen Häppchen, wie nennt sich das gleich?" Meynard lässt sich Kopien der Leserbriefe geben, die er bisher gar nicht beachtete. Männie argwöhnt, dass die meisten von Doris bzw. in ihrem Auftrag geschrieben wurden. Sie hat ihr Studium abgebrochen und arbeitet inzwischen mit Walter zusammen beim Südwestfunk in Mainz. Ansagerin wolle sie werden, erzählt Männie. Und er rät seinem Freund nicht nur zu Amphetaminen, sondern auch zu einer Image-Korrektur: "Du brauchst Frauengeschichten."
Meynard lehnt zwar die Drogen ab, folgt jedoch dem anderen Rat und lässt sich von nun an fast jeden Abend mit einer anderen hübschen Frau sehen. Außerdem greift er für seine Artikel auf einen Fundus von etwa 50 Geschichten zurück, die Männie aufs Band gesprochen hat. Schmahl verschafft Männie nämlich die Adressen von Frauen, die Kontaktanzeigen aufgegeben haben, und Männie ist dann der Erste, der sich mit ihnen verabredet, und zwar stets unter einer anderen Identität. Was er auf diese Weise erlebt, hält er mit skizzenartigen Diktaten fest, die Meynard Material für eine ganze Artikelserie liefern. "Du zelebrierst jetzt den Hengst, was? Man sieht dich alle paar Tage mit einer neuen flotten Begleitung." Dann warnt er ihn: "Sobald ich sehe, du bist mit Blok geschäftlich liiert, springst du über die Klinge." Meynard hat sich auf dem Fest mit einer Freundin namens Corinna verabredet. Als sie Lautner mit Lina Francis zusammen sehen, wundert Meynard sich zunächst, denn im Auto beklagte Lautner sich noch, die Schauspielerin habe ihn ausgenutzt und dann stehen lassen. Später nimmt Lautner ihn auf die Seite und behauptet, Meynard habe ihm Linda geraubt. Der traut seinen Ohren nicht, aber Lautner ist überzeugt, dass es sich bei der Frau, die seit einiger Zeit bei Meynard wohnt, um Linda handelt. "Du hast es auf irgendeine dunkle Weise geschafft, die Francis an dich zu binden. Sie geht kaum noch aus, sie verbringt die Nächte fast immer in deinen zwei Zimmern." Vergeblich beteuert Meynard, dass nicht Linda, sondern seine Schwester bei ihm wohne. Lautner glaubt ihm nicht. Er geht mit ihm auf seine Jacht und konfrontiert ihn in der Kajüte mit Linda, die sich darüber beschwert, dass Lautner sie eine Stunde lang warten ließ. Der hebt zu einem Monolog an, in dem er darauf hinweist, dass Linda Francis von ihm entdeckt wurde. "Ich hatte sie einmal im Theater gesehen, in einer schummrigen Posse. Ich wusste gleich, die Francis war noch für Höheres gut, für Aufgaben weit übers Theater hinaus. [...] Dann hab ich ihr Meynard geschickt, Meynard war damals ein Nichts [...]. Und er hat seine Chance genutzt. Sein Porträt über die Francis hat ihm die Türen geöffnet, und sie ist ins Rampenlicht gekommen dabei. Die beiden hatten das alles mir zu verdanken, ich war der heimliche Sponsor [...]. Meynard hab ich an die Zeitung gebracht, und für die Francis hab ich in Frankfurt antichambriert."
Aber dann hätten sich, so Lautner weiter, die Schauspielerin und der Redakteur heimlich gegen ihren Mäzen verschworen. Linda protestiert; sie glaubt, Lautner habe den Verstand verloren. Meynard schweigt. Plötzlich springt er auf, rennt zu den anderen, entschuldigt sich bei Corinna und lässt sich von Blümchen auf der Stelle nach Wiesbaden fahren. In der American Bar findet er Blok hinter der Theke. Obwohl Hochbetrieb ist, besteht er darauf, dass Blok ihm die Frage beantwortet, ob er mit Linda zusammenlebe. Blok gibt zu, dass sie bei ihm wohnt. Darüber hinaus vertraut er Meynard an, dass ihm das Dienern im Savoy schwer zu schaffen machte und er es nur mit Kokain vertrug. Weil Lautner davon erfuhr und ihn beobachten ließ, besorgte Linda ihm schließlich den Stoff. Ich öffnete schnell das Fenster, es roch infernalisch, eine Mischung aus Schimmel, Öl und Verdorbenem. Der Gestank kam aus der Richtung des Betts, und mir kam eine furchtbare Ahnung. Ich rückte das Bett zur Seite, Einweckgläser, eine nicht mehr zu übersehende Zahl, bis oben gefüllt mit Zeug von der Straße, Dreck, Blätter, loses Geröll. Auch diese Gläser waren exakt mit bunten Zeichen beschriftet, mit Angaben von Fundort, Datum und Wetter.
Die Mutter kommt und bringt einen mit der Familie befreundeten Psychiater mit, der nach einem einstündigen Gespräch mit Sarah erklärt, das paranoide Konzept sei noch nicht ganz zur Entfaltung gekommen. Inzwischen hat Meynard den Koffer seiner Schwester gepackt. Die Mutter und der Psychiater nehmen die psychisch Kranke mit. [...] eine zugkräftige Konstellation. Wir wollten Ihre Stelle ja früher schon splitten, ein Mann, eine Frau, der Frauensektor ist besonders empfindlich, und die junge Dame verfügt über die besten Kontakte." Meynards Verdacht, dass es sich bei den beiden um Doris und Walter handele, wird von Piehl bestätigt. Der stellvertretende Chefredakteur bietet ihm zwar Arbeit in einem "Sonderbereich" an, aber Meynard kündigt auf der Stelle. |
Buchbesprechung:
Als "Agenten" bezeichnet Hanns-Josef Ortheil junge Menschen, die in den Siebziger- oder Achtzigerjahren aus der Schule kamen, in die Großstädte zogen und berufliche Karrieren begannen. Die sexuelle Revolution war ebenso vorbei wie die politische Rebellion oder die Kultivierung stundenlanger Dispute über alles und nichts. Nun ging es um Geld, Geschäft, Erfolg und Konsum. Man profilierte sich als Einzelkämpfer, knüpfte vorteilhafte Beziehungen, pflegte sein Ego und definierte sich über das Einkommen. Mit dem Roman "Agenten" präsentiert Hanns-Josef Ortheil ein skizzenhaftes Porträt dieser jungen Menschen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Hanns-Josef Ortheil (Kurzbiografie) |