Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier. Roman einer Passion |
Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das PapierRoman einer Passion |
Inhaltsangabe:Hanns-Josef Ortheil, ein Schriftsteller Anfang 60, versetzt sich in der Jagdhütte seines längst gestorbenen Vaters im Westerwald zurück in die Zeit, als er sieben Jahre alt war und der Vater dort geduldig begann, ihn an das Schreiben heranzuführen.
Die Jagdhütte steht am Rand des großen Waldgrundstücks, auf dem sich meine Eltern etwa ein Jahrzehnt nach Kriegsende ein Haus gebaut haben. In der Nachkriegszeit starben zwei weitere Söhne der Familie Ortheil. Von den fünf Kindern überlebte nur Hanns-Josef. Die Mutter war nach dem Tod des zweiten Sohnes verstummt und äußerte sich jahrelang nur noch schriftlich auf Zetteln. Der im November 1951 geborene Hanns-Josef, der seine "Mutter als eine lesende, schreibende, aber lange Zeit nicht sprechende Person" erlebte, hörte im Alter von drei Jahren ebenfalls zu sprechen auf und fing erst als Schüler wieder damit an. Mit kaum sieben Jahren hatte ich endlich sprechen gelernt, mein Wortschatz und meine Verständigungskünste aber waren zu dieser Zeit unterentwickelt, ganz zu schweigen vom Schreiben, das ich überhaupt noch nicht beherrschte. Vergeblich hatte die Mutter versucht, ihm mit aus bunten Folien ausgeschnittenen und auf dem Küchentisch verteilten Buchstaben das Lesen beizubringen. Nach der Einschulung erklärte der Lehrer der Klasse, Hanns-Josef brauche noch einige Zeit, um sprechen zu lernen. Der mutistische Sechsjährige verstand aber auch kaum etwas von dem, was der Lehrer und die Mitschüler redeten, denn sowohl die Fülle als auch das Tempo der Äußerungen verwirrten ihn. Der Lehrer konnte mir auch nicht helfen, denn er behauptete, die Klasse habe zu viele Schüler, da könne er sich um einen einzelnen Schüler nicht kümmern. Die Ortheils verbringen die Sommerferien nicht in Köln, sondern auf dem Grundstück im Westerwald. Dort nimmt der Vater den Sohn mit in die Jagdhütte, die für ihn einen Rückzugsort darstellt. Bei leiser, strenger Klaviermusik von Johann Sebastian Bach schneidet der Vater Pauspapier zurecht, legt Bleistifte verschiedener Härtegrade dazu und lässt Hanns-Josef erst einmal Linien ziehen.
Seltsam. Ich kann nicht in der Vergangenheitsform davon erzählen, wie die Schreibschule meiner Eltern entstand [...] Ich habe all diese Bilder so gegenwärtig im Kopf, als würden sich diese Szenen gerade ereignen.
Beim Abzeichnen von Gemüsepflanzen aus einem Duden-Bildwörterbuch begreift das Kind die Beziehung zwischen dem Gegenstand, der Abbildung, dem Begriff und dem Klang des ausgesprochenen Wortes. Der Vater fängt diese ungewöhnliche Schreibschule nicht mit Buchstaben an, wie es die Mutter versuchte, sondern mit Wörtern.
Unser Archiv ist eine Sammlung von Daten, Namen, Beobachtungen und Zeichnungen. Als Nächstes fängt Hanns-Josef an, jeden Tag Bilder aus der Zeitung auszuschneiden, sie auf ein Blatt Papier zu kleben und etwas dazu zu schreiben.
Papa meint, dass so meine eigene Zeitung entstünde. Im Rückblick findet Hanns-Josef Ortheil diese Idee "genial", denn die Chronik, die er seit damals ohne Unterbrechung weitergeführt hat, verhilft ihm dazu, bewusster zu erleben.
Plötzlich hatte der stumme, unbewegliche und abwesende Körper des Kindes zwei starke Antennen, die Welt zu orten.
Zur Erweiterung des Wortschatzes lässt der Vater den Jungen Dialoge und Szenen sammeln. Die ersten kleinen Geschichten schreibt Hanns-Josef nicht auf einzelne Blätter, wie die anderen Texte, sondern in Schulhefte. Den ganzen Vormittag in der Schule zu verbringen, fand ich dagegen nicht gut, denn ein solcher Schultag dauerte viel zu lang und hielt mich vom richtigen Lernen ab.
Weil Hanns-Josef nun wieder vormittags in der Schule sitzt und dann auch noch Hausaufgaben machen muss, steht er heimlich früher auf, um Zeit für seine Chronik zu haben. Sobald er hört, dass die Eltern aufstehen, schleicht er sich in sein Bett zurück – bis ihn nach einer Weile seine Mutter am frühen Morgen in seiner Werkstatt entdeckt. Eine Geschichte muss nicht erzählen, was man schon immer erwartet und was oft passiert. Sie muss aber etwas erzählen, was passieren könnte. Das Schreiben wird zu seiner Passion. [...] belohnt mich das Schreiben mit großer Wachheit. Ich sehe das Leben nicht nur genauer, sondern ich sehe es überhaupt erst. Das Leben fliegt nicht mehr an mir vorbei, sondern es wird festgehalten und gestaltet. Dieses Gestalten hinterlässt eine fast unheimliche Energie. Er ist seinem Vater dankbar für die Idee mit der Schreibschule.
Das Ganze war [...] von Anfang an ein sehr ernst genommenes Projekt, das viel Nachdenken und Überlegung erforderte.
Wenn Hanns-Josef der Mutter beim Kochen hilft, schreibt er nicht nur Rezepte auf, sondern hält auch seine Beobachtungen in der Küche fest. Der Vater wiederum regt ihn zu "Außenarbeiten" an, zum Schreiben im Freien. Bei gemeinsamen "Expeditionen" nimmt Hanns-Josef die Schreibutensilien im Rucksack mit. Genauigkeit und Gründlichkeit seien die Ursachen dafür, dass man das Schreiben als etwas Schönes empfinde. Als etwas, das im Kopf aufräume! Als etwas, das Freude und Vergnügen mache. Nichts Schöneres als ein aufgeräumter, wacher, heller Kopf, der dann tausend neue Ideen hervorbringe!
Als Hanns-Josef bereits das Gymnasium besucht, tippt eine Kollegin seines Vaters einige seiner Geschichten ab und macht dabei mehrere Durchschläge, die im Büro verteilt werden. Nachdem ein Kollege die Miniaturen einem befreundeten Redakteur der örtlichen Tageszeitung weitergegeben hat, druckt das Blatt im Abstand von zwei Wochen drei der Miniaturen, und es kommt eigens ein Fotograf zur Familie Ortheil, damit "das Kind, das schreibt" der Öffentlichkeit vorgestellt werden kann. Dass Hanns-Josef daraufhin zum Beispiel beim Einkaufen von Verkäuferinnen angesprochen wird, findet er lästig, und es missfällt vor allem auch seiner Mutter. Sie sagen aber (außer dem Großvater) nichts Besonderes dazu, sondern behaupten nur, ich sei "wirklich fleißig". So etwas wie "Fleiß" in eine Verbindung zum Schreiben zu bringen, gefällt mir nicht.
Der Vater fährt mit ihm nach Koblenz, und sie wandern in zehn Tagen an der Mosel entlang nach Trier, wo sie von der Mutter erwartet werden. Anhand der vielen während der Reise gemachten Notizen schreibt Hanns-Josef eine über 200 Seiten lange Reiseerzählung. Damit ist er ein halbes Jahr lang beschäftigt. Er schenkt sie seinem Vater zu Weihnachten. Im Grunde ist Manni nämlich der Chefredakteur. Er hat alles im Blick, treibt das Team an, verhandelt mit den Anzeigenkunden, telefoniert mit der Druckerei.
Dabei entdeckt Manni etwas, das ihm großen Spaß macht, und als ihm die örtliche Tageszeitung ein Volontariat anbietet, bricht er die Schule ab. |
Buchbesprechung:
In "Die Erfindung des Lebens" (Luchterhand Literaturverlag, München 2009, ISBN 978-3-630-87296-4) erzählt Hanns-Josef Ortheil aus seinem Leben von der Kindheit bis zum Abbruch der Pianisten-Karriere und ersten Erfolgen als Schriftsteller. In seinem ebenfalls weitgehend autobiografischen Roman "Der Stift und das Papier" erinnert er sich daran, wie ihm zunächst sein Vater und dann auch seine Mutter nach dem entmutigenden Besuch der ersten Schulklasse das Schreiben nahebrachten und er "das Kind, das schreibt" wurde. Durch das Schreiben lernte er, die Welt zu begreifen und genau zu beobachten. Das ist für ihn eine "Passion" geworden, wie es im Untertitel des Buches heißt, für das Hanns-Josef Ortheil ganz bewusst einen in einer von Tastaturen und digitalen Medien geprägten Welt unzeitgemäß klingenden Titel gewählt hat: "Der Stift und das Papier. Roman einer Passion". |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Hanns-Josef Ortheil (Kurzbiografie) |