Christoph Peters: Stadt Land Fluss (Roman) |
Christoph Peters: Stadt Land Fluss |
Inhaltsangabe:Köln 1995. Der dreiunddreißigjährige Kunsthistoriker Thomas Walkenbach ist seit sechs Jahren mit der fünf Jahre älteren Zahnärztin Dr. Hanna Martinek verheiratet. Mit seiner Abhandlung über die Zentralperspektive kommt er nicht voran, und nachdem seine frühere Kommilitonin Eva Liebig eine umfassende Monografie über Henrik Douwerman veröffentlicht hat, mit dem er sich seit Jahren beschäftigt, braucht er damit auch nicht weiterzumachen. Eva war am Kunsthistorischen Institut die einzige außer ihm gewesen, die sich für spätgotische Schnitzkunst interessiert hatte. Inzwischen gilt sie als die Expertin für die spätgotische Plastik des Niederrheins schlechthin, obwohl sie aus Bad Cannstatt stammt. 1992 promovierte sie mit "summa cum laude", und inzwischen bereitet sie sich auf ihre Habilitation vor. Walkenbachs Magisterarbeit über das Sieben-Schmerzen-Retabel von Henrik Douwerman wurde dagegen 1990 mit "befriedigend" bewertet. Auch sonst hat er nichts zustande gebracht, aber Hanna wirft ihm nicht vor, dass er auf ihre Kosten lebt. Und seine Alkoholkrankheit verheimlicht er so gut wie möglich.
Hanna und ich. Wir sind ein Zwei-Teile-Puzzle. Ineinandergefügt ergeben wir ein Bild.
Hanna ist nicht da. (Wo sie ist, wissen wir nicht.) Thomas erinnert sich an seine Kindheit in Niel, einem Ortsteil der Stadt Kalkar am Niederrhein, und wie er Hanna in Köln kennenlernte. Mein Großvater mütterlicherseits war so sehr von meiner Einzigartigkeit überzeugt, dass er ein Buch über mich begann. Es bricht gegen Ende des dritten Lebensjahrs auf Seite vierundzwanzig ab.
Den Hof übernahmen Onkel Henno, der jüngste der drei Brüder, und Tante Marga. Als fürchtete sie, ich könnte mich hineinverwandeln und herausklettern, sobald sie das Licht gelöscht hätte, mich ans Fußende hocken und ihren Schlaf belauern.
In dieser Zeit zerstritt Thomas sich mit seiner Kommilitonin Eva Liebig. Unsere Berührungen waren scheu, ich strich vorsichtig um ihre Brüste herum, damit sie mich nicht für einen Lüstling hielt und davonrannte. Wir zogen uns lange nicht aus, schoben höchstens Pullover und Unterhemd zur Seite. – Jahre später gestand Hanna, dass sie sich damals mehr Mut meinerseits gewünscht hätte, sich aber nicht getraut habe, es zu sagen. Schließlich vertraute Hanna das Geheimnis ihrer besten Freundin Astrid an und war von der positiven Reaktion überrascht. Daraufhin machte sie Thomas mit Astrid bekannt, später auch mit Elke, Vera und Sophie. Elke konnte mich von Anfang an nicht ausstehen. Ich sei ein Fantast ohne jeden Realitätssinn, sagte sie Hanna am Telefon, wahrscheinlich wolle ich nur eine sichere Versorgung, um ungestört meinen Hirngespinsten nachhängen zu können. Dann bekam sie plötzlich ein Kind von einem Besserverdienenden, den sie zwar nicht liebte, umständehalber trotzdem heiratete, gab ihre Karriere als Informatikerin auf, ließ sich ein zweites Mal schwängern und entspricht inzwischen exakt dem Bild der verbitterten Hausfrau und Mutter, die in den teuersten Boutiquen einkauft und zu Weihnachten Diamanthalsbänder umgehängt bekommt.
Weil Hanna nun zu Hause erzählte, sie gehe mit Freundinnen zusammen aus, war die Mutter erleichtert, weil sie annahm, dass Hanna nicht mehr so viel arbeitete und wieder unter Leute ging. Hin und wieder erwähnte Hanna dann auch einen Kunststudenten. Schließlich kündigte sie ihren Eltern an, Thomas Walkenbach wolle ihr bedeutende Altäre der Spätgotik am Niederrhein zeigen. An dem Wochenende fuhren sie zunächst nach Niel, wo Thomas sie seinen Eltern vorstellte. Nachdem sie in getrennten Zimmern übernachtet hatten, besichtigten sie am Sonntag die von Thomas ausgewählten Altäre. Einige Zeit später stellte ihn Hanna den eigenen Eltern vor. Meine Geschichte ist die, die Hanna verstand. Hätte ich nicht ihr, sondern Regina, Eva oder Astrid erzählt, sähe alles anderes aus. Was ich Hanna nicht erzählen konnte, ist irgendwann verschwunden.
1987 fuhren sie zusammen mit Astrid nach Italien. Abgesehen von einer Klassenfahrt nach Wien handelte es sich um Hannas ersten Auslandsaufenthalt. Obwohl Astrid baden wollte, nahmen sie Zimmer in Pallerone nördlich von La Spezia. Hanna und Thomas blieben im Albergo, während Astrid jeden Tag ans Meer fuhr. Wir waren willkommen, trotz allem, wir gehörten dazu, ich, der Sohn des Bruders, und Hanna, seine künftige Frau. Gründe genug.
Dass Hanna sich den Stall zeigen ließ, gefiel Onkel Henno. Auch nach der Hochzeit am 16. Juni 1989 in St. Reginfledis in Kalkar halfen Hanna und Thomas des Öfteren auf dem Bauernhof, bis Onkel Henno starb und Tante Marga den Hof mit Ausnahme des Wohnhauses verpachtete. |
Buchbesprechung:Seit Gabriel Celestes 1605 mit dem Erscheinen des ersten Teils seines berühmten Romans Der gesottene Ochse oder Von der vielfältigen Lust des Fleisches die moderne Erzählkunst begründete, haben Schriftsteller aller nachfolgenden Generationen mit Vorreden und Nachworten versucht, den Leser über den Wirklichkeitsgrad ihrer Geschichten zu täuschen. Mit diesen Worten beginnt Christoph Peters seinen Roman "Stadt Land Fluss". Nachdrücklich verweist er in der "Vorbemerkung" darauf hin, dass die nachstehend abgedruckten Aufzeichnungen des Kunsthistorikers Thomas Walkenbach vollständig erfunden seien. Ich habe seine Papiere auch nicht beim Erwerb meines Hauses auf dem Dachboden gefunden – ich besitze gar kein Haus. Der Autor der Vorbemerkung, also der Herausgeber des Buches, betont die Unterschiede zwischen seiner Biografie und der Walkenbachs: Er selbst wurde 1966 geboren, vier Jahre nach Thomas Walkenbach, und nicht in Niel, sondern in Oberwesel. Walkenbachs Mutter unterrichtete an der Dorfschule, bei ihm war zwar der Vater Lehrer, nicht jedoch die Mutter. Anders als Walkenbach studierte der Herausgeber nicht Kunst, sondern Biologie, und er arbeitet zur Zeit als Ichthyologe im Frankfurter Zooaquarium. (Warum er als Ichthyologe die Aufzeichnungen des Kunsthistorikers Thomas Walkenbach veröffentlicht, verrät er uns allerdings nicht.) Meine Frau heißt Hilde. Sie unterrichtet Latein am hiesigen Mädchengymnasium, obwohl ihr Abitur auch für ein Medizinstudium gereicht hätte. Es geht ihr gut. Dass ihr Name, wie er von Walkenbachs Hanna, mit H beginnt, ist reiner Zufall. Walkenbachs Spezialgebiet ist der um 1480 in Dinslaken geborene Henrik Douwerman, einer der bedeutendsten niederrheinischen Holzschnitzer der Spätgotik, der von 1518 bis 1525 in seiner Werkstatt in Kalkar ein Sieben-Schmerzen-Retabel schuf und 1543 in Kalkar starb. Bei der Suche nach geeigneten Forschungsgegenständen für Thomas Walkenbach fiel meine Wahl allein deshalb auf Henrik Douwerman, weil dessen Lebenslauf nach wie vor gewaltige Lücken aufweist, die ich mit Spekulationen und Halbwahrheiten füllen konnte.
Nach dieser Einleitung wissen wir, dass auf die "Zentralperspektive" des Ich-Erzählers Thomas Walkenbach kein Verlass ist. Das gilt vor allem für den Schluss, der offen bleibt. Bildet Walkenbach es sich nur ein, dass das ungeöffnet auf dem Tisch liegende Kuvert den medizinischen Befund enthält und dass es sich um eine Krebsdiagnose handelt? Stellt er sich Hannas Chemotherapie nur vor, oder ist sie bereits erfolgt? Wir erfahren auch nicht, warum Hanna nicht da ist. Christoph Peters liefert in "Stadt Land Fluss" mehr Andeutungen als Gewissheiten. Das gilt sogar für die schemenhaft bleibende weibliche Hauptfigur. Gerade den physiologischen Prozessen ist nicht zu trauen, wenn es um die Erinnerung geht. Was bleibt, ist allein die Abbildung in der Kunst oder in der Literatur. Wobei auch das nur temporäre Siege gegen die letztlich doch immer die Oberhand behaltende Vergänglichkeit sind [...] Peters erzählt in seinem sehr pessimistischen Buch vom vergeblichen Kampf gegen die Vergänglichkeit. (Richard Kämmerlings: "Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89") "Stadt Land Fluss" enthält einige gelungene Miniaturen bzw. Milieuschilderungen zum Beispiel über das Leben auf einem Bauernhof. Hin und wieder blitzen ironische Formulierungen auf. Gibt es einen vernünftigen Grund, außer Geldgier, warum man Zahnmedizin studiert? Aber die Erinnerungen Walkenbachs und seine eingestreuten kunstgeschichtlichen Erläuterungen verbinden sich nicht zu einem einheitlichen Guss, sondern der Roman wirkt eher wie Patchwork. Und er hängt in der Mitte durch. Erst die geschliffene Sprache macht "Stadt Land Fluss" lesenswert. Die Effekte des Textes beruhen auf dem Kontrast von intimster Mitteilung und allgemeiner, fast behördenhafter Sprache. (Richard Kämmerlings, a.a.O.) Der Titel "Stadt Land Fluss" bezieht sich übrigens auf ein Gesellschaftsspiel, bei dem es darum geht, zu einem vorgegebenen Anfangsbuchstaben entsprechende Begriffe zu finden, also etwa Namen von Städten, Ländern und Flüssen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Christoph Peters: Das Tuch aus Nacht |