Richard Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89 |
Richard Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89 |
Inhaltsangabe und Buchbesprechung:Wozu Neues? Wenn nicht zur Erkenntnis des Neuen, also der Gegenwart? Warum sollte jemand Neuerscheinungen lesen, wenn er daraus keinen Gewinn in der Gegenwartserkenntnis ziehen kann? Literatur soll die Sicht des Lesers auf die Welt verändern. Weltliteratur ist Erfahrungsersatz. Gegenwartsliteratur aber ist Erfahrungsdeutung. Seine eigene Wahrnehmung sei vor allem durch "Abfall für alle. Roman eines Jahres" (1999) von Rainald Goetz verändert worden, schreibt Richard Kämmerlings.
Ich konnte mir bis dahin kaum vorstellen, dass es so ein unabhängiges Gesamtbewusstsein geben kann, eine Instanz, die alles filtern und scannen und clearen konnte wie eine riesige Kläranlage des Zeitgeistes. Von der Gegenwartsliteratur erwartet Richard Kämmerlings ein "seismografisches Verhältnis [...] zu den sozialen, politischen oder technischen Entwicklungen ihrer Zeit". Die Gegenwartsliteratur kann ihren Auftrag aber nur einlösen, wenn sie sich ihrer Zeit auch zuwendet. Wenn sie Themen und Stoffe, Obsessionen und Ängste, Fantasien und Hoffnungen ihrer Epoche in Erzählungen ausprägt. Wenn sie Formen und Sprechweisen findet und erfindet, die dem Bewusstseinsstand der Gegenwart gewachsen sind. Literatur ist ihre Zeit, in Geschichten gefasst. An mehreren Stellen des Buches beschäftigt sich Richard Kämmerlings mit der durch Maxim Biller angestoßenen "Fiktionalitätsdebatte". Biller hatte 2003 den Roman "Esra" veröffentlicht und dabei entschlossen seine Forderung nach "angewandtem Realismus" verwirklicht, so konsequent, dass eine seiner früheren Geliebten und deren Mutter gegen die Veröffentlichung klagten, weil sie sich darin wiedererkannten, und das Buch gerichtlich verboten wurde. Norbert Gstrein zog daraus die Lehre und reagierte in "Die ganze Wahrheit" (2010) mit einer "sicherlich böswilligen Fiktionalisierung von Ulla Unseld-Berkéwicz".
Das subtile Spiel mit Fakten und Fiktionen, das Gstrein betreibt, hat auch hier eine literarische Qualität, gerade weil es treffen und verletzten will [...] Ein thematischer Umschwung habe in den Neunzigerjahren eingesetzt, erklärt Richard Kämmerlings: War das bis dahin vornehmlich Literatur gegen die eigene Zeit gewesen, wurde sie zu einer Literatur für die eigene Zeit. Gegenwartsliteratur – das sind große Bücher vom Hier und Heute. Von heutigen Problemen und Themen, von heutigen Menschen und ihren Fragen, ihren Bedrohungen und ihren Rettungen.
Nachdem er in der Einleitung seines Buches "Das kurze Glück der Gegenwart" über die deutsche Gegenwartsliteratur im Allgemeinen nachgedacht hat, legt Richard Kämmerlings neun thematische Querschnitte durch die deutschsprachige Literatur seit der Wende. Bierernst verwandelt er [Thomas Hettche] die Stadt in ein Zwischenreich, das vor höherer Bedeutung nur so wabert. Eher ein Berlin- als ein Nazi-Roman ist für Richard Kämmerlings das Buch "Flughunde" (1995) von Marcel Beyer, das er zu den zehn wichtigsten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur der letzten zwanzig Jahre zählt. Als "eine tragikomische und groteske Variante des geschichtspolitisch aufgeladenen Berlin-Romans" nennt er "Abwesende Tiere" (2002) von Martin Kluger. Mit "Abwesende Tiere" erreichte die deutschsprachige Gegenwartsliteratur einen Höhe- und Endpunkt, was die Kontamination der Gegenwart durch die nationalsozialistische Vergangenheit betrifft.
Ulrich Pelzer geht es in "Teil der Lösung" (2007) nicht mehr um die Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich", sondern um eine Diagnose der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation. Provinziell ist die deutschsprachige Literatur auch dann nicht, wenn sie von der Provinz erzählt.
Als Beispiele nennt Richard Kämmerlings: "Der Hahnenkönig" (1993) von Norbert Scheuer, "Wäldchestag" von Andreas Maier, "Dorfpunks" (2004) von Rocko Schamoni und "Fleisch ist mein Gemüse" (2004) von Heinz Strunk. Das erste Meisterwerk, das die jüngere ostdeutsche Literatur der Neunziger hervorgebracht hat, war [...] Ingo Schulzes Buch "Simple Storys".
Auf die ostdeutsche Vergangenheit schauen auch zurück: Annett Gröschner ("Moskauer Eis", 2000), Jochen Schmidt ("Triumphgemüse", Erzählungen, 2000), Jana Hensel ("Zonenkinder", 2002), Antje Ravic Strubel ("Tupolew 134", 2004) und Julia Schoch ("Mit der Geschwindigkeit des Sommers", 2009).
Während sie im Westen zum Medium der Erinnerung wird, zum Gefäß, muss sie im Osten die Erinnerungen ersetzen. Das merkt man am Ton. Während die Westautoren sich ironisch-schmunzelnd, heiter-melancholisch der Vergangenheit nähern, ist der Osten ernst und unversöhnlich (wie Annett Gröschner) [...] Diese Kontamination mit Schwärze hat nichts mit dem Weißt-du-noch eines Sven Regener zu tun.
Es sei bemerkenswert, meint Richard Kämmerlings, dass in diesem Zusammenhang verstärkt Road Novels geschrieben werden: "Schwarzweißroman" (2005) von Marion Poschmann, "Geld oder Leben" (2006) von Jan Böttcher, "AnarchoShnitzel schrieen sie" (2006) von Oliver Maria Schmitt, "Samuels Reise" (2006) von Gernot Wolfram, "Die Kosmonautin" (2008) von Jo Lendle, "Neuling" (2009) von Michael Ebmeyer, "Tschick" (2010) von Wolfgang Herrndorf. Wer die Gegenwart darstellen will, muss sie erst einmal durchschaut haben. Allerdings könnte auf diesem Gebiet der auktoriale Erzähler "sein Comeback als Chaosforscher" feiern. Mit herkömmlichen Mitteln lässt sich das Thema zumal vor dem Hintergrund der Globalisierung nicht behandeln.
Ein Tolstoi der Finanzkrise würde die Romanform sprengen.
Als gelungenes Beispiel der Darstellung komplexer Systeme in einem Roman führt Richard Kämmerlings einen US-amerikanischen Autor an: William Gaddis mit "J R". Immerhin wagen sich auch in Deutschland einige Autoren an komplexe Plots heran: Rainer Merkel ("Das Jahr der Wunder", 2001), Thomas Lehr ("42", 2005), Norbert Niemann ("Willkommen neue Träume", 2008) und Norbert Zähringer: "Als ich schlief" (2006), "Einer von vielen" (2009). "Morgen. Später Abend" ist ein sehr ambitioniertes, schwieriges Buch. Es hat nicht die Leichtigkeit und den kalauernden Sprachwitz des Lesebühnen-Routiniers Kirsten Fuchs, die ein aus jahrelanger harter Arbeit erprobtes Gefühl dafür hat, wann die nächste Pointe fallen muss.
Clemens Meyer komme ihm vor "wie ein Hooligan, der im Fußballstadion die VIP-Loge aufmischt", schreibt Richard Kämmerlings.
Tatsächlich begegnet er den Einwohnern seines "Oberhavel" genannten Örtchens wie den Mitgliedern eines fremden Volkes. Er beobachtet die Rituale, wie man es im tiefsten afrikanischen Busch tun würde, und hält dabei seine eigene Beobachterposition stets im Bewusstsein des Lesers. Weil es im Internet pornografische Bilder und Filme en masse gibt, könnte der pornografische Roman auf den ersten Blick wie ein Anachronismus wirken. Aber Richard Kämmerlings nennt zwei Gegenbeispiele: "Nabokovs Katze" (1999) von Thomas Lehr und "Feuer brennt nicht" (2009) von Ralf Rothmann. Eine neue Avantgarde hätte keine DVD zu fürchten. Nur wenn die Schriftsteller versuchen, mit den bescheidenen Mitteln realistischen Erzählens den personell und finanziell hochgerüsteten Identifikations- und Überwältigungsmaschinen der Bildmedien die Stirn zu bieten, werden sie scheitern. Dass nur wenige junge Autoren über Familienbeziehungen schreiben, führt Richard Kämmerlings darauf zurück, dass sie selbst nach der Abnabelung vom Elternhaus erst einmal ungebunden sein möchten. Familie ist Herkunft, nicht Zukunft.
John von Düffel ("Vom Wasser", 1998; "Houwelandt", 2004), Arno Geiger ("Es geht uns gut", 2005) und Thomas von Steinaecker ("Wallner beginnt zu fliegen", 2007) schrieben Familien- bzw. Generationenromane. Clemens J. Setz – "das größte Genie der jüngeren Literatur" – beschreibt ferne, übermächtige Vaterfiguren und das Ringen der Söhne um Autonomie: "Söhne und Planeten" (2007), "Die Frequenzen" (2009). Als einen der besten Romane über Eltern und Kinder schätzt Richard Kämmerlings "Kürzere Tage" (2009) von Anna Katharina Hahn.
Auf Autorinnen und Autoren, die bereits vor 1989 wichtig waren – zum Beispiel: Christa Wolf, Elfriede Jelinek, Peter Handke, Botho Strauß, Brigitte Kronauer, Wilhelm Genazino –, geht Richard Kämmerlings in "Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89" nicht ein. Auch über "Die Vermessung der Welt" (2005) von Daniel Kehlmann, "Die Mittagsfrau" (2007) von Julia Frank und "Der Turm" (2008) von Tellkamp schreibt er nichts, denn diese Romane rechnet er nicht zur Gegenwartsliteratur. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011 |