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|
Steinbruch
für Literaturexegeten
Lothar
Struck hat sich durch
Roberto
Bolaños monumentalen Roman »2666« gefressen.
Ein, wie er findet, potemkinscher Roman: hinter dessen Fassaden nur die Deuter
sitzen.
Das Buch beginnt so
harmlos. Drei Literaturprofessoren (Jean-Claude Pelletier aus Frankreich, Manuel Espinoza aus Spanien und Piero Morini aus Italien) und die englische
Literaturdozentin Liz Norton (später heißen sie nur noch die Kritiker)
entwickeln über die Jahre eine Affinität zum Werk des deutschen Schriftstellers
Benno von Archimboldi. Anfangs ein Geheimtip, forcieren nicht zuletzt die vier
die Rezeption Archimboldis in der Literaturwissenschaft; unter anderem auch
durch Übersetzungen. Auf Kongressen, Colloquien und andere Zusammentreffen (die
es offensichtlich reichlich gibt) lernen sie sich persönlich kennen und
vertiefen nicht nur ihre fachlichen Kenntnisse. Durch Liz Norton kommt es zu
allerlei Liebesverwicklungen; die Dame hat zunächst Pelletier als Geliebten,
etwas später dann Espinoza, längere Zeit beide parallel und mindestens einmal
auch gleichzeitig. Die körperlichen Gebrechen Morinis (er ist im Alltag auf
einen Rollstuhl angewiesen) scheinen da Barrieren zu bilden, wobei es am Ende
dieses ersten Teils dann doch noch eine Überraschung gibt.
Neben diesen Interaktionen
unter den vier Kritikern (Telefon-, Mail-, Gesprächsaustausch), dem
gelegentlichen Beäugen, den Idiosynkrasien, den Verletzungen, den
Merkwürdigkeiten, den Sexualstellungen und –frequenzen, alles in einer Mischung
zwischen Protokoll und Reportage aufbereitet, geht es natürlich auch um
Literatur. Das Geschriebene bleibt die einzige Referenz für die Adepten, denn Archimboldi ist so phantomhaft wie im realen Leben sonst nur Thomas Pynchon.
Seine Manuskripte kommen aus Italien oder Griechenland und einzig die greise
Verlegerin Anna Bubis kennt ihn persönlich (man erfährt dazu im Laufe des Buches
mehr). Außer Bubis gibt es selbst im Verlag (der teilweise dem Fischer-Verlag
nachempfunden ist), den die Kritiker auch besuchen, keine Spur und außer der
Chefin auch niemanden, der nachweislich mit Archimboldi jemals kommuniziert hat.
Man weiß nur, dass er hager und sehr groß ist und blonde Haare gehabt
haben soll. Nicht ein Bild existiert; an der Stelle auf der Wand der Verlegerin,
an die sie sich erinnern, einen großen, hageren Mann mit ihr gesehen zu haben,
war am nächsten Tag eine weiße Stelle.
Ab und an findet sich dann
doch ein Zeuge, beispielsweise derjenige, der den Schriftsteller 1959 bei einer
Lesung im Friesischen kennengelernt (eher: gesehen) haben will. Und sie hängen
an den Lippen dieses Mannes, dessen Bericht förmlich aufgesaugt wird (Bolaño
braucht dazu nur einen Satz - der allerdings sechs Seiten umfasst und von
Friesland bis nach Buenos Aires führt). Als Archimboldi Ende der 90er Jahre
mehrmals als Nobelpreiskandidat gehandelt wird, steigt der Unternehmungsgeist
der Kritiker den greisen Dichter (der 1920 in "Preußen" geboren wurde und Hans
Reiter heißt – viel mehr biografische Informationen besitzen sie nicht) zu
treffen, ihn zu interviewen und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen
(obwohl die Zeiten der großen Erfolglosigkeit des Dichters offensichtlich vorbei
sind, denn einmal, als die Beschäftigung der Vier mit ihrem Helden kurz
nachließ, wird bemerkt, dass dessen Ansehen hinter ihrem Rücken wuchs).
Von der Burleske zu »Twin
Peaks«
Dabei werden nicht nur die (lächerlich erscheinenden) Hahnenkämpfe innerhalb
der Germanistenzunft süffisant ausgebreitet (die Archimboldi-Anhänger teilen
sich in zwei Lager, die sich anfangs unversöhnlich gegenüberstehen) sondern auch
die Ambitionen der Vier, innerhalb der Kritikerkaste mit einer Sensation
reüssieren zu wollen. Und als es ein vages Gerücht gibt, Archimboldi befinde
sich in einer amerikanisch-mexikanischen Grenzstadt machen sich drei der vier
(der Italiener bleibt zu Hause) nach Santa Teresa auf, diesem (fiktiven) Ort,
der – wie man hört – durch eine enorme Serie von Frauenmorden seit Jahren auch
überregional Schlagzeilen macht. Dort treffen sie Professor Amalfitano, der dort
mit ihnen nach Hans Reiter recherchiert (man sucht alle Hotels nach einem
Deutschen ab).
Mit der Ankunft der
Europäer in Mexiko kippt die Atmosphäre des Romans, der bis dahin eine eher
heiter-ironische Burleske auf den europäischen Literaturbetrieb war. Auf den
letzten rund 80 Seiten des ersten "Buches" (von insgesamt 200 Seiten) reift ein
unterschwellig waberndes Bedrohungsszenario heran, welches im weiteren Verlauf
ständig gesteigert wird, ein Gefühl der Unwirklichkeit auch beim Leser
auslöst und im vierten Teil in einen großen apokalyptischen Strom kumuliert.
Die Ermittlungen in Santa Teresa bleiben erfolglos; Reiter bleibt unauffindbar,
wobei immer Zweifel bleiben, ob er jemals angekommen sein soll (eine
Umweg-Parallele zur Unwissenheit des Lesers des Buches, der nie in den Genuß
auch nur eines Archimboldi-Satzes kommt). Eine trübe Stimmung macht sich unter
den Kritikern breit; Norton fliegt zurück (und landet in Italien bei Morini).
Espinoza bändelt unterdessen mit einer sehr jungen Teppichverkäuferin an während
Pelletier in der Hotellobby die Romane von Archimboldi zum wiederholten Mal
liest. Amalfitano ist großen Stimmungsschwankungen unterworfen, manchmal seltsam
fahrig, dann wieder der perfekte Gastgeber, was zu den wildesten Spekulationen
Anlaß gibt.
Über Amalfitano handelt dann der zweite Teil (mit knapp 80 Seiten das kürzeste
Kapitel). Er kommt eigentlich aus Spanien und ihn hat es durch letztlich
ungenannte Umstände nach Mexiko verschlagen. Seine Frau geht eines Tages aus dem
Haus und lässt ihn mit der kleinen Tochter alleine. Jahre später kehrt sie kurz
wieder zurück, hat in Frankreich ein weiteres Kind bekommen. Sie hat AIDS und
verlässt Amalfitano nach kurzer Zeit wieder. Privat gescheitert und mit dem
Gefühl des verkannten Intellektuellen wird er immer schrulliger. Seine Vorträge
an der Universität werden fast unverständlich. Eines Tages hört er eine Stimme,
die er mal für den Großvater, dann wieder für den Vater hält; er wird
wahnsinnig, glaubt aber, den Wahnsinn beherrschen zu können, wenn er ihn als
solchen annimmt. Derweil taucht seine Tochter Rosa in der Jugendszene von Santa
Teresa immer weiter ein.
Der dritte Teil handelt von dem schwarzen amerikanischen Kulturreporter Quincy
Williams (der merkwürdigerweise Oskar Fate genannt wird). Fates Mutter ist
gestorben und durch die Ermordung des Kollegen, der sich mit dem Boxen
beschäftigt, wird er von seiner Redaktion gebeten eine Sportreportage über einen
Boxkampf zu machen, der in Santa Teresa stattfindet (ein Kampf zwischen einem
amerikanischen und einem mexikanischen Boxer – eine verkrampfte Allegorie auf
das ambivalente Verhältnis zwischen den USA und Mexiko). Durch Gespräche mit
Einheimischen und lokale Berichte wird Fate auf die Mordserie aufmerksam. Der
Boxkampf bringt den erwarteten Sieger (Fate trifft am Ring Rosa Amalfitano, die
ihn fasziniert). Er bittet seine Redaktion, über die Mordserie berichten zu
dürfen, was jedoch abgelehnt wird, da kein Interesse daran bestünde. Gegen Ende
verbündet er sich halbherzig mit einer Journalistin und besucht mit ihr den
Hauptverdächtigen der Morde im Gefängnis. Es ist Klaus Haas, ein großer, blonder
Mann, ein Deutscher, der die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, seit
Jahren auf die Wiederaufnahme seines Verfahrens wartet (seit seiner Inhaftierung
ging die Mordserie unvermindert weiter) und Pressekonferenzen aus dem Gefängnis
heraus mit dem Handy organisiert und in der Gefängnishierarchie sehr schnell zur
Führungsfigur aufsteigt.
Einhundertvier
Ermordete auf dreihundertzweiundvierzig Seiten
Der vierte Teil beginnt im Jahr 1993 (endet Ende 1997) und listet
litaneiartig die teilweise fürchterlich entstellten Leichenfunde auf. Es sind
einhundertvier tote Frauen (vom zehnjährigen Kind bis zur reifen Ehefrau) auf
dreihundertzweiundvierzig Seiten. Trotz diverser Exkurse, beispielsweise über
einen vermutlich sakrophobischen Kirchenschänder, der unterschiedlichen
Charaktere der Gerichtsmediziner von Santa Teresa, den Frauenwitzen der Polizei,
einem Snuff-Video-Ring (der dann doch nicht zu existieren scheint) und dem
Besuch eines amerikanischen Profilers, der die örtliche Polizei unterstützen
soll - unweigerlich beginnt der durch Lektüre und entsprechende Filme
konditionierte Leser kriminalistische Überlegungen, sucht nach einem Schema,
nach Gemeinsamkeiten, kurz: er betätigt sich als Amateurkommissar, folgt den
Spuren, entwickelt Theorien, versucht, "Täterprofile" zu phantasieren. Dies
alles bleibt jedoch fruchtlos; das Buch verweigert sich jeder Aufklärung. Zu
unterschiedlich die Art und Weisen der Ermordungen (auch hier werden stets alle
Einzelheiten ausgebreitet – vom Verwesungszustand bis zum Interesse der
medizinischen Fakultät von Santa Teresa an dem Leichnam). Und zu verschieden die
Opferprofile, obwohl es meist Arbeiterinnen aus den im Umland befindlichen
Billiglohnfabriken sind.
Die Polizei ist überfordert, aber auch desinteressiert. Die Fälle werden häufig
sehr schnell ad acta gelegt; Spurensicherung am Tatort ist meist ein Fremdwort
und gibt es Spuren, die weiter verfolgt werden müssen, dann versagt
merkwürdigerweise oft Kommunikationswege oder es gibt wider Erwarten kein
Resultat. Als einige Opfer vorher in einem bestimmten Fahrzeugtyp ("Peregrino")
einsteigend gesehen wurden, werden die Ermittlungen in dem Moment eingestellt,
als die Polizisten sich bei einigen dicken Fischen unbeliebt gemacht
hatten, deren Söhne, die Jeunesse dorée von Santa Teresa, nahezu die gesamte
Peregrino-Flotte der Stadt besaßen.
So sind die Kommissare desillusioniert oder korrupt oder beides (früh wird der
potentielle "Nachwuchs" auf das bestehende System vergattert). Der Polizeichef
wird mit dem amerikanischen Konsul, dem Bürgermeister und mit Personen, die als
Drogenbosse verdächtigt werden, bei Festen oder Zusammenkünften gesehen.
Offiziell gilt die Mordserie mit der Verhaftung von Klaus Haas als
abgeschlossen, obwohl sie weitergeht. Später nimmt man noch eine andere Gruppe
fest – mit ähnlichem Resultat. Haas beschuldigt aus dem Gefängnis heraus in
einer Pressekonferenz eine in der Stadt hoch angesehene Familie der Morde, aber
niemand glaubt ihm.
Von der Unmöglichkeit,
zu weinen
Nur einer ragt da heraus: Der Mittdreissiger Juan de Dios Martínez. Er
sichert noch gewissenhaft Spuren. Wo andere fünf Stunden brauchen um an den
Tatort zu kommen, ist er in einer Stunde da. Er sucht und befragt Zeugen und er
klärt Fälle auf (allerdings nur diejenigen, die nichts mit dem/den Serienmördern
zu tun haben; auf die anderen wird er irgendwann gar nicht mehr angesetzt).
Martínez ist die Kerze in diesem Panoptikum der Düsternis. Er hat ein Verhältnis
mit einer rund fünfzehn Jahre älteren Ärztin und Leiterin einer Irrenanstalt,
die er bei den Ermittlungen zum Kirchenschänder kennen- und liebenlernt. Die
wohlhabende und gebildete Frau, die sich Martínez alle vierzehn Tage in ihrer
Wohnung in einem festen Ritual hingibt, will einerseits diesen Ort verlassen und
sich in Europa neu etablieren – ist aber andererseits dazu nicht in der Lage.
Es sind diese Szenen der Kontemplation (hier bleiben uns auch schlüpfrige
Details aus der Zusammenkunft der beiden erspart), die dann aus dem
Nachrichtenton und im Strudel der immer dichter werdenden Endzeitstimmung
herausragen und diesen Teil des Romans zum lesenswertesten machen. So sitzt
Martínez einmal im Auto, lehnte den Kopf an den Lenker und versuchte zu
weinen, was ihm nicht gelang. Ein andermal geht ihm ein Fall so nahe, dass
er den Kopf in die Hände vergrub und seinen Lippen entschlüpfte ein
schwaches, deutliches Jaulen, als würde er weinen oder mit den Tränen kämpfen,
aber wenn er schließlich die Hände wieder sinken ließ, kam nur seine alte, von
der Mattscheibe erleuchtete Visage zum Vorschein, seine alte, unfruchtbare,
trockene Haut, und nicht die Spur einer Träne. Er, der die Menschheit in
diesem Moment noch retten könnte, vermag nicht mehr zu weinen.
Das letzte "Buch" erzählt,
nein: berichtet das Leben von Hans Reiter (alias Benno von Archimboldi (die Nähe
zum
italienischen Renaissance-Maler
ist, so wird berichtet, durchaus gewollt). Obwohl 1920 geboren, erscheint
Reiters Kindheit eher im 19. Jahrhundert angesiedelt zu sein. Die
Kriegserzählungen – personal und ohne jede Empathie erzählt – zeigen einen
somnambul-todesmutig taumelnden Soldaten Reiter (bei allen großen Unterschieden
ist hier eine Parallele zu Ernst Jünger), der sich häufig furchtlos den
gegnerischem Feuer entgegenstellt. Danach flacht dieses Kapitel zusehens ab. Die
Irrungen, Wirrungen und später dann auch Vögeleien sind von aufreizender
Langeweile. Reiter/Archimboldi entwickelt solipsistische Züge. Man erfährt noch,
dass Klaus Haas, der Gefangene in Santa Teresa, der Sohn von Reiters Schwester
ist. Als diese nicht mehr weiterweiß, bittet sie ihren zehn Jahre älteren
Bruder, zu intervenieren. Und mit dem letzten Satz es Buches fliegt Reiter dann
nach Mexiko.
Und doch gibt es hier
mächtige Szenen wie beispielsweise der Kontrast zum vergeblichen Trauernden
Martínez, der sich in Reiters Kindheit zeigt, als der sechsjährige plötzlich
unter Wasser vor Glück weint. Oder der 25jährige, dem Krieg gerade
entronnen, der in einem Kleiderladen bei der Vergegenwärtigung des scheinbar
baldigen Todes seiner Geliebten unmittelbar das stumme Weinen beginnt und dann
das Fliessen der Tränen einsetzt.
So muss wohl irgendwann zwischen 1950 und 1993 die Hoffnung für die Menschheit
verloren gegangen sein. Santa Teresa ist der Ausgangspunkt dieser umfassenden
Trostlosigkeit, die, präziser gesagt, eine Ent-Tröstung ist. Die letzten Tage
der Menschheit im vermeintlichen Frieden. Santa Teresa als Hauptstadt der
Vergeblichkeit. Obwohl die einzelnen Kapitel einigermaßen feste Zeitrahmen haben
(1994-1998/99; ab 1998; ab 2002; 1993-1997; 1920-2001) sind sie Projektionen an
eine Zukunft, die sich im Blick auf Santa Teresas Vergangenheit und Gegenwart
formt und den Globus überziehen wird.
Wie beiläufig dann eine Art von Lösung, in der Reiter mitten im Russlandkrieg
einen Glücksmoment erlebt, der ihn so frei wie noch nie in seinem Leben
macht: Die Möglichkeit…, dass alles nur ein Trugbild sein könnte,
beschäftigte ihn. Das Trugbild war eine Besatzungsmacht der Wirklichkeit, dachte
er, die noch die äußersten und entlegensten Bereiche der Wirklichkeit
kontrollierte. Es lebte in den Seelen der Leute und in ihren Gebärden, in ihrem
Willen und im Schmerz, in der Art, wie einer seine Erinnerungen ordnete, und in
der Art, wie er Prioritäten setzte. Das Trugbild blühte in den Salons der
Industriellen und in der Unterwelt. Und natürlich ist der
Nationalsozialismus das zu absoluter Herrschaft gelangte Trugbild. Aber
auch Liebe sei im Allgemeinen auch nur ein Trugbild…die Liebe, die
Partnerliebe mit Frühstück und Abendessen mit Eifersucht und Geld und
Traurigkeit, ist Theater, also Trugbild.
Spinnt man diesen Gedanken weiter, so scheint dann auch das Trugbild des
Humanismus an einem Ort wie Santa Teresa wie bei einer archäologischen
Ausgrabung als Relikt der Vergangenheit freigelegt zu werden (oft erinnern die
Leichenfunde an archäologische Objekte; auch was die Bergung angeht).
Hochambitionierte
Verrätselungen
"Manischer Realismus" wird Bolaño mit diesem Buch nachgesagt. Eine ebenso
zutreffende wie unvollständige Charakterisierung. Das Manische zeigt sich vor
allem in den schier unerschöpflichen Schilderungen der geschundenen,
missbrauchten, verstümmelten Leichen. Und Bolaño erwähnt Kafka viel zu häufig,
um nicht eine Art Fortschreibung der Kafka-Halb- und Zwischenwelten angestrebt
zu haben; er kopiert seinen Ton manchmal bis fast zur Paraphrase. Hinzu kommen
die philosophischen Fingerübungen, die nur manchmal überzeugen und unzählige
Allegorien, Anspielungen und Nebelkerzen, die mit scheinbar diebischem Vergnügen
eingebaut wurden. Im Kapitel über Archimboldi scheut er sogar nicht davor
zurück, einen von den eigenen Soldaten ermordeten rumänischen General als
Gekreuzigten (mit grossem Gemächt, dessen Aktion Reiter Jahre zuvor
beobachtete, als dieser eine Frau damit penetrierte, die später Anne Bubis
wurde) zu inszenieren.
Oder man taucht in zahllose Binnenerzählungen ein und in den Binnenerzählungen
erscheinen weitere Binnenerzählungen, die jedoch in den meisten Fällen ins
Nichts führen und nie mehr aufgegriffen werden. Das sind dann irgendwann zu
viele fruchtlose Verirrungen. Dieses so bemüht wirkende Scharadentum (von Ferne
an David Lynchs Fernsehserie "Twin Peaks" erinnernd oder auch – in seiner
Episodenhaftigkeit und Staffelübergabe der Handlung an den "nächsten"
Protagonisten – an Jacques Rivettes cineastisches Opus Magnum "Out 1 – Noli me
tangere") bleibt meist flache Imitation eines pseudo-geheimnisvollen
Existentialismussurrogats oder einfach nur Spielwiese für philologische
Sinnsucher, die hinter jedem Gebüsch eine Legion böser Geister vermuten.
Alles wird dieser
Verrätselung untergeordnet. Es beginnt schon mit dem merkwürdigen Titel des
Buches. So wird berichtet, Bolaño habe selber, kurz vor seinem Tod, 2666 als
eine Art Endzeitjahr genannt. Zahlenmystiker entdecken hierin ein 2 Mal 666 -
die Zahl der Apokalypse aus der Offenbarung Johannes. Wieder andere ziehen
Verweise aus anderen Bolaño-Romanen heran und erklären den Titel damit. Oder
wurde beim Schreiben zu schnell getippt – statt »"666"« blieb »2666"«. Man
könnte auch auf die Idee kommen, Bolaño paraphrasiere Kubricks "2001" und
transformiert die Odyssee im Weltraum auf die Erde.
Aber während Kafkas Welt ein Überall-Ort in einer Überall-Welt sein kann, bleibt
Santa Teresa im Buch Santa Teresa im Jahr 1993 bis 2002 (auf die tatsächlichen
Parallelen zum mexikanischen Grenzort Ciudad Juárez und der dortigen
Frauenmordserie wird im kurzen Nachwort von Ignacio Echevarría verwiesen). Der
große Fehler dieses überdimensionierten Romans ist, dass dem Leser die
Möglichkeit der Distanzierung zu einfach gemacht wird. In postmoderner
Gemütlichkeit kann man sich jederzeit problemlos aus dem Roman flüchten und die
Protokollperspektive des Erzählers annehmen. Man liest dann bestenfalls eine
Reportage; die Sprache ist stumpf. Zu sehr scheint sich Bolaño auf Effekte und
Affekte zu verlassen (zudem lässt das letzte Kapitel erahnen, dass der Autor es
nicht mehr fertigstellen konnte). Das Buch – und selbst dieses abscheuliche
Kapitel der Verbrechen – packt den Leser nicht. Zu selten wird eine Intensität
erreicht, die berührt. Fülle und Fluktuation des Personals, welches insbesondere
in den direkten Santa-Teresa-Kapiteln (letztes Drittel des 1., Kapitel 2-4)
ausgebreitet wird, lassen Empathie mit oder gegen die Figuren nicht oder kaum zu
(Ausnahme ist die bereits erwähnte Figur des Kommissars). Was den Leser
bestenfalls bei der Stange hält ist Neugier auf das Exotische oder vielleicht
eine fortlaufende Entrüstung.
Wie aufdringlich die intertextuellen Rekurse eingearbeitet sind. Von Thomas
Manns Todesstadt Venedig über den lateinamerikanischen magischen Realismus, den
Satzschrauben eines Thomas Bernhard, Doris Lessings "Memoiren einer
Überlebenden", der moralischen Verkommenheit der Protagonisten aus Hubert Selbys
"Letzte Ausfahrt Brooklyn" bis zu Nuancen aus Brent Easton Ellis'
psychopathischen Massenmörder "Bateman" aus "American Psycho" – um nur einige
wenige anzugeben.
Somit ist dieses Buch für Literaturexegeten ein schier unerschöpflicher
Steinbruch. Sie überschlagen sich daher auch folgerichtig mit Lob für dieses
monströse Stück Literatur-Literatur, weil sie in Querverweisen ihr
literarisches, cineastisches, kunsthistorisches, dramatisches und/oder
historisches Wissen verwursten und mit immer neuen Assoziationsgewittern
brillieren können, die am Ende so richtig wie falsch sind und kaum
Erkenntnisgewinn bringen. Als wäre dieses Behaupten von Authentizität, welches
in diesem Buch praktiziert wird, schon Ausweis für Qualität. Freilich, den
blutleeren Schreibschulliteraturen, die die Kritik so oft und so voreilig in den
Literaturhimmel hebt (teils aus Angst, sich mit wirklichen Talenten
auseinanderzusetzen, teils aufgrund ästhetischer Rostspuren in ihrem Getriebe),
ist dieser Roman natürlich meilenweit überlegen. Aber es bleibt ein irgendwie
potemkinscher Roman: hinter den Fassaden sitzen nur die Deuter. Glauben Sie
ihnen kein Wort, denn sie projizieren nur ihren eigenen Roman in dieses Buch.
Tatsächlich macht die Lektüre von "2666" nicht einmal unglücklich. Sondern nur
apathisch. Lothar Struck
Die kursiv gesetzten Passagen
sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
|
Roberto Bolano
2666
Roman
–
übersetzt aus dem Spanischen von Christian Hansen
Hanser Verlag
Hardcover, 1096 Seiten
29.90 € 49.90 sFR
ISBN
978-3-446-23396-6
Leseprobe
Homepage Roberto Bolano
Leserblog zu 2666
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