Schritte näherten sich, ein Schlüssel wurde herumgedreht, die Tür sprang auf, und eine Frau in einer dreckigen Schürze sah mich prüfend an. Ich sagte meinen Namen, sie nickte und schloß die Tür.
Gerade als ich noch einmal läuten wollte, ging die Tür wieder auf: eine andere Frau, Mitte vierzig, groß gewachsen und mager, schwarze Haare und fast asiatisch schmale Augen. Ich sagte meinen Namen, mit einer knappen Handbewegung bedeutete sie mir, hereinzukommen. "Wir haben Sie erst übermorgen erwartet!"
"Ich habe es früher geschafft." Ich folgte ihr durch einen möbellosen Flur, an dessen Ende eine Tür offen stand; von dort hörte ich durcheinanderredende Stimmen. "Ich hoffe, das macht keine Umstände." Ich gab ihr Zeit, damit sie beteuern konnte, es mache keine, aber sie tat es nicht. "Das mit der Straße hätten Sie mir aber sagen können! Ich bin einen Feldweg heraufgekommen, ich hätte abstürzen können. Sie sind die Tochter?"
"Miriam Kaminski", sagte sie kühl und öffnete eine andere Tür. "Warten Sie bitte!"
Ich ging hinein. Ein Sofa und zwei Stühle, auf dem Fensterbrett ein Radio. An der Wand hing das Ölbild einer dämmrigen Hügellandschaft; vermutlich Kaminskis mittlere Periode, frühe Fünfzigerjahre. Über der Heizung war die Wand rußig verfärbt, an ein paar Stellen hingen Staubfäden von der Decke, bewegt von einem nicht spürbaren Luftzug. Ich wollte mich setzen, aber in diesem Moment kamen Miriam und, ich erkannte ihn sofort, ihr Vater herein.
Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er so klein war, so winzig und unförmig im Vergleich zu der schlanken Gestalt auf alten Abbildungen. Er trug einen Pullover und eine undurchsichtige schwarze Brille, die eine Hand lag auf Miriams Arm, die andere stützte sich auf einen weißen Spazierstock. Seine Haut war braun und auf ledrige Art faltig, die Wangen hingen schlaff herab, seine Hände wirkten übergroß, die Haare standen wirr um seinen Kopf. Er trug abgewetzte Cordhosen und Turnschuhe, der rechte war nicht zugebunden, und die Schnürsenkel schleiften hinter ihm her. Miriam führte ihn zu einem Stuhl, er tastete nach der Armlehne und setzte sich. Sie blieb stehen und sah mich aufmerksam an. "Sie heißen Zöllner", sagte er.
Ich zögerte, es hatte nicht wie eine Frage geklungen, auch mußte ich einen Moment grundloser Schüchternheit überwinden. Ich streckte die Hand aus, begegnete Miriams Blick und zog sie wieder zurück; natürlich, ein dummer Fehler! Ich räusperte mich. "Sebastian Zöllner." "Und wir warten auf Sie."
War das nun eine Frage gewesen? "Wenn es Ihnen recht ist", sagte ich, "können wir sofort beginnen. Ich habe alle Vorarbeiten gemacht." Tatsächlich, ich war fast zwei Wochen lang unterwegs gewesen. Ich hatte noch nie soviel Zeit einer einzigen Sache gewidmet. "Sie werden überrascht sein, wie viele alte Bekannte ich gefunden habe."
"Vorarbeit...!" wiederholte er. "Bekannte."
Leichte Unruhe stieg in mir auf. Verstand er, was ich sagte? Seine Kiefer bewegten sich, er legte den Kopf schief und schien, aber natürlich war das eine Täuschung, an mir vorbei auf das Bild an der Wand zu sehen. Ich blickte Miriam hilfesuchend an.
"Mein Vater hat wenig alte Bekannte."
"So wenige nicht", sagte ich. "Allein in Paris ..."
"Sie müssen entschuldigen", sagte Kaminski. "Ich komme gerade aus dem Bett. Ich habe zwei Stunden lang versucht einzuschlafen, dann habe ich eine Schlaftablette genommen und bin aufgestanden. Ich brauche Kaffee."
"Du darfst keinen Kaffee trinken", sagte Miriam.
"Eine Schlaftablette vor dem Aufstehen?" fragte ich.
"Ich warte immer bis zum Schluß, für den Fall, daß ich es allein schaffe. Sie sind mein Biograph?"
"Ich bin Journalist", sagte ich, "schreibe für mehrere große Zeitungen. Zur Zeit arbeite ich an Ihrer Lebensgeschichte. Ich habe noch ein paar Fragen, von mir aus können wir morgen anfangen."
© 2004, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.