III. Neue Welt
Was tun, wohin sich wenden? Nach Bolivien wollten wir nicht zurück. Zu den USA, dem großen Magneten der Auswanderer, hatten wir keine Beziehungen. Der Krieg war inzwischen wirklich zu Ende gegangen, man hatte in Santiago zur Feier ein wenig auf den Straßen getanzt, aber man war immer weit vom Schuß gewesen, und jetzt war man zu weit vom Waffenstillstand, um sich im täglichen Leben davon getroffen zu fühlen. Der Gedanke an eine Rückkehr nach Europa kam zu diesem Zeitpunkt keinem vom uns. Die Vorstellung vom Verbannten, der jahrelang auf seiner unausgepackten Kiste sitzt, dem Signal entgegenfiebernd, das ihn in die Heimat zurückruft, mochte auf einige Exilschriftsteller zutreffen, aber nicht auf uns, wir hatten ja in Europa nichts und niemand, zu dem wir zurückkehren konnten. Wir fühlten uns nicht als verbannt, sondern als vertrieben, aus Emigration war längst Immigration geworden, nur waren wir im Augenblick ohne Land, in das wir "immigrieren" konnten. In der Not reaktivierten wir einen alten Plan, wir hatten ja einen Verwandten in Ecuador, mit dem wir in Briefwechsel standen und der uns sehr aufmunterte, es mit diesem Land als nächstem zu versuchen. Die Beendigung des Krieges erleichterte die Ausführung solcher Vorhaben, ein Visum wurde erstaunlich bald beschafft, ein ganz solides sogar, das uns nicht nur zum Besuch Ecuadors, sondern zur regelrechten Einwanderung berechtigte.
Die Gastvorstellung in Santiago hatte bloß ein halbes Jahr gedauert. Ohne tieferen Trennungsschmerz schifften wir uns eines Abends im reizvollen Valparaiso ein und sahen den berühmten Halbkreis seiner Lichter hinter dem Horizont verschwinden, während sich unser Küstendampfer langsam nordwärts pflügte. Ich liebe Seereisen sehr und genoß diese Fahrt, von Pelzen, Korrespondenzen und Grammatikpauken befreit, in vollen Zügen.
(...)
An meinem 23. Geburtstag landete ich mit einer Mischung von Bedauern und Erwartung im ecuadorianischen Hafen Guayaquil.
Dort erreichte uns durch das internationale Rote Kreuz seit Jahren die erste Nachricht von unseren Preßburger Verwandten, eine Trauerbotschaft. Sie stammte vom ältesten Bruder meiner Mutter und bestand aus zwei französischen Worten: "Resté seul". Von der ganzen, vielverzweigten Familie war er der einzige Überlebende.
(S. 161 ff)
© 2005, Verlag C. H. Beck, München.