Gelesen von Stefan Fleming
Spielzeit: 68:39 Min.
ISBN 3-7085-0001-6
Preiser Records 2002
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzte in Europa eine Globalisierungswelle ein, mit ähnlichen Folgen wie heute. Dazu gehörte auch eine starke Migration in die Zentren der Entwicklung, etwa nach Berlin und Wien. Das schuf auch den Markt für eine Literatur, die sich mit der Herkunft der Zuwanderer beschäftigte. Das Interesse an "exotischen" Bräuchen und "ethnologische" Neugier wurden befriedigt durch Schriftsteller wie Leopold Kompert, Leopold von Sacher-Masoch, Karl Emil Franzos und anderen.
Karl Emil Franzos (1848-1904) dessen Werke mit Ausnahme seines posthum erschienen Entwicklungsromans "Der Pojaz" nur antiquarisch erhältlich sind, ist ein Erzähler, dem es trotz seiner didaktischen Tendenz gelingt, Leserin und Leser anzurühren. Seine Figuren, die sich in den fernen Welten Galiziens oder Podoliens bewegen, gehen einem nahe, obwohl sie für Franzos vor allem dazu dienen, seine Vorstellungen einer positiven humanen Entwicklung zu transportieren, und wir genau sehen, dass sie nicht echt sind.
Auch die beiden von Stefan Fleming auf der CD von Preiser Records gelesenen Erzählungen geben mit den genauen Namen und der exakten Angabe der Zeit vor, aufgefundenen Wirklichkeit und nicht Erfundenes zu berichten. Franzos wäre in dieser Beziehung heutzutage sicher ein begabter Entwickler von Infotainment-Programmen.
Auch Infotainment kann anregend sein. Das belegt die Erzählung "Matthias Zenner", vordergründig eine skandalöse Liebes- und Familiengeschichte, dahinter aber eine Abhandlung über Recht und Gesinnung und die Folgen eines Karrierestrebens, das Menschen instrumentalisiert. Dass der Erzähler der Vorgänge ein Freund alles Deutschen ist und Schillers "Don Carlos" als Dingsymbol vorkommt, stellt einen Bezug zum zweiten Beitrag der CD dar.
Die Erzählung "Schiller in Barnow" ist eine köstliche Studie über die Rezeption von Literatur am Beispiel Schillers und seiner Leser im podolischen Städtchen Barnow. Der Reihe nach werden vorgeführt: ein schriftstellernder Graf, der in Schiller investiert um eine Frau zu gewinnen, die ihn vor dem finanziellen Ruin retten soll; der Stadtarzt Tulpenblüh, der via Schiller eine Welt erblickt, "die er nicht gekannt hatte"; die Frau des Bezirksrichters, eine "Klatschrose", für die die Schiller-Bände Erinnerungen an ihre Liebhaber sind; ein bettelarmer Talmudgelehrter, für den Schiller Zuflucht in eine lichtere Welt ist und schließlich drei Freunde, Franziskus, Basil und Israel, an denen sich erweist, dass Schiller als Freund taugt und sogar Freunde macht. Karl Emil Franzos ist voller Optimismus, dass die in Schiller verkörperte deutsche Kultur die Gegensätze zwischen katholischen Polen (Franziskus), orthodoxen Ruthenen (Basil) und Juden (Israel) überwinden kann. Vor dem Hintergrund der Europahymne ist es nicht ganz unkomisch, dass sich die drei für das "Lied an die Freude" als Zeichen ihrer neuen Freundschaft entscheiden. Wir wissen, wie die Geschichte mit diesem Kulturoptimismus verfahren ist. Franzos Idee von der deutschen Klassik als Leitkultur ist gescheitert, über Leitkultur wird allerdings wieder diskutiert. Auch insofern sind die Texte dieses altösterreichischen Schriftstellers aktuell.
Stefan Fleming liest souverän, leiht den einzelnen Figuren eine je eigene Stimme. Das Zuhören macht nicht müde, gerne lässt frau/man sich in die ferne und exotische Welt von Franzos' "Halb-Asien" entführen. Das Booklet verdient den Namen nicht wirklich, enthält aber immerhin einen informativen Text zu Franzos, eine Liste ausgewählter Werke und Daten zum "Sprechsteller" Stefan Fleming, der übrigens 2002 für sein Kafka-Hörbuch den Preis der deutschen Schallplattenkritik erhalten hat.
Originalbeitrag
Helmut Sturm
8. Jänner 2003