Lesungen im Antiquariat Buch & Wein
Aufgenommen im Antiquariat Buch & Wein
2 CDs; EUR 15,-
Spieldauer: ca. 145 Min.
Wien: Kulturverein Schäffergasse, 2002
Einen "Lesungshäretiker" nannte Cornelia Niedermeier Richard Jurst, den Inhaber des Antiquariats "Buch & Wein", im "Standard" und spielte damit auf das (angenehm) von anderen Veranstaltungsorten differierende Klima seines Kellerantiquariats an. Wer einmal in den Genuss einer Lesung in der Schäffergasse im 4. Wiener Bezirk gekommen ist, weiß, wovon die Rezensentin schwärmt. Eine Ledercouch, die vielen kostbaren Bücher in gedämpftem Licht wie auch das gute Glaserl Wein lassen Wohnzimmerstimmung aufkommen. Zusammen mit der originellen Mischung aus Lesungen von heimischen und ausländischen AutorInnen, DebütantInnen und arrivierten SchriftstellerInnen, bietet Richard Jurst eine Atmosphäre, die das Publikum in immer größerem Maße würdigt. Die etwa zehn bis zwölf Veranstaltungen, die Monat für Monat stattfinden, werden im Schnitt von 50 ZuhörerInnen besucht. Und das, obwohl die Unkosten von "Wiens einzigem privatem Literaturveranstalter", wie Jurst sich selbst nennt, durch Eintrittspreise abgedeckt werden müssen (was in der Stadt doch eine Ausnahme bedeutet). Als er 1998 sein Antiquariat - damals noch in der Judengasse im 1. Bezirk - eröffnete, wollte er mit einer Lesung pro Monat seine Kunden an das Lokal binden. Heute geben sich so prominente Namen wie Alexander Kluge, Gert Jonke, Wolf Haas, Elfriede Gerstl, Claudio Magris, Josef Hader, Roger Willemsen und zuletzt auch Hannes Androsch die Klinke buchstäblich in die Hand.
Die Lesungen, so Jurst, sollen in erster Linie Spaß machen und unterhalten. Dass sie dieser Maxime Folge leisten, beweist die anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Antiquariats zusammengestellte Doppel-CD, die mit 18 Autoren (z. B. Franzobel, Axel Hacke, Gert Jonke, Armin Thurnher, Peter Demetz, Robert Schindel, Joshua Sobol u. v. m.) und insgesamt 27 Ausschnitten einen Querschnitt aus 162 Lesungen der Jahre 2001 und 2002 bietet. Der größte Teil der dargebotenen Texte ist erstmals auf einem Tondokument zu hören wie beispielsweise die beiden Dramolette von Antonio Fian. In "André Heller fährt Taxi" lässt der Autor Heller nicht nur von einem Taxifahrer durch Essen chauffieren, wobei das Stadtbild von Essen, "nur Kennern kenntlich, zu gegebener Zeit an den Seitenfenstern des Taxis vorbeibewegt wird, so daß der Eindruck entsteht, das Taxi bewege sich durch Essen", sondern mit der Imitation von André Heller auch schauspielerische Qualität aufblitzen. Mit "Robert Menasse entdeckt sich in 'News'" bekräftigt Fian seine Position als Meister des schonungslos-bissigen kleinen Bühnenstücks, wenn er den Schriftsteller anhand eines Fotos in der Zeitschrift "News" die eigene Genialität rühmen lässt: "Ah, da schau! Ich! Gut, wie ich dasitz ... Wie ich schau ... Total versunken ... Gleichzeitig totaler Weitblick ... Sehr gut. Und dieser Stuhl! Bitte gib dir diesen Stuhl! Mörderstuhl! Muß man gar nichts verstehen von Stühlen, sieht man gleich: Stil. Überhaupt: Stuhl! Immer großartig, auch im Text. Früher hätte ich gesagt Sessel. Beharrt auf Sessel. Jugendtorheit. Lernprozeß. Wesentlich besser Stuhl. Sessel: Residenz. Suhrkamp: Stuhl."
Die erste CD scheint überhaupt dem Witzig-Satirischen verpflichtet zu sein. Josef Hader liest spitzfeine Bemerkungen über Fernsehen, Gott und die Welt aus der Feder von Telemax alias Robert Löffler. Der "Profil"-Kolumnist Rainer Nikowitz gibt mit Unterstützung von Florian Scheuba einige seiner satirischen Dialoge zum Besten, und Ö3-Moderator Oliver Baier verschreibt sich deutschen Schlagertexten, u. a. mit einer verschrobenen, aber durchaus lustigen Interpretation von Costa Cordalis' "Anita".
Freunde der etwas "anspruchsvolleren" Literatur seien auf die zweite CD verwiesen. Dort erzählt etwa der Literarhistoriker Peter Demetz von "seinem" Prag, liest George Clare aus seiner autobiografischen Familiengeschichte "Letzter Walzer in Wien" und rezitiert Robert Schindel (leider nur) zwei seiner zahlreichen Gedichte.
Bei der Vielzahl versammelter Autoren beschränken sich trotz einer Gesamtspielzeit von fast zweieinhalb Stunden die Lesungen letztlich nur auf kurze Ausschnitte. Die Ausnahme bilden hier - und das mit gutem Grund - die Aufnahmen von Alexander Kluge und Georg Kreisler. Im Falle des Schriftstellers und Filmemachers Kluge sind es weniger seine vorgetragenen Texte, sondern vielmehr seine Gedanken und kleineren Geschichten, die zu faszinieren wissen. So spricht er von den Gefühlen als den wahren Einwohnern menschlicher Lebensläufe, bezeichnet das Urvertrauen als besonderen Fund der Irrgläubigkeit, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass "dies aber auch der wertvollste Irrtum ist, den wir leben", und sieht im "Sich-Ausdrücken" das Wesentlichste eines Lebewesens, denn "der Pazifik kann", wie er sagt, "still sein, wir nicht!"
Den Abschluss bilden die Erinnerungen des Komponisten, Autors und Kabarettisten Georg Kreisler an seine Jugendjahre in Wien und an die Zeit des Exils, die der Künstler im Antiquariat "Buch & Wein" 2002 erstmalig präsentierte. Die Auszüge aus "Lola und das Blaue vom Himmel" stellen Fragmente einer teils realen, teils verfremdeten Autobiografie in einem makabren, ironischen Ton dar: "Als ich sechzehn Jahre alt war, ging das Klavierspielen noch recht gut, aber kurz danach mußten wir nach Amerika auswandern. Es war im Jahr 1938, ein besonders ungutes Jahr für Juden in Österreich, und ich mußte Jude üben, statt Klavier. [...] Denn im März 1938 wurde Österreich deutsch, für die Familie Kreisler das Todesurteil. Mein Vater nahm es nicht zur Kenntnis. Er war Rechtsanwalt und legte gegen Hitler Berufung ein." Im "Hollywood der Emigranten" verkehrte die Familie dann mit Zeitgenossen wie Billy Wilder, Ernst Deutsch und Arnold Schönberg, die alle beklagten, nun in einem "Sonnengefängnis mit Orangen vorm Fenster" leben zu müssen.
Die Doppel-CD bezeugt es: Im Antiquariat "Buch & Wein" tut sich was. Richard Jurst versteht es, kreative und abwechslungsreiche Leseabende zu gestalten. Und vielleicht stellt sich gerade deshalb am Ende die Frage, weshalb auf dem Tonträger keine Lesungen von Autorinnen vertreten sind. Eigentlich schade, denn Bettina Baláka und Elfriede Gerstl hätten genauso einen Platz verdient. Ein wenig bedauerlich ist auch die leider nicht allzu perfekte Aufnahmetechnik der Lesungen, worunter die Qualität des Hörvergnügens streckenweise leidet. Dass die CDs nicht im Handel, sondern ausschließlich über das Antiquariat zu beziehen sind, fällt nicht ins Gewicht - ein Besuch im "Buch & Wein" lohnt sich allemal.
Michael Hansel
30. März 2004