"Träume und Traumdeutung" gelesen von Juliane Köhler
"Krankengeschichten, die wie Novellen zu lesen sind" gelesen von Christiane Paul
"Das Unbewußte" gelesen von Hanna Schygulla
"Ödipuskoplex, Kastrationsangst, Penisneid" gelesen von Hans Kremer
"Liebesleben, Liebeskrankheit" gelesen von Gudrun Landgrebe
"Trauer, Wahn, Humor" gelesen von Roger Willemsen
"Das Interesse an der Psychoanalyse" gelesen von Ulrich Noethen
"Der Moses des Michelangelo" gelesen von Christoph Waltz
"Literatur, Religion, Krieg" gelesen von Michael Krüger
11 CDs
Laufzeit: ca 765 Min.
Euro 99,-
ISBN 3-89940-848-9
München: Der Hörverlag, 2006
Zahlreich sind die Hommagen und Aktionen, mit denen Sigmund Freuds 150. Geburtstag am 6. Mai dieses Jahres begangen wird. Die medialen Multiplikatoren sind emsig, und so kann man vieles davon gar nicht übersehen. Allen voran die umfangreiche Hörausgabe mit überwiegend selbständig erschienenen Textbeispielen aus Freuds Schaffen, die der Münchner Hörverlag in Kooperation mit der Wochenzeitung "Die Zeit" produziert hat. Auf elf CDs kann man hier in neun Kapitel geordnet Einblick nehmen in die vielfältigen und doch einander sehr ähnlichen Denk- und Themenfelder des Dr. Freud. Die Textauswahl basiert auf dem Freud-Lesebuch, das Cordelia Schmidt-Hellerau im S. Fischer Verlag zum Jubiläumsjahr zusammengestellt hat.
Was der Edition zweifellos gelingt, ist das Spektrum der Themen und Fragestellungen abzustecken, die Freud beschäftigten und die ihre Wirkung in die Zukunft entfaltet haben. Was eine Auswahl dieser Art schuldig bleiben muss, ist jeder Anflug von diskursiver Auseinandersetzung. Wenn im Kapitel II "Krankengeschichten, die wie Novellen zu lesen sind" (gelesen von Christiane Paul) der Fall "Katharina" gelesen wird, hat das eine pragmatische Erklärung sicher darin, dass diese Geschichte kompakt, abgeschlossen und leicht verständlich ist. Dass der Hörer, der mit dieser CD-Edition vielleicht erstmals Texte Freuds genauer kennenlernt, nicht erfährt, dass der missbrauchende Onkel nicht der Onkel, sondern Katharinas Vater war, und dass Freud dieses Faktum aus seiner Bedenklichkeit und dem Verständnis der Zeit heraus bewußt verfälscht hat, zeigt, dass eine unkommentierte Beschäftigung mit Freud am Beginn des 21. Jahrhunderts doch problematisch ist. Zumindest das aufwendig gestaltete Booklet, das auf 108 Seiten die Gesamtedition und jede der Abteilungen vorstellt, hätte diese Zusatzinformation liefern müssen. Es stellt sich insgesamt die Frage, ob eine diskursivere Aufbereitung der Edition nicht gut getan hätte, ohne dem Gewicht und der Reputation ihres Verfassers zu schaden. Wer soviel Interesse aufbringt, 13 Stunden Originaltexten von Sigmund Freud zu lauschen, dem darf man auch einiges Interesse an der Frage nach der Haltbarkeit seiner Theorien zutrauen.
Als bloße Lesetexte geboten, beschränkt sich der Kommentar zu Freud auf die unterschiedlichen stimmlichen Interpretationen der neun Schauspielerinnen und Schauspieler. Ein genialer Kommentar zu ihren jeweiligen Lesehaltungen gelingt dem Fotografen Helmut Henkensiefken. Er hat als Coverbilder der einzelnen CDs die jeweiligen SchauspielerInnen auf die rote Couch plaziert, und wie sie sich da dem Betrachter präsentieren, ist in einigen Fällen tatsächlich eine "Entdeckung auf der Couch" in Form einer geglückten Beschreibung ihrer akustischen Interpretation. Hans Kremer zum Beispiel sitzt in der Mitte der Couch, sehr breitbeinig, die linke Hand in scharfem Winkel auf das Knie gestemmt, während der rechte Arm den Hund hält, der artig zwischen den Beinen sitzt - gleichsam eine emotionale Brücke zum Hundeliebhaber Freud bildend. Es ist eine Pose maskuliner Selbstgefälligkeit - und genauso liest Hans Kremer das Kapitel "Ödipuskomplex, Kastrationsangst, Penisneid". Er moduliert sicher und geht voll auf in der professoralen Rolle des bedeutsamen Wissenschaftlers. Hier ist kein Millimeter Spielraum für Distanz zum Text, so als läsen sich Sigmund Freuds Abhandlungen nicht nur wie Literatur, sondern als wären sie es auch. Oder Hanna Schygulla: Sie sitzt etwas vorgebeugt, Beine ein wenig auseinandergestellt, die Arme auf den Knien, die Fingerspitzen aneinandergelegt, den Blick nach Oben in die Ferne gerichtet. Die ganze Haltung drückt Erwartung aus, so als gälte es, eine Botschaft aus dem Jenseits nicht zu verpassen. Genauso liest sie die Texte zum Thema "Das Unbewußte", und das ist in diesem Fall besonders ärgerlich, weil unpassend. Bedauerlich, was in dieser Intepretation aus Freuds - auch sprachlich - wunderbarem Text über den "Wunderblock" wird. Wir hören hier nicht Freud über die palimpsestartigen Strukturen der Erinnerungsarbeit nachdenken, sondern wir hören ihn "Wunder" entdecken, und das ist schade; es verdeckt für den Hörer völlig die intellektuelle Freude, mit der Freud seine Ideen über Analogien im Aufschreibesystem des Wunderblocks - der eine immer neu beschreibbare Oberfläche zur Verfügung stellte und doch die eingeritzte Spur der vorangegangenen Notizen auf der Wachsplatte bewahrte - und der Funktionsweise des menschlichen Wahrnehmungsapparates und seiner Gedächtnisarbeit. Wenn man diesen Aspekt von Freuds Notizen über den "Wunderblock" verpasst, hat man leider auch den Text verfehlt.
Wer die intellektuelle Offenheit und Wendigkeit entdecken will, mit der Freud seine Thesen entwickelt, sollte das Kapitel "Trauer, Wahn, Humor" anhören, gelesen von Roger Willemsen. Auch er liest so, wie er auf der Couch sitzt: Beine untergeschlagen, wild gestikulierend, verschmitzt grinsend - alle anderen halten ernste Mienen dem Freudschen Oeuvre gegenüber für angemessener -, sprungbereit, immer dem einen Gedanken nachhängend, während der andere schon in die Gegenrichtung zieht. An seiner Art zu lesen, mit starken Rhythmisierungen, auch spontanen Überbetonungen (da rutscht manches "göbbbste" u. ä. dazwischen) wird hörbar, wie hier einer im Schreiben Entdeckungen macht. Willemsen liest so, dass man das Erkenntnisinteresse, das Vorwärtsdrängen der Gedanken hört. Man glaubt, der allmählichen Verfertigung der Thesen beim Schreiben direkt beizuwohnen. Und das macht Lust, nicht nur auf die Hör-Edition, sondern auch auf das Selberlesen der Texte.
Was sich über das Hörerlebnis gut vermittelt, ist die starke Dialogizität von Freuds Sprache und Argumentation. Das meint nicht nur die regelmäßigen rhetorischen Leseranreden - diese Ebene erklärt sich zum Teil aus der Entstehung der Texte als Vorlesungen und Vorträge. Dialogisch bleibt Freud auch in der Entwicklung seiner Theorien: er argumentiert immer wieder gegen sich selbst, macht Einwendungen, bringt Relativierungen an, und eröffnet mit diesen Einschüben auch manch berührendes Psychogramm seiner Selbst. Zum Beispiel in der Abhandlung "Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds" aus dem Jahr 1925. In seiner vorsichtigen Art setzt er zu Beginn die prinzipielle Infragestellung des Folgenden: die Überlegungen seien noch nicht ausgereift, eigentlich müsste er mit der Publikation noch warten, aber dazu habe er jetzt im Alter "nicht mehr genug Zeit". Außerdem, so fügt er an, sei er nicht mehr allein in seinem Forschungsgebiet. Er könne den Jüngeren seine Erkenntnisse nicht vorenthalten, sagt er, und meint, dass die Konkurrenz nicht schläft. Es gilt also rasch zu sein, ein neues Feld zu markieren - und dieses Markieren war bekanntlich Freuds geringste Fähigkeit nicht. Enthalten ist dieser Text im mit 2 CDs vertretenen Kapitel "Liebesleben, Liebeskrankheit", das in der Auswahl vielleicht am wenigsten überzeugt. Aber das mag auch am etwas steifen, bemühten, überaus korrekten Vortrag von Gudrun Landgrebe liegen. Sie sitzt auf der Couch mit angezogenen Beinen, auch die Haltung ihrer Hände will Entspannung suggerieren, aber es gelingt ihr nicht; das Körpertraining befiehlt die Wirbelsäule bis zum Cranium in aufrechtester Faltenfrei-Haltung zu präsentieren. So kann kaum ein neugierig lockerer Zugang zum weiten Feld von Fetischismus, Analerotik oder dem Prinzip des geschädigten Dritten entstehen. Übrigens ist der einzige, der sich lesend auf der Couch abbilden ließ, Michael Krüger. Ihm gehört das Kapitel "Literatur, Religion, Krieg" - und er liest wie ein neugieriger Leser, und das ist nicht wenig.
Evelyne Polt-Heinzl
6. Mai 2006
Originalbeitrag
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