Leseprobe
In der Tür der Aufbahrungshalle bleibt Opa stehen und starrt den Sarg an, der leicht geneigt auf einem Sockel ruht. Erschreckt ihn der Anblick? Omas eingefallenes Gesicht, die aschfahle Haut. Die Gewissheit, dass sie wirklich tot ist. Was hat Opa im Auto gesagt? Es ist plötzlich unvorstellbar gewesen, dass er am Morgen aufwachen wird, die Betthälfte kalt und leer. Kein Rumoren von Oma in der Küche. Keine zärtlichen Zwiegespräche mit Durrutti. Die Angst vor der Stille, die der Tod hinterlässt, hat er es genannt.
- Soll ich das Licht aufdrehen?, fragt ein Mann, der geräuschlos die Aufbahrungshalle betreten hat. Er trägt einen schwarzen Umhang.
- Nein. Nicht nötig, antwortet Opa. Und danke, dass ich Marcella noch einmal sehen darf.
- Keine Ursache, winkt der Mann ab. Aber in zehn Minuten müssen die Kollegen den Sarg dann schließen.
- Nur noch zehn Minuten, klagt Opa und lässt meinen Unterarm los. Als er sich mit beiden Händen an der Sargkante abstützt und zu weinen beginnt, gehe ich aus der Halle.
Eine alte Frau mit einer giftgrünen Gießkanne wackelt vorüber. Als sie die offene Halle entdeckt, bleibt sie stehen und versucht, in das Innere zu spähen. Ich verstelle ihr den Blick, mit grantigem Gesicht geht sie weiter. Und während ich sie beobachte, wie sie einen Friedhofsgärtner anspricht, ihn in ein Gespräch verwickelt, in Richtung Halle deutet, höre ich Opas Stimme.
- Es tut mir leid.
Danach ein Röcheln, als wäre es sein letzter Atemzug.
(S. 119)
© 2009 Picus Verlag, Wien.