XI

Ach Freunde! welcher Winkel der Erde kann
Mich decken, daß ich ewig in Nacht gehüllt
Dort weine? Ich erreich‘ ihn nie, den
Weltenumeilenden Flug der Großen.

Friedrich Hölderlin
(Aus: Mein Vorsatz; Maulbronner Gedichte)

*

Hölder, wie ihn also seine Freunde nannten. Zu seinen Freunden zählt auch ihr euch inzwischen, denn bei allem, was ihr an persönlicher Aneignung um euch herum erlebt, kommt es ja nicht in Frage, dahinter zurückzustehen! Würde auch er euch zu seinen Freunden zählen? Oder wäre er alsbald vor eurer Zudringlichkeit auf der Flucht? Die Vermutung liegt nahe!

Ihr werdet zunächst nur einen kleinen Teil der Stätten aufsuchen können, an denen er sich aufhielt und die ihn prägten, aber dies stört euch nicht. Was euch mit ihm verbindet, kann nicht allein an geographischen Orten festgemacht werden. Dies würde eurer Sache nicht gerecht. Und Biographen wollt ihr ja nicht sein. Jene müssen selbstverständlich jede Menge Sorgfalt auf die zeitlich korrekte Abfolge der Ereignisse aufwenden. Aber auch hier zeigt sich, ob sie mit einem Ort persönliche Erfahrungen und Erinnerungen verbinden. Peter Härtlings Nürtingen in seinem biographischen Roman „Hölderlin“ ist es anzumerken: Hier ist jemand mit den Straßen und Plätzen vertraut, hat in dieser Stadt dieselben entscheidenden Lebensjahre verbracht. Eine Basis, von der ein Brückenschlag über die Zeiten gelingen kann. Maulbronn wiederum hat eine besondere Bedeutung für euch, ist ein Wegzeichen in eurer eigenen Geschichte.

Weitere Begegnungen ergeben sich hier. Große Namen, die im Gedächtnis der Zeiten fortbestehen. Allen voran der Astronom Johannes Kepler, von eurem Dichter verehrt und bewundert; in seiner Tübinger Zeit sollte er ihm eine Ode widmen. Justinus Kerner, allerdings kein Seminarist, der aber seine Kinderzeit in Maulbronn verbrachte, wohin sein Vater als Amtmann versetzt war, und dort von Stipendiaten unterrichtet wurde. Er verewigte seine Erinnerungen an jene Jahre im „Bilderbuch aus meiner Knabenzeit“. Hermann Kurz, Georg Herwegh und Hermann Hesse, der seine für ihn sehr belastenden Erinnerungen an die eigene Seminarzeit in seiner Erzählung „Unterm Rad“ verarbeitete. Eine schonungslose und sehr persönliche Auseinandersetzung mit den damals herrschenden Verhältnissen und der eigenen Biographie, die ihm vermutlich half, in späteren Jahren mit milderem, durchaus versöhntem Blick zurückschauen zu können. So entstand dies schöne Gedicht, welches die Stimmung im Kreuzgang sehr gut einzufangen und bis heute ein Wiedererkennen hervorzurufen versteht:

Verzaubert in der Jugend grünem Tale
Steh ich am moosigen Säulenschaft gelehnt
Und horche, wie in seiner grünen Schale
Der Brunnen klingend die Gewölbe dehnt…

Hermann Hesse
(Aus: Im Kreuzgang von Maulbronn)

Klingend die Gewölbe dehnt… – Allein dieses Bild!

Für diesmal nur die winterliche Stille des Kreuzgangs in sich aufnehmen. Das sonst in der Tat dessen Atmosphäre prägende Murmeln des Brunnens fehlt, wegen des Frostes ist das Wasser abgestellt. Stattdessen einen Eindruck von der durchdringenden Kälte gewinnen, die aus den uralten Steinen heraufsteigt, von den Mauern zurückgeworfen. Verstärkt empfunden durch den eisigen Wind, der – ohne jeglichen Respekt vor ehrwürdiger Architektur – pfeifend durch die von mehreren Stilepochen kündenden Kreuzgangfenster saust und die robusteste Winterkleidung zu durchdringen vermag.

„Man stelle sich vor“, sagst du, „zu Zeiten der asketischen Zisterzienser gab es nur für eine Stunde am Tag Gelegenheit, sich im Kalefaktorium aufzuwärmen. Das war die Wärmestube der Mönche, die durch Luftschächte von unten her beheizt wurde. Danach ging es unerbittlich wieder hinaus in die Kälte. Das wäre etwas für uns Zentralheizungsverwöhnte!“

Auch den Seminaristen dürfte zur Winterzeit die Kälte zugesetzt haben. Selbst wenn die Wohn- und Studierräume zwischenzeitlich mit Öfen ausgestattet waren, blieb doch die Kirche unbeheizt, und es gab immerhin mindestens vier fest einzuhaltende Gebetszeiten am Tag, unabhängig von der jeweiligen Jahreszeit. Zur Zeit eures Dichters waren dies das Morgengebet um 5 Uhr, die jeweilige Chorandacht vor dem Mittag- und Abendessen und das Abendgebet um 20 Uhr.

Einen Blick in die Stundenpläne der Seminaristen wirst du erst geraume Zeit später im Rahmen einer Ausstellung werfen können und so Gelegenheit finden, einen Stundenplan Hölderlins mit dem Johannes Keplers – zweihundert Jahre früher – und dem Hermann Hesses – hundert Jahre später – zu vergleichen. Demnach war für euren Dichter um 6 Uhr morgens Unterrichtsbeginn, wie auch schon früher für Kepler, der allerdings bereits um 4 Uhr in der Frühe zur Morgenandacht antreten musste. So kurz nach der Reformation war dessen Tagesablauf noch sehr viel mehr von den Horen, den aus klösterlicher Zeit übernommenen Stundengebeten, geprägt und getaktet.

Für Hesse, Ende des 19. Jahrhunderts, begann der Unterricht um 8 Uhr, zog sich jedoch an den Nachmittagen am längsten hin, manchmal bis über 18 Uhr hinaus. Das ihm so verhasste Fach Turnen gab es bei seinem Dichtervorgänger Hölderlin allerdings noch nicht. Dafür finden sich auffallend viele Stunden täglich für „Privatstudium“, oft wechselten sich diese mit den eigentlichen Unterrichtsstunden ab. Viel Zeit für selbständiges Lernen. Dies will geradezu modern anklingen! Darüber hinaus war in bestimmten, eigens dafür vorgesehenen Stunden ein wöchentlicher Aufsatz anzufertigen, Hebdomadar genannt, der auf Latein oder Griechisch zu erstellen war. Dies jedoch war den Seminaristen längst aus der Denkendorfer Zeit vertraut. Bereits für das zuvor in Stuttgart abzulegende Landesexamen, das euer Dichter mit überdurchschnittlichen Noten bestand, waren Aufsätze in lateinischer und altgriechischer Sprache zu erstellen.

Die im Maulbronner Stundenplan aufgeführten Schulfächer Hölderlins: Theologie, Latein, Griechisch, Hebräisch, Logik, Rhetorik, Musik, Arithmetik, Geographie und Weltgeschichte. Ein wenig zeigt sich hier noch der alte Fächerkanon der freien Künste. Deutlicher noch bei Kepler: Dialektik und Rhetorik regelmäßig zu Tagesbeginn, danach Chor und Religion. In den Nachmittagsstunden lateinische Lektüren – Vergil und Cicero – und Griechische Grammatik, ferner Astronomie, Arithmetik und Musik. Angehende Theologen sollten am Seminar – was nahe liegt – mit einer soliden sprachlichen Bildung für ihren späteren Beruf fit gemacht werden. Kepler zu seiner Zeit allerdings blieb an der Astronomie hängen, für die er sich, mathematisch begabt, schon als Kind interessiert hatte.

Bei Hermann Hesse hingegen finden sich, vom Turnen abgesehen, als modernere Schulfächer: Zeichnen, Deutsche Literaturgeschichte und Französisch. Das neusprachliche Fach Französisch allerdings ist auch schon in Hölderlins Zeugnissen vertreten. Mit der Note „Mittelmäßig“. Möglich, dass das Interesse an dieser Sprache, die er später hervorragend beherrscht haben soll, bei ihm erst durch die späteren Ereignisse der Französischen Revolution so richtig geweckt wurde.

Sechs Tage die Woche Unterricht bei dünn gesäten Pausen und Freistunden, dies wiederum ist allen drei Seminaristen aus den verschiedenen Epochen gemeinsam. Mit dem Unterschied, dass sich sowohl früher in Keplers als auch später in Hesses Stundenplan Freistunden und Pausen immerhin ausdrücklich erwähnt finden, in Hölderlins jedoch nicht. Verbarg sich dahinter die Erwartungshaltung, dass sich die Seminaristen möglichst in jeder freien Minute ihren Studien widmen sollten? In einem solchen Fall braucht es nicht allzu viel, um bei einem jungen Menschen die Schwelle zur Überforderung zu überschreiten.

Selbst während der Mahlzeiten gab es noch Lesungen nach klösterlicher Sitte. Wo und wann blieb Zeit, sich mit Altersgenossen auszutauschen? Etwas gemeinsam zu unternehmen? Gelegentliche abendliche Wirtshausbesuche soll es gegeben haben, selbstverständlich heimlich, verbotenerweise. Die Regeln waren streng, aber wohl doch schon weniger einengend als in den beiden Jahren zuvor in Denkendorf. Erstaunlicherweise schien Wein zu den als dürftig beschriebenen Mahlzeiten, die sich manch einer durch „Fresspakete“ von zuhause aufstocken ließ, durchaus üblich zu sein und wurde noch nicht einmal allzu knapp bemessen, mag es sich hierbei auch gewiss nicht um den besten gehandelt haben. Kaffee- und Teezubereitung hingegen galt als unerwünscht und wurde unter Umständen als Vergehen mit Karzer geahndet. Was euren Dichter nicht davon abhielt, seine Mutter in einem Brief um etwas Kaffee zu bitten, da die Morgensuppe ungenießbar sei. So sehr, dass er nach eigenen Worten am liebsten „vor Aerger die Schüssel an die Wand geworfen hätte“!

„Wenn ich mir vorstelle,“ sagst du schaudernd, „noch fast mitten in der Nacht mit Lernen beginnen zu müssen – und das alles ohne Kaffee oder wenigstens einen Tee! Dazu noch im Winter! Stattdessen womöglich eine schlapprige Haferschleimsuppe! Brrr!“

Zur inspirierenden Lage und Architektur des Klosters, das eigentlich für einen Lernort wie geschaffen wirkt, schien der Internatsalltag mit seiner Kargheit und seinen starren Regeln in erheblichem Kontrast zu stehen. Jahre später soll sich der schwäbische Dichter Hermann Kurz zum Abschied mit den an die Tür des Dorments, des Schlafraums, geschriebenen Dante’schen Worten aus dessen „Inferno“ verewigt haben: „Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet!“

Jedoch: Aus der Zeit, die euer Dichter hier verlebte, erfahrt ihr nicht viel Unmittelbares und Persönliches durch ihn selbst. Du suchst den Jugendlichen von sechzehn oder siebzehn Jahren. Die Pubertätsjahre mit all ihren Höhen und Tiefen, dem Gefühlschaos, den Selbstzweifeln, die es ja zu allen Zeiten bei Heranwachsenden gegeben hat, die wohl auch einem Genie kaum erspart geblieben sein dürften. Wo sind sie?

In seinen Briefen nach Hause erwähnt er den Ort selbst nur flüchtig, er beklagt sich selten, spricht stets von viel Arbeit, der er sich glaubhaft mit Ernst und sehr viel Disziplin zu widmen scheint. Seine Bitte um Kaffee verpackt er noch eher humorvoll. Etwas ausführlicher und deutlicher äußert er sich im Hinblick auf die Härten des Klosterlebens, die ihm doch sehr zu schaffen machen, gegenüber seinem Freund Immanuel Nast. Mit dessen Cousine Louise, der Tochter des Klosterverwalters, bahnt sich alsbald eine zarte Liebesgeschichte an, die ihm möglicherweise die Zeit um einiges erträglicher werden lässt. Sie wird zur „Stella“ in einigen frühen Gedichten. Die wenigen erhaltenen, sehr schönen Briefzeugnisse dieser Verbindung deuten bei aller für die erste Liebe typischen jugendlichen Schwärmerei  – „Was wir doch für Menschen sind – Liebe! Ich meine, dieser Augenblick, da ich bei dir war, sei seliger gewesen als alle, alle Stunden…“ – auf eine Beziehung, die getragen ist von großer Ernsthaftigkeit und gegenseitiger Achtung. Sie sollte allerdings die Maulbronner Tage nicht lange überdauern. Obwohl die beiden sich unterdessen sogar verlobt hatten und er, der als fleißig und begabt geltende Schüler – im Fach Poesie natürlich ein „Vorzüglich“! – als Schwiegersohn in der Familie durchaus gern gesehen gewesen wäre. Er löst das Verlöbnis während seiner nachfolgenden Tübinger Jahre, nennt als Gründe eigene Unzulänglichkeiten, unter denen Louise im Falle einer fortbestehenden Verbindung zwingend zu leiden hätte:  „…meine bösen Launen, meine Klagen über die Welt und was der Torheiten mehr sind, die mir zur andern Natur worden sind…“, erwähnt  „unüberwindlichen Trübsinn“, den er jedoch auf seinen „unbefriedigten Ehrgeiz“ zurückführt, ersucht sie gar, „einen würdigeren“ zu wählen, preist rückblickend das „Andenken jener seligen Tage, wo wir so ganz für uns lebten, dass uns kein Gedanke an die Zukunft trübte, keine Besorgnis unsere Liebe störte“ und versichert sie seiner ewigen Wertschätzung und Freundschaft. Zu diesem Zeitpunkt sind die Weichen für den künftigen Weg bereits gestellt, die Prioritäten sind klar gesetzt, die Unbeschwertheit ist endgültig dahin. Fühlte er, als einer, der Verantwortung offenbar sehr ernst nahm, sich nicht reif für eine Ehe, die ihm so gar nicht mit seinen ehrgeizigen Schaffensplänen vereinbar schien?

Ehrgeiz. In jenen Tagen liegen die Anfänge seines dichterischen Schaffens. Die „Maulbronner Gedichte“ – es existiert aus diesen Jahren eine eigens so bezeichnete Sammlung – sind vorwiegend Hymnen, zu denen du beim Durchblättern nur schwer Zugang findest; es geht dir mit ihnen ähnlich wie mit den Hymnen Schillers, dem nachzueifern euer Dichter in jenen Tagen sichtlich bemüht war. Dann aber stößt du in dem Gedicht „Mein Vorsatz“ auf die Stelle: „Ach Freunde…“ Sie lässt dich aufmerken. Ein Stoßseufzer, der so ganz und gar nicht an vermeintlich großen Vorbildern ausgerichtet scheint, sondern sehr authentisch herüberkommt, offensichtlich die tatsächliche innere Verfassung des jungen Dichters widerspiegelt – und zugleich bereits die ganze Tragik seines späteren Lebens vorwegzunehmen scheint. Das Gefühl, jeweils zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Denn, was Geltung und Rang zu haben hatte in der Welt des Dichtens und Denkens, das gaben andere vor, welche bereits die Plätze besetzt hielten, an denen die Fäden des geistigen und kulturellen Lebens zusammenliefen und gezogen wurden. Wo man es durchaus verstand, sich Konkurrenz – womöglich gar ernst zu nehmende! – fern oder zumindest ungefährlich klein zu halten.

War euer Dichter zu gradlinig, zu offen? Lag es ihm nicht, stand es seinem Naturell entgegen, sich durch hinreichende Ehrenbezeugungen – du verwendest heute den dir am treffendsten erscheinenden Begriff „Einschleimen“ – bei den sogenannten „richtigen“ Leuten die Türen zu öffnen, um sich auf diese zu keiner Zeit unübliche Weise seinen Anteil am großen Kuchen zu sichern? Der große Goethe jedenfalls soll ihn nach einer ersten unglücklich verlaufenen Begegnung in Jena für alle Zeiten mit milder Herablassung behandelt haben. Später begann auch Schiller, den er besonders in jungen Jahren verehrte und der ihn zu Anfang gefördert hatte, sich abzuwenden, antwortete nicht mehr auf seine Briefe und Anfragen, war vielleicht auch inzwischen durch eigene Krankheit daran gehindert. Mehrfach sagte man eurem Dichter ungeschicktes Verhalten nach. Nicht gemacht für die ihn umgebende Welt, für die Gesellschaft seiner Zeit und ihre Spielregeln? Dies kommt dir bekannt vor, weckt in dir Sympathien.

Das „Schleimen“ freilich galt in den Maulbronner Tagen noch als Tugend – und prompt wurde der begabte Sechzehnjährige dazu ausersehen, für einen Inspektionsbesuch des Herzogs und dessen Gemahlin eine Ode zu verfassen und vorzutragen. Welche Empfindungen mag dies bei ihm ausgelöst haben? Stolz? Scham? Oder eine Mischung aus beidem? War dies ein Schlüsselerlebnis, bildete sich aus dieser Erfahrung letztlich der Widerwille gegen solches heraus? Ihr wisst es nicht.

„Den Weltenumeilenden Flug der Großen“. Er sollte ihn antreten, wenn auch auf verschlungenen Wegen. Manche Blüte blüht im Verborgenen schöner und unverfälschter. Seine angemessene Würdigung sollte euer Dichter nicht mehr bewusst erfahren. Selbst als eine solche noch zu seinen Lebzeiten ihren Anfang nahm, schien sein Geist bereits in eine andere Welt entglitten, wohin ihn die Vorgänge um ihn herum nicht mehr erreichten. Hälfte des Lebens. Zeit der bitteren Beeren.

Du reibst dich daran. Versuchst, zu verstehen, Erklärungen zu finden. Ist es einfach nur dies: Der Lauf des Lebens „in exzentrischen Bahnen“, wie euer Dichter selbst es formulierte? Was daran können wir beeinflussen und was nicht? „Die Götter entwerfen und verwerfen in einem.“ Noch so ein Satz, den du bei ihm gelesen und zunächst wieder aus den Augen verloren hast, der dir jetzt haften geblieben ist. Der dich erschreckt, weil er sich überall dort aufdrängt, wo sich Hoffnung und Verzweiflung ein Wechselspiel zu geben scheinen. Wo kleine und kleinste Begebenheiten entscheiden, welchen Verlauf eine Sache nimmt, ob bereits im Aufbau Begriffenes weiterwachsen kann oder schon wieder der Zerstörung anheimgegeben ist. Sich wieder einmal bewusst werden, wie viel Mühe Aufbauen erfordert und mit welcher Leichtigkeit Zerstören von sich geht. Nimmt etwa jedes Werden und Entstehen seine Zerstörung – oder den späteren Verfall – schon vorweg, ohne dass ihr euch dessen bewusst seid? Und trägt dann aber womöglich im Gegenzug, auch ohne dass ihr dessen gewahr werdet, Zerstörung auch immer schon die Möglichkeit von neuem Werden und Entstehen in sich?

„Werden wir nun philosophisch?“, neckt dein Philosophenfreund. „Fürchtest du um dein heiliges Metier?“, entgegnest du. Ihr kabbelt mal wieder, könnt es nicht lassen. Er ist dir Inspiration, fordert dich heraus, du hast in ihm einen Begleiter und zugleich einen Gegenpart, bist nicht länger gedanklich mit dir allein unterwegs. Er hat dir während weniger Wochen manches nahe bringen können, was sich dir zuvor während vieler Jahre verschlossen hatte. Allerdings könnte jeder weitere Weg für ihn sehr anstrengend werden, denn du bist grenzenlos fordernd, wirfst dich auf alles, willst für dich herausziehen, was nur möglich ist. Wirst ungeduldig im Bewusstsein, dass dir die Zeit davonläuft und die dir noch verbleibende immer weniger wird. Dass es vieles gibt, das du nicht mehr aufholen kannst. Du grollst, wütest dagegen, tust ihm damit Unrecht, kannst jedoch nicht dagegen an. Eure Verbindung muss das aushalten.

Bei eurem Dichter schienen „Entwerfen und Verwerfen der Götter“ in der Tat miteinander einherzugehen und weit über sein irdisches Dasein hinauszuweisen. Noch zu seinen Lebzeiten setzten sich bedeutende Romantiker für die Herausgabe seiner Werke ein. Namen, die euch im Gedächtnis verhaftet sind: Clemens Brentano, Achim und Bettine von Arnim, Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Justinus Kerner. Nach seinem Tod jedoch geriet er in Vergessenheit. Neue Strömungen verschiedenster Ausprägung hatten sich gebildet. Die Zeit der einheitlichen Kunst- und Kulturepochen – sofern es solche je gegeben hat und sie nicht nur Konstruktionen in den Köpfen der Nachgeborenen sind – schien endgültig vorüber. Als man ihn wiederentdeckte, waren es vor allem die Dichter und Denker der Moderne, die sich neu mit ihm und seinem Werk auseinandersetzten; sie erkannten in ihm ihren frühen Wegbereiter. Sein Werk ging um die Welt, verstanden wurde er jedoch zu allen Zeiten wohl immer nur von wenigen.

Und ihr, die ihr euch einmal mehr in einem Café vor Ort bei heißem Tee von der Kälte erholt? Seid von der Ahnung erfüllt, dass alles erst beginnt. Wobei ihr manchmal nicht mehr recht zu unterscheiden vermögt, ob nur ihr den Spuren der Dichter folgt – oder sie nicht womöglich auch den euren.