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 Literatur im Lichthof (Ausg. 5/2014) - Weitwinkel

 

 

Joe Rabl: „Erzählbruchgebiet und gelebte Utopie“. Ein Stimmungsbericht über die 37. Innsbrucker Wochenendgespräche im Mai 2014.

 

„Wer unsere Träume stiehlt, gibt uns den Tod.“ Peter Stephan Jungk, Moderator der 37. Innsbrucker Wochenendgespräche, eröffnet mit einem Zitat aus dem Statement von Robert Kleindienst und lässt dem weitere folgen, unter anderem von Jorge Luis Borges, für den der Traum „die älteste Kunst“ war, und von Jean Paul, der den Traum als „unwillkürliche Dichtkunst“ bezeichnete. Für Fellini bedeutete Träumen nächtliche Arbeit, aber er freute sich aufs Einschlafen: „Die Vorstellung begann, sobald ich die Augen schloss.“

Der Träumer als Autor und der Autor, der aus dem Reichtum, der visionären Kraft der Träume schöpft: Nutzen das die Autorinnen und Autoren konkret für ihre Arbeit?

Judith Kuckart spricht vom „Drehbuch der Träume“ und davon, dass es ihr persönlicher Traum wäre, einen Film zu machen; fasziniert von den technischen und gestalterischen Möglichkeiten des Films, insbesondere der Montage, mit der sich die Mechanismen des Unbewussten abbilden ließen. „Film und Traum sind Verwandte“, sagt sie und verweist auf die Analogie zum Traum: „Wenn man aus einem guten Film kommt, erinnert man sich oft nicht an die Handlung, aber man erinnert sich genau an das Gefühl, das man beim Schauen gehabt hat.“

Das heißt aber nicht, dass die Autoren konkrete Traumtagebücher umsetzen. Eher ist es so, dass sie Traumversatzstücke in ihre Texte übernehmen; Robert Kleindienst meint, dass rund fünfzig Prozent seiner Texte von Traumbildern leben. Für Josef Oberhollenzer ist das Traumgebiet „Erzählbruchgebiet“, aus dem er schöpft. Insbesondere während der Arbeit am „Traumklauber“ machte er sich Notizen; Träume, auch solche aus der Kindheit, waren ihm oft Ausgangspunkt seiner Bücher.

So auch Peter Stephan Jungk, der sich als junger Mensch ein Jahr lang um vier Uhr in der Früh weckte, um seine Träume auf Band zu sprechen, weil das der Zeitpunkt war, zu dem er sich an sie erinnerte. Sein Roman „Die Reise über den Hudson“ geht auf so ein Traumbild zurück: ein monströser Körper, der unter einer Brücke liegt. Im Zustand kurz vor dem Aufwachen, dem „Dämmern zwischen den Welten“, war dieses Traumbild plötzlich da und hat ihn herausgefordert, einen Roman über seinen verstorbenen Vater zu schreiben.

Die Frage, ob die Autoren auch Albträume haben, will Judith Kuckart nicht beantworten, denn „Träume sind das Intimste, das man einem schenken kann“. Ihr geht es mehr um die Frage nach den „konkreten Utopien“ im realen Leben, die Tagträume, das Prinzip Hoffnung, wie es Ernst Bloch formuliert hat. Die „gelebte Utopie“, der Traum von einem anderen Leben, geht aber nicht immer in Erfüllung. Josef Oberhollenzer weiß als italienischer Staatsbürger ein Lied davon zu singen, wie ihn die politische Realität immer wieder aus allen Träumen gebeutelt hat.

Der Film als jene Kunst, die dem Traum am nächsten kommt (Luigi Malerba) – Jungk erinnert sich an „Inception“, einen großartigen Film aus mehreren ineinander verschachtelten Träumen –, ist immer wieder Anlass, darüber nachzudenken, ob das auch in der Literatur gelingen kann. Für Ralph Dutli ist der Film ein Kompromiss, weil die Unmittelbarkeit verloren gehe; das funktioniert für ihn nur in der Literatur. Schreiben ist Übersetzen von Traumbildern, wendet Nico Bleutge ein, Sprache arbeitet aber mit einem abstrakten Zeichensystem und habe schon deshalb ein viel größeres Problem, den Traum zu fassen.

Wenn es überhaupt einem Autor gelungen sei, die Atmosphäre des Traums in der Literatur darzustellen, dann Kafka, bestätigt Jungk. Meisterhaft daran sei auch, dass Kafka dies in einer einfachen, reduzierten Sprache zustande gebracht habe.

„Die Sprache macht mich träumen“

Sich seine Lebensträume verwirklichen: Auch darum geht es in Birgit Unterholzners neuem Buch „Für euch, die ihr träumt“. Ihr Eingangs-Statement ist ein feuriges Plädoyer für die gesellschaftliche Kraft der Träume und dafür, sich seine Träume nicht nehmen zu lassen.

Peter Truschner beschreibt seine Bücher „Schlangenkind“ und „Das fünfunddreißigste Jahr“ als Teil eines auf Lebenszeit angelegten Projekts, als eine Art Autofiktion, in der er darzustellen versucht, wie sich das reale Leben mit dem geträumten Leben, mit den Wünschen und Projektionen mischt; was man sich einmal erträumt hat und was davon real geworden ist. In „Die Träumer“, seinem zweiten Roman, stehen die Wünsche und Projektionen in der Ehe oder einer Beziehung im Mittelpunkt und die Auswirkungen der gegenseitigen Vorstellungen.

Der Lyriker und Übersetzer Ralph Dutli beschreibt in „Soutines letzte Fahrt“, seinem ersten Roman, eine von Drogen in ein spezifisches Licht getauchte Fahrt quer durch das besetzte Frankreich des Jahres 1943; eine Mischung aus Traumbildern und Rauschgiftimpressionen. Für Peter Stephan Jungk ein Buch wie ein langer Traum, aus dem man gerädert erwacht – wie die Traumstimmung nach intensiven Träumen, die man in den Tag hinein mitnimmt. Interessant dabei auch die Traumnähe des Rauschzustands, die einen offener und durchlässiger macht – Traum und Drogen, ein unerschöpfliches Thema.

„Pflichtlektüre“ zum Thema Traum, so Ekkehard Hey-Ehrl von der Buchhandlung liber wiederin, sei immer noch Sigmund Freuds „Traumdeutung“. Freud bezeichnete die Traumdeutung als „Via Regia zur Kenntnis des Unbewussten“; die Lektüre seiner „Traumdeutung“ war wichtig für zeitgenössische Künstler. Die gegenwärtigen Autoren sind sich da nicht so einig. Für Peter Stephan Jungk öffnet die Lektüre Tore für die Wahrnehmung der eigenen Träume. Ralph Dutli ist die „Traumdeutung“ zu simpel, er findet Träume in literarischen Texten besser aufbewahrt, weil diese viel komplexer sind; „die Sprache macht mich träumen“, sagt der „Sprachjunkie“ Ralph Dutli: „Wenn ich schreibe, träume ich also gleichsam, ich öffne behutsam die Schleusenräume der Sprache, gleite durch sie hindurch, lasse mich von Stoff tragen. Oder träumen, ja: der Stoff träumt mich, er hat auf mich gewartet, also schulde ich ihm etwas, das ich mit der Feder oder Tastatur liebend gern begleichen will.“

Hitzig wird die Debatte zwischendurch, als das Gespräch eine Richtung nimmt, in der Träume, Wünsche, Projektionen, Vorstellungen etwas undifferenziert vermengt werden. Es sei eben zu unterschieden zwischen dem „Prinzip Hoffnung“, dem „Noch-Nicht“ Ernst Blochs auf der einen und echten Träumen auf der anderen Seite.

Das Schlusswort gehört wieder der Literatur: Der Träumer ist ein Dichter, wusste schon Erich Fromm – so Peter Stephan Jungk, der Künstler aber „ist schöpferisch, obwohl er wacht“.

Vom Dialog für eine Person und der konzentrierten Euphorie beim Schreiben

„Auch die Schlafenden verrichten Arbeit und wirken mit an dem, was im Weltall geschieht.“ Peter Stephan Jungk beginnt auch den zweiten Tag mit einem Zitat, diesmal von Heraklit, und dem Eindruck, dass Lina aus Andrea Winklers „König, Hofnarr und Volk“ eine geradezu fortgeschrittene Träumerin sei. Zu Margret Kreidls „Alphabet der Träume“ merkt er an, dass man nach der Lektüre Lust bekomme, seine eigenen Träume aufzuschreiben.

Margret Kreidl selbst eröffnet mit „41 Traumsätzen“, einer Kleinstpoetik des Träumens („Der Traum ist ein Dialog für eine Person“ … „Träumen heißt verdichten“), und erzählt von ihrem Projekt, bei dem zwei Wochen lang 33 Leintücher mit Traumsätzen aus ihrem Manuskript aus Grazer Fenstern hingen. Wer wollte, konnte so „einen Traum hüten“; was nicht ganz ohne Irritation der Bevölkerung vor sich ging.

Nico Bleutge, den schon immer die Übergänge interessierten, erzählt von den „glücklichsten Momenten des Schreibens“, in denen sich eine Art Zwischenzustand einstellt, eine „konzentrierte Euphorie“ im Schreibprozess. Mit dem Hinweis auf diese „gesteigerte Form der Aufmerksamkeit“ lenkt er die Diskussion im Verbund mit Andrea Winkler und Margret Kreidl auf die Produktionsbedingungen von Literatur, auf den Versuch, „das Traumartige gerade noch zu haschen“ und in die Literatur hinüberzuretten.

Die Vermutung, dass diese Abkürzungen, wie Bleutge sie nennt, in der Lyrik leichter möglich seien, teilen nicht alle. Andrea Winkler verteidigt die Prosa und weist darauf hin, dass es für sie eher eine Frage des Schreibprozesses, der Schreibhaltung ist; es gebe auch in der Prosa Formen der Konzentration, die mit Träumen zu tun haben, die der Traumlogik nahe kommen, auch wenn dies keine bewusste Konzentration sei. Für Kreidl geht es um die Auflösung von Dualitäten, was auch für sie in der Lyrik schneller möglich ist; denkbar sei es aber auch, in der Prosa die „Traumform zu schreiben“ (im Gegensatz zur „Vernunftform“).

Aber schöpfen die Autorinnen und Autoren direkt aus ihren Träumen? Andrea Winkler setzt Träume nicht unmittelbar in Texte um; wichtig ist ihr, die Traumspur zu verfolgen. Der Traum ist für sie eine Form von Dichtung; und das fließt in die Arbeit ein, aber in einer stark transformierten Art und Weise; eine Konzentration wie in einem sehr bewussten Wachtraum; in diesen Zustand zu kommen, sieht sie als eine wichtige Voraussetzung fürs Schreiben.

Auch bei Nico Bleutge fließen Träume auf Umwegen in die Arbeit ein; er interessiert sich für die „Essenz des Traumartigen“, die es zu fassen gilt, die schwankenden Momente, die er in der Lyrik zu erzeugen versucht; diese gefühlte Atmosphäre herzustellen, ist für ihn ein Übersetzungsprozess. Eine Form des Begreifen-Wollens, wie es Andrea Winkler nennt, ein Verstehen, das Räume öffnet, das nicht festschreibt und vereinnahmt; die Frage sei dann, was von der Qualität der Träume lasse sich „übersetzen“?

Unterschiedliche Medien leisten das auf unterschiedliche Art und Weise; und dass die bildende Kunst da einen Vorteil habe, wie Jungk meint, sieht Bleutge nicht als gegeben. Er weist auch auf die verschiedenen Formen der Erkenntnis hin; Literatur habe eine andere Form von Erkenntnis als etwa die Naturwissenschaften; die Stärke der Literatur sei die Möglichkeit, Räume zu öffnen und das Changierende zuzulassen. Eine Gleichzeitigkeit herzustellen, so wie es Kafka gemacht hat, der immer wieder als leuchtendes Beispiel ins Treffen geführt wird.

Peter Stephan Jungk hat einen schier endlosen Zitatenschatz mitgebracht und weiß immer das richtige einzustreuen, diesmal einen wunderbaren Satz von Friedrich Hebbel: „Der Traum ist der beste Beweis, dass wir nicht so fest in unserer Haut eingeschlossen sind, als es scheint.“

Nicht so fest eingeschlossen in unserer Haut – das kann auch bedeuten, dass man sich im Traum als ein anderer gespiegelt erlebt, weil der Traum die Identität auffächert und eine Vielfalt von Ichs lesbar macht, so Andrea Winkler. Die Vorstellung, eine feste Identität zu haben, ist laut Bleutge ohnehin ein Konstrukt; im Traum wird dieses changierende Ich erfahrbar, was er in den Gedichten spürbar zu machen versucht. Eigentlich sei dieser Schwebezustand, der im Traum herrscht, nicht fassbar; aber es sei die Qualität einer bestimmten Art von Literatur, das zu leisten.

Für Margret Kreidl hat der Traum zudem das Potenzial, den Unsinn zuzulassen, fern der Tageslogik und der Vernunft. Das ist durchaus politisch gemeint; das Spektrum reiche in der Gesellschaft von den Unzufriedenen auf der Plaza del Mayo („Wenn ihr uns nicht träumen lässt, lassen wir euch nicht schlafen!“) bis zu Margaret Thatchers „There is no alternative“. Dass es mehr als eine Alternative gibt, zeigt nicht zuletzt die Literatur.

„Träumen heißt verdichten“

Kann es sein, dass wir die Wirklichkeit träumen und dass das eigentliche Leben die Träume sind? Mit dieser Frage eröffnet Peter Stephan Jungk die Schlussrunde, in der erstmals alle Autorinnen und Autoren am Podium Platz nehmen. Für Ralph Dutli ist der Traum nur ein Bild für den Dialog mit der eigenen Seele; der Autor lebe in Symbiose mit seinen Träumen.

Dann geht es noch einmal um die Frage, wie es gelingt, den Funken überspringen zu lassen. Judith Kuckart betont, dass viel Handwerk dazugehöre und dass man sich überraschen lassen müsse; dann entstehen die Momente, die überzeugen, in denen der Funke überspringt; aber dazu muss man auch loslassen können, dass die innere Bewegung möglich wird. Die Qualität der Traumform übersetzen, die Atmosphäre des Traums in die Sprache transformieren: das eben sei es, wenn man, wie schon erwähnt, aus einem guten Film die Atmosphäre mitnimmt und nicht unbedingt die Handlung.

Und wenn Peter Stephan Jungk eines mitnimmt aus diesen Gesprächen, dann die Überzeugung, dass es eine große Nähe von Traum und Dichtung gibt. Ralph Dutli formuliert es bildreicher: Die Literatur ist für ihn das letzte Reservat der Traumwelten, das Korrektiv der logischen Welt. Und dass wir dieses Korrektiv dringend benötigen, das haben die 37. Innsbrucker Wochenendgespräche wieder einmal gezeigt. 

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Bernhard Sandbichler: Migration ohne Ende - einige Fakten, einige Fiktionen


Warum also gibt es sie, die Unerwünschten, die Versprengten, die Heimatlosen, die Auswanderer, die Vertriebenen, die Zugewanderten, die Fremden, die Verjagten, die Entwurzelten?
Der alttestamentarische Redaktor der Genesis weiß um den so genannten “Migrationshintergund”:

[Gott der HERR] trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens. (Gen 3,23-24)

Ganz anders stellt Voltaire die Situation im Candide dar.
“Ich weiß”, konstatiert die Titel gebende Hauptfigur am Schluss, “dass wir unsern Garten bebauen müssen”.
”Denn”, so führt der bornierte Dr. Pangloss aus, “als der Mensch in den Garten Eden gesetzt wurde, so war es, um zu arbeiten.” Martin schließlich, der Dritte im Bund, resümiert: “Lasst uns ohne weiter zu grübeln arbeiten, es ist das einzige Mittel, um das Leben erträglich zu gestalten” - ein vielleicht optimistischer, aber vielleicht doch auch kein paradiesischer Zustand.

Im ersten Fall wurde für das Verlassen des Paradieses nicht wirklich optiert, im zweiten ist das paradiesische Dableiben nicht ohne Mühsal zu haben. Das Paradies stellt sich jedenfalls, so sieht man, für jeden und zu jeder Zeit anders dar.

Darum also gab und gibt es die Unerwünschten, die Versprengten, die Heimatlosen, die Auswanderer, die Vertriebenen, die Zugewanderten, die Fremden, die Verjagten, die Entwurzelten.

“Seit Beginn des neuen Jahrhunderts ist Migration zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit geworden”, schreibt die an der Yale University tätige Philosophin Seyla Benhabib.(1) Jochen Oltmer, Projektleiter am Osnabrücker IMIS, weitet das noch aus: “Migration ist ein globales Zukunftsthema. Das verdeutlichen aktuelle Debatten über die Folgen des Wachstums der Weltbevölkerung, der Alterung der Gesellschaften des reichen ‘Nordens’, des Klimawandels oder des Mangels an Fachkräften für zunehmend komplexere und international eng vernetzte ‘Wissensgesellschaften’. Migration veränderte in den vergangenen Jahrhunderten die Welt: Unzählige Beispiele belegen, in welch hohem Maße Arbeits- oder Siedlungswanderungen, Flucht, Vertreibung oder Deportationen die Bevölkerungszusammensetzung, die Entwicklung von Arbeitsmärkten oder kulturell-religiöse Orientierungen beeinflussten.”(2)
Es kann nicht verwundern, dass Migrationsliteratur ein wesentlicher Bestandteil der zeitgenössischen Literatur geworden ist. Mit Najem Wali, einem Exilautor, startete Sigrid Löffler ihre in Zukunft regelmäßigen Beiträge für die neu ambitionierten Salzburger Nachrichten (Relaunch 26.04.2014) und in ihrem aktuellen Buch vertritt sie die These, die Weltliteratur werde maßgeblich von Migranten bestimmt. Es gibt aber nicht nur diese “dynamische, rasant wachsende, postethnische und transnationale Literatur, eine Literatur ohne festen Wohnsitz”(3); es gibt nach wie vor die literarische Erinnerung an Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts - so der Untertitel, den der polnische Historiker Jan Piskorski für sein unlängst auf Deutsch erschienenes Werk Die Verjagten gewählt hat.(4) Europa reagiere so abwehrend und abschreckend auf die heutigen außereuropäischen Flüchtlingsströme, meint Piskorki, als hätte es die kollektive Erfahrung erzwungener Flucht im 20. Jahrhundert auf dem eigenen Kontinent nicht gegeben und als hätte nicht unlängst der Zerfall Jugoslawiens neue Wellen der Zwangsmigration ausgelöst. Er führt eindringlich vor Augen, dass wir nur dank historischer Zufälle sicher in warmen Häusern leben, aber eigentlich alle potenzielle Flüchtlinge sind.

perlentaucher.de verzeichnet unter dem Stichwort “Flucht” über 600 Einträge, “Migration” ergibt über 80, “Vertreibung” an die 150 - was natürlich kein statistischer Befund mit Anspruch auf allgemein gültige Evidenz ist, aber eben doch eine Befund. Achtet man, von den Fakten angeschärft, auf deren Niederschlag in den Fiktionen, wird man allemal fündig. Was die Motive “Flucht”, “Exil”, “Heimatlosigkeit” betrifft: Die Verlage haben sie längst als Buchquelle entdeckt, die AutorInnen selbst auch, und zwar schon längst, wahrscheinlich schon immer. Im Folgenden wird kein systematischer, sondern ein neugieriger Blick auf die Buchproduktion 2013/14 geworfen. Ein Dutzend Bücher werden vorgestellt und eine kleine “Zugabe”, die das breite Spektrum umreißen. Keine Frage, dass es sich durchwegs um Lese-Empfehlungen handelt:

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt
Christa Wolf: Nachruf auf Lebende. Die Flucht
Karl-Markus Gauß:  Das Erste, was ich sah
Erich Hackl: Drei tränenlose Geschichten
George Tabori: Autodafé und Exodus. Erinnerungen
Wolfgang Jacobsen und Heike Klapdor (Hg.): In der Ferne das Glück
Uri Orlev: Lauf, Junge, lauf
Paulus Hochgatterer: Ganymed boarding
Tahar Ben Jelloun: Verlassen
Ryad Assani-Razaki: Iman
Ulrich Ladurner: Lampedusa
Joe Sacco: Reportagen
Elisabeth Plessen: Das Titelfoto der Unità vom 8. Juni 2008


Für Simone Grolmann, eine der acht Erzählstimmen in Ulrike Draesners neuem Roman, ist die Schlesienflucht ihrer Vorfahren “ein Stück kopiertes Leben im eigenen [..,] der Breslauer Wald, durch den mein Vater, sein schwerfälliger Bruder Emil und [Oma] Lilly in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 1945 stapften, minus 21 Grad, drei Menschen mit drei durchweichten schweren Pappkoffern, so düster, dass nicht einmal der Schnee widerleuchtete unter ihren morschen Holzsohlen, vor ihrem einsinkenden Gehen.” Trautes Familienleben und akkurate Wissenschafts-Karriere ihres Vaters in Bayern können das Trauma der Zwangsmigration - “Verschwindet, sterbt, verreckt”, “Engerling und Flüchtling sind Bayerns Schädling” - zwar zudecken, aber nicht wegzaubern. “Je älter ich wurde, umso deutlicher begriff ich, dass das nicht aufhören würde”, stellt die Tochter fest. “Im Gegenteil. Etwas in mir passte nicht, war schief aneinandergeraten, drückte und rieb.” Oder wie es ihr Vater ausdrückt: “Das Wegenetz einer Flucht zieht man ein Leben lang hinter sich her.” Ängste, Verletzungen, Einschränkungen erleben auch die einer Vertreibung nachfolgenden Generationen. “Postmemory”, “co-witnessing”, “broken refrains”: Der Psychologe Boris hat Fachbegriffe für das Phänomen zur Hand, das den unberechenbaren Möglichkeiten menschlichen Innenlebens entspringt. “Eine riesige Welt umgab jeden von uns, unsichtbar. Jeden Augenblick. Dazu kam noch die Vergangenheit”, erkennt der Vater, dem “das Innenleben der Affen” - er ist wie seine Tochter Affenforscher - “vergleichsweise klar und liebenswert” erscheint. Thematisch hochinteressant, formal ambitioniert, stilistisch beeindruckend!

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Roman. München: Luchterhand 2014. 560 Seiten


“[M]ir ist, als hätte ich alles genau gesehen, und ich seh es noch heute”: Der Verlust der Heimat hat Christa Wolf nicht nur in Kindheitsmuster (1976) oder der späten Erzählung August (2011) beschäftigt, sondern schon früher. “In vier Wochen vom 9. Februar bis 9. März 1971, sozusagen in einem Schwung” schreibt sie den nun aus dem Nachlass publizierten Text nieder, so Gerhard Wolf im Nachwort, “wie es sonst bei ihr nicht üblich ist, indem sie sich im Schreiben über die ersten Stationen der Flucht unwiderruflich von ihrem Kindsein und damit von ihrem unbewußten Dasein verabschiedet.” Diese Textauslegung ist ein wenig pathetisch. Festzuhalten ist, dass dies die Geschichte einer Flucht aus der Perspektive einer 15-jährigen Ich-Erzählerin ist, mit erfrischend demaskierenden Elementen in Bezug auf die eigene Familie und die Welt der Erwachsenen: “[Sie] merken gar nicht, wenn man sie schont, und sie vergessen, daß die Möglichkeiten eines Wesens, das ‘Ich’ sagt, sich vervielfältigen, ins Gutartige und ins Ungeheure.” Diese Sichtweise verleiht dem Text einen geradezu Anne-Frank-artigen Ton. Was die “Backfisch”-Erzählerin sieht, erspäht sie durch den Spalt einer Zeltplane auf dem Trecker der Firma Hannemann, “durch den es eisig hereinzog, so daß meine Tränen gleich wieder trockneten”. Zeitlich und geografisch ist man nah an Draesners Setting: Man schreibt den 30. Jänner 1945 und befindet sich auf der Soldiner Straße Richtung Seelower Höhen, Holperpflaster, harte Sitzunterlage, “Ungeheuerlichkeiten”. Alles kommt plötzlich für die 15-Jährige, an “jene[m] Morgen, dessen Datum ich mir merken wollte”, das “Gerenne und Geschreie und Geschluchze”, das “Weggehen”, die “Flucht”, die “Niederlage”. Was die Erzählerin nicht ahnt, der Autorin aber im Nachhinein bewusst ist: “daß wir uns auf einer beschwerlichen, aber nützlichen Reise befanden.”

Christa Wolf: Nachruf auf Lebende. Die Flucht. Mit einem Nachwort von Gerhard Wolf. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014. 105 Seiten


“Alles, was ich sah und hörte, sank auf den Grund, und viel später konnte ich es wieder hochholen, zum Leben erwecken und die dazu passenden Gefühle aufbringen”, schreibt Christa Wolf und in Gauß’ Erinnerungsbuch verhält es sich ganz ähnlich. Das erste, was ich sah ist sein Titel, und beginnt doch mit einer akustischen Reminiszenz. “Die Stimme, wie lange spricht sie schon?”, lautet der erste Satz. “Dunkel klang die Stimme der Mutter”, hebt eine weitere Episode an, von der rumpelnden Müllabfuhr, die zweimal wöchentlich aus dem Schlaf reißt, wird in einer anderen berichtet und schließlich noch vom “niederschmetternden Familienschweigen”, das es neben dem “sprachlichen Familienprogramm, das uns witzige Gewandtheit und charmante Verlogenheit lehrte”, auch gab. Der verschmitzte Erzähler war im Übrigen “der einzige gebürtige Österreicher der Familie. Die Eltern und Geschwister hatten jahrelang als Staatenlose in einer Barackensiedlung für Heimatvertriebene am Stadtrand gelebt.” Die Gauß waren Zuzügler in Salzburg, in deren Vorzimmer ein dunkles Ölbild an der Wand hing und “einen blattlosen Baum zeigte, an dessen braunem, knorrigem Stamm ein altes Flüchtlingspaar sein Hab und Gut abgestellt und sich zur Rast gebettet hatte, er ein Greis mit kahlem Haupt, die Augen erschöpft geschlossen, sie eine kräftige Frau, die das Kopftuch tief über die Stirn gezogen und die Augen ratlos aufgerissen hatte [...] Ich stand vor dem Bild und stellte mir vor, wie es war, als aus den Donauschwaben Flüchtlinge wurden.”

Karl-Markus Gauß: Das Erste, was ich sah. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2013. 108 Seiten


“Sie stand auf, ging / ohne den Fuß auf den Boden zu setzen / unter die Dusche, hörte die Angst / in den Kleidern, spürte die Kälte / im Spiegel, die Bedrohung, / kämmte das verfilzte Haar und // schleppte das Gefängnis in die Welt hinaus.” Der Zwang des Erinnerns sucht Marta Maria Saavedra dos Anjos noch Jahre nach der Folter heim; er lässt sich nicht abstreifen, weder in Chile, wohin sie vor der brasilianischen Diktatur am 12. Jänner 1971 entfliehen kann, noch in Argentinien, wohin sie mit ihrem Mann Victor Klagsbrunn Mitte Oktober 1973 flüchten muss, noch in Rom oder Westberlin, wohin sich ihre Flucht fortsetzt. 1986 besuchen sie Wien und Floridsdorf, wohin Victors Großeltern, Ignaz und Johanna Klagsbrunn, Anfang der 1890er-Jahre aus dem damaligen österreichischen Kronland Galizien gelangten und von wo sie im August 1938 flüchteten - nach Rio de Janeiro in Brasilien, einem “Land der Zukunft”, wie Stefan Zweig schreibt, der einen Freitod in diesem Paradies starb: Morte no Paraíso, so heißt zumindest der Titel von Alberto Dines’ Biografie aus 1981. Wie immer bei Erich Hackl bleiben die großen Figuren der Geschichte im Hintergrund, Namen von Diktatoren, die über ihre Schergen ins Leben von Menschen “aus unserer Mitte” eingreifen. “Die Großeltern ermordet, die Eltern vertrieben, den Kindern ihr Anspruch verweigert”: Es ist die eisige Kälte der Fakten in Hackls Familiengeschichten, welche die “Tränen gleich wieder trocknen” lässt. So entstehen tränenlose Geschichten, aus “unsichtbaren Fäden, [...] die sich zwischen Zeiten und Kontinenten ziehen”. Die der Familie Klagsbrunn steht in diesem Buch.

Erich Hackl: Drei tränenlose Geschichten. Zürich: Diogenes 2014. 160 Seiten


“Meine Erinnerung gibt nicht allzu viele Geheimnisse her, sondern stammelt und springt undeutlich hin und her.” Maria Sommer, Freundin, Verlegerin, Agentin, hat dem über neunzigjährigen kranken George Tabori Lebensepisoden abgelauscht, die nun unter dem Titel Exodus gemeinsam mit den bereits 2002 als Autodafé veröffentlichten vorliegen. Es sind Fluchten, nach London, nach Budapest, Sofia, Istanbul, Jerusalem. Das Entscheidende war, sagte Tabori viel später in einem Interview, sich als Fremdling, als Emigrant zu akzeptieren. Für die Älteren, Stefan Zweig, Walter Benjamin, Joseph Roth, war es schwierig, sich auf diese neue Situation einzustellen, für ihn als Jungen, als schriftstellerisches Nichts leichter. Es ist ein wenig, wie in einem Gedicht von Else Lasker-Schüler: “Den Fluch, der mich durchs Leben trieb, begann ich, da er bei mir blieb, wie einen treuen Freund zu lieben.” Sein Fluch war Auschwitz, wo sein Vater starb. “Vielleicht war es mein Fehler.” Den Fehler, in “schönen Abstraktionen - die Deutschen, die Juden, die Jugend, die Frauen, das Theater - zu denken”, hat er nie gemacht, denn der nächste Schritt wäre, so wusste er, Auschwitz oder Hiroshima. Tabori selbst war kein Mensch, den man in eine dieser Klischee-Schachteln stecken hätte können. Er war, wie er selber die Menschen sah: konkret und einmalig. Nach dem Krieg lernt er - und das ist eine andere Geschichte - Brecht in Hollywood kennen und  schreibt sein erstes Theaterstück, Flight to Egypt. Von Stund an ist er vom Theater gefangen - und bleibt es. “Ich hab”, sagt Tabori, “keine Heimat in dem Sinne, das Theater ist meine Heimat.” Wovor ist er davongerannt? “Ich bin vor dem Leiden davongerannt”, sagt er in einem Interview mit André Müller. Wohin? Ans Theater. Theater, das ist “Zuflucht für die, die es machen. Denn wir Theatermacher sind Fliehende. Wir retten uns in eine Art Utopie.”

George Tabori: Autodafé und Exodus. Erinnerungen. Zum Teil aus dem Amerikanischen von Ursula Grützmacher-Tabori. Berlin: Wagenbach Verlag 2014. 160 Seiten


Paul Kohner, aus angesehener jüdischer Familie, im tschechischen Teplice geboren, ging 1938 endgültig nach Kalifornien. Als er 85-jährig starb, war er während 50 Jahren Chef der Kohner Agency gewesen und hatte hunderte Filmstars und -regisseure vertreten, Ingmar Bergman, Maurice Chevalier, Marlene Dietrich, Greta Garbo, John Huston, Liv Ullmann und Billy Wilder etwa. Eine richtige Figur also! Angefangen hatte es damit, dass er für die Kino-Zeitung seines Vaters in Prag schrieb und 1920 Carl Laemmle, den Präsidenten von Universal Pictures, interviewte. So kam er in die Vereinigten Staaten, durchlief die Abteilungen Werbung, Vertrieb, Produktion und wurde schließlich Vorstand der europäischen Niederlassung in Berlin. Zurück in Hollywood verhalf er zahlreichen Schauspielern, die vor den Nazis emigrierten, zu Engagements. Außerdem öffnete er während des Zweiten Weltkriegs seine Talenteschmiede auch für von ihm geschätzte europäische AutorInnen, indem er den European Relief Fund mitorganisierte, der finanzielle und bürokratische Immigrationsbeihilfen zur Verfügung stellte. So kamen europäische SchriftstellerInnen zum Film, Vicki Baum, Ernest Bornemann, Fritz Kortner, Heinrich und Klaus Mann, Joseph Roth, Felix Salten zum Beispiel. Der Nachlass der Agentur wurde 1988 von der Deutschen Kinemathek aufgekauft. Er enthält an die fünftausend Klientenakten, etwa eintausend Skripte und tausende von Briefen. 25 Filmerzählungen aus dem Nachlass finden sich in diesem Buch mit dem trügerischen Titel In der Ferne das Glück - sorgsam ediert, biografisch und entstehungsgeschichtlich kommentiert, mit einem kundigen Vorwort und einem Personenregister versehen. Keiner der erstmals publizierten Versuche wurde je verfilmt. Oft genug waren die Reaktionen aus der Filmagentur Anlass für Frustration, weil Inhalt und Form so gar nicht dem Geschmack und den Ansprüchen der Filmindustrie entsprachen. Einige der vorliegende Entwürfe lassen erkennen, dass sie geschrieben wurden, um Geld zu verdienen, wie es Tabori tat, als er Anfang der 1950er-Jahre Drehbücher verfasste und unter anderem für Alfred Hitchcock arbeitete. Andere Erzählungen, wie etwa jene von Viktor Bauer, die das Flucht-Schicksal der de Wittes vor Augen führt, die als “Austauschjuden” von Amsterdam nach Haifa gelangen, wären heute noch eine Verfilmung wert.

Wolfgang Jacobsen und Heike Klapdor (Hg.): In der Ferne das Glück. Geschichten für Hollywood. Berlin: Aufbau 2013. 503 Seiten


Bei Uri Orlev kam es anders. Er hatte die Geschichte Joram Fridmans in Israel gehört, von ihm selber erzählt: eine schreckliche und zugleich anrührende Geschichte. Sie spielt in Polen, beginnt im Warschauer Ghetto, 1942. Orlev war damals ebenfalls dort, bevor er 1943 ins Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert wurde. Dem achtjährige Srulik, so lautete Joram Fridmans Vorname ursprünglich, ist die Flucht gelungen. Unterschlupf findet er in den umliegenden Wäldern und als Hüterbub “Jurek Staniak” bei polnischen Bauern. “Bestimmt habt ihr zu denen gehört, die bei Kriegsbeginn Richtung Osten geflohen sind”, sagt der Bauer. “Vielleicht”, sagt Jurek. “Wo wohnst du?”, fragen die russischen Soldaten später. “Überall”, sagt Jurek. Uri Orlev, einer der bedeutendsten israelischen Kinder- und Jugendbuchautoren, schildert diese Geschichte eines Jungen, der in der Ausgesetztheit der Wildnis und der Zivilisation überlebt,  eindringlich und spannend. Sein Roman erschien 2004, wurde in 15 Sprachen übersetzt und der deutsche Filmregisseur Pepe Danquart hat ihn gelesen. „Das Buch hat mich durchgeschüttelt”, sagt er und: “Ich wusste, eine solche Geschichte muss mit den Mitteln des Filmes erzählt werden […] Der Tod von 6 Millionen Juden durch die Shoah ist für junge Leute heute ein Abstraktum, aber der Alltag des Krieges zeigt den Schrecken im Einzelfall“. Das Buch zum Film wird neue junge LeserInnen finden. Und das ist gut so.

Uri Orlev: Lauf, Junge, lauf. Mit einem Nachwort von Uri Orlev. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Weinheim–Basel: Beltz & Gelberg 2014. 240 Seiten
Pepe Danquart: Lauf Junge lauf. Deutschland/Frankreich/Polen 2013, Filmstart: 17. April 2014. 112 Minuten
                                                                                                                            

Auch Ganymed war ein Hüterbub. Jupiter entführte ihn. Correggio malte die Szene, hocherotisiert, christlich verbrämt. Paulus Hochgatterer hat dazu einen Dialog geschrieben, den der großartige Grazer Puppenspieler Nikolaus Habjan im Rahmen des Projekts Ganymed Boarding im Kunsthistorischen Museum Wien vorführte. Ganymeds Schicksal setzte Hochgatterer dann in dem Theaterstück Fly Ganymed fort. Es erzählt von einem Buben auf seiner langen Flucht von Afghanistan nach Österreich. Transportiert in einem Pipeline-Rohr auf einem Lkw, erlebt er an jeder Grenze eine neue Demütigung. Wird er aus dem Rohr geholt, lernt er die Nutznießer des Schleppersystems kennen: die, welche sich mit Geld begnügen; die, welche sexuelle Dienstleistungen wollen; die, welche einfach gern zuschlagen. Wo immer das Stück, dessen Protagonisten wieder Nikolaus Habjan mit einer Klappmaulpuppe aus Frottee spielt, aufgeführt wird, sollte man es nicht versäumen. Den ursprünglichen Dialog zwischen Kind und Hund aber kann man jetzt in dem wunderschönen Buch Museum der Träume nachlesen, das Peter Wolf und Jacqueline Kornmüller, die Regisseurin von Fly Ganymed, herausgegeben haben.

Paulus Hochgatterer: Ganymed boarding. In: Jacqueline Kornmüller, Peter Wolf (Hg.): Museum der Träume. Schriftsteller schreiben über Meisterwerke der Kunst. Wien: Christian Brandstätter Verlag 2014, S. 224–228


Toumanis Schicksal hat die tragische Wucht der Figuren eines Lars von Trier. Er durchlebt eine Passion, die kein Entrinnen kennt und keine Linderung aus Liebe zulässt. Anstatt dessen: Aufopferung. “Warte, bis wir mit dir fertig sind. Dann wirst du wissen, was Schmerz ist.” So drohen afrikanische Militärs Kindern, die in ihrer Heimat zu körperlichen und seelischen Krüppeln geworden sind, Kindern wie diesem Toumani, den der in Benin geborene, nach Québec ausgewanderte Autor Ryad Assani-Razaki eine Stimme gibt. Wie bei Ulrike Draesner hört man hier mehrere Erzähltöne, Generationen, Religionen, Ideologien übergreifend: Hadscha, Zainabs Mutter, Zainab (Imans Mutter), Désiré (Imans Bruder), Alissa, die Toumani bei Tante Caro kennen lernt. Die Dame kauft überzählige Kinder an und vermittelt sie als Arbeitskräfte. “Jetzt, wo wir keine Neger mehr sind, können wir endlich Afrikaner sein!”, hatten sie Mitte der 1960-er Jahre gedacht, als sich die Kolonialherren endgültig zurückgezogen hatten. Schule, Unterricht, Bildung. Es hat nicht für alle geklappt, Generations-, Religions- und ideologische Konflikte standen dagegen. In diese Welt der Verlierer gibt Assani-Razaki zugleich drastische und anrührende Einblicke. Es ist klar, dass der Ausblick, sich den deprimierenden Zuständen durch Flucht nach Europa zu entziehen, nicht ausbleibt. “Seine Droge war die Flucht, die Flucht in eine bessere Welt oder in den Tod”, heißt es von Iman, den Fernweh verzehrt. Die Endbuchstaben der Kapitel formen das Brandmal dieser Hoffnungsträger: IcI, IslaM, IrdiuM, InfléchI, IceberG, ImpuR, ImpedimentA, IngraT, InfinI, IndigO, IllusioN.

Ryad Assani-Razaki: Iman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Berlin: Wagenbach 2014. 320 Seiten


Immigration ist das neue Problem Europas, nicht mehr Emmigration. Und neu? 1999 erschien Mahi Binebines Roman Cannibales, dessen deutsche Übersetzung 2002 bei Haymon herauskam. Binebine lässt darin den halbwüchsigen Azûz erzählen. Im Angesicht des Schleppers wartet er auf den geeigneten Augenblick zum Übersetzen von Tanger nach Algeciras,  fiebert der berüchtigten Bootsfahrt entgegen, über die Straße von Gibraltar, die, 14 km breit, im Westen Afrika und Europa trennt. Tahar Ben Jellouns Roman Verlassen erschien 2006 auf Französisch und zeitgleich in deutscher Übersetzung, die jetzt als Taschenbuch vorliegt. Ben Jelloun erzählt vom gescheiterten Glück in Europa. “Ich bin auf der Flucht. Und das ist nicht sehr ruhmreich”, notiert die Hauptfigur Azel. Der mondäne Europäer Miguel hält den marokkanischen Jüngling zwar aus, bedient sich seiner aber auch sexuell. Aus all dem wird eine Sache der Ehre, was nicht gut gehen kann. Ben Jelloun schildert die Geschichte ohne Larmoyanz, aber voll maghrebinischer Erzählkultur und zugleich voll europäischer Modernität. Die Lektüre macht klar, warum dieser Autor neben Assia Djebar zu den ganz Großen der frankophonen Maghrebliteratur zählt. Das hier ist so gar nicht naive Betroffenheitsliteratur oder Migrationskitsch, die im politischen Diskursstrom der Globalisierungs-, Migrations- und Integrationsdebatten schwimmen.

Tahar Ben Jelloun: Verlassen. Berlin: Berlin Verlag 2014. 272 Seiten


Emmigration ist in der europäischen Literatur in die Vergangenheit gerückt, Immigration dagegen findet sich als gegenwärtiger Vorder- und Hintergrund thematisiert; Beispiele wären in der österreichischen Literatur etwa Ludwig Lahers Dokumentationsroman Verfahren (2011) oder Martin Horvaths Schelmenroman Mohr im Hemd (2012), aber auch Bernhard Aichners Thriller Totenfrau (2014), in dem Ost-Flüchtlinge  von einer einheimischen Seitenblicke-Schickeria zu Tode misshandelt werden, bevor sie selbst die gerechte Strafe ereilt. In den medialen Fokus sind illegale Migranten Anfang der 1990-er Jahre geraten. “Am 8. August 1991 hatten viele Tausende Albaner im Hafen von Durrës das rostige Frachtschiff Vlora gekapert und sich damit an die italienische Küste aufgemacht. Sie standen dicht gedrängt an Deck, sie kletterten die Masten hoch. Mehr als zehntausend waren auf dem Schiff. Nur weg, nur weg!” Es war eine Zeit, in der man noch hoffte, dass die Befreiung vom kommunistischen Joch friedlich vonstatten gehen würde und der kalte Krieg in einem warmen politischen Frühling auftaut. Der Massenexodus aus Albanien aber löste eine mediatisierte Hysterie aus, die Flüchtlinge als feindliche Invasoren stigmatisiert. Lampedusa - 200 km von Sizilien und 130 km von Tunesien entfernt - ist zum Synonym der massenhaften Wanderung von Menschen aufgrund des extremen Gefälles zwischen Arm und Reich geworden. Ulrich Ladurner widmet der kleinen Insel kulturgeschichtliche Perspektiven von Shakespeares Prospero über Ariosts Orlando bis zu Nostra Signora di Lampedusa und schildert, wie alles wurde, wie es ist.

Ulrich Ladurner: Lampedusa. Große Geschichte einer kleinen Insel. St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz Verlag 2014. 144 Seiten


“Wissen Sie, die Medien berichten über die Migration wie über eine Katastrophe. Dabei ist sie etwas völlig Normales. Menschen wandern aus, wenn die Bedingungen bei ihnen zu Hause schlecht sind. Das ist doch der Normalzustand. Darum sollten die Medien über Migration nicht wie über sensationelle Ausnahmen sprechen, sondern wie über etwas Gewöhnliches, das zum Menschen gehört wie die Luft zum Atmen!” Erstaunlich, wie sich Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa, Ulrich Ladurner gegenüber äußert. Ähnliche Direktheit spricht aus Joe Saccos Comic-Reportagen. “Unsere Flüchtlingspolitik mag abstoßend wirken, ist aber leider eine Notwendigkeit”, meint dort der Malteser Innenministerin Carmelo Mifsud Bonnici, Hauptverantwortlicher für das Flüchtlingswesen in seinem Land. In Die Unerwünschten - einem der sechs gezeichneten und getexteten Reiseberichte dieses Bandes - ist der Inselstaat Epizentrum wie auch allegorisches Beispiel europäischer Flüchtlingsproblematik und -politik schlechthin - 15mal größer als Lampedusa, aber eben doch nur 316 qkm mit extremer Bevölkerungsdichte. Sacco folgt den Asylsuchenden auf Malta mit seinem Zeichenstift bis in die desolatesten Flüchtlingslager und in ihre traumatischen Erzählungen von Schikane, Gefängnis und Folter. Für Die Unerwünschten kam der gebürtige Maltese 2009 in sein Heimatland zurück. Als Kind war er selbst von dort aus mit seinen Eltern nach Australien ausgewandert. Waren die weißen Europäer damals willkommen, um die weiße Mehrheit zu stärken, befürchten die Malteser heute eine Übermacht der einwandernden Schwarzen. Frustration und Aggression, Ängste und Ressentiments auf beiden Seiten sind die Folgen.

Joe Sacco: Reportagen. Den Haag. Palästina. Kaukaus. Irak. Malta. Indien. Aus dem Englischen von Christoph Schuler. Zürich: Edition Moderne 2013, 192 Seiten


Joe Saccos Reportagen, denen ein flammendes Manifest über die “zeichnerische Wahrhaftigkeit” des Comics als journalistisches Medium vorangeht, zeigen deutliche Sympathie für diejenigen, die zu wenig gehört werden. “Die Mächtigen”, schreibt er, “werden von den Mainstream-Medien und von Propaganda-Organen im Allgemeinen gut bedient. Natürlich sollten sie auch erwähnt und zitiert werden, aber vor allem um zu zeigen, wie sie die Wahrheit unterdrücken.” Elisabeth Plessen hat unser Thema vor kurzem noch in einem anderen Medium aufgegriffen, einem Gedicht mit Interpretation. An dieser Stelle können nur sein Anfang und Ende zitiert werden, wieder als Aufforderung, das Ganze zu lesen: “Ein junger Afrikaner / rücklings / in zerfetztem rotem Hemd / auf Lampedusas Stein /  geworfen / … / glitzerndes Europa / du verbotenes Land.”

Elisabeth Plessen: Das Titelfoto der Unità vom 8. Juni 2008. Frankfurter Anthologie, hg. v. Rachel Salamander, FAZ, 31.05.2014 (Nr. 125)

 

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(1) Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 7
(2) Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck 2012 (Wissen 2761), S. 7; IMIS = Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien
(3) Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. München: C.H. Beck 2014, S. 17
(4) Jan M. Piskorski: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew. München: Siedler 2013

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Bernhard Sandbichler: Die Umfrage
 
Der LiLit-Fragebogen beantwortet von Angelika Krinzinger
 

 
Die Idee eines Fragebogens an sich ist natürlich nicht neu; entstanden ist sie im späten 19. Jahrhundert in England als Salon-Zeitvertreib. Es geht um Vorlieben und Abneigungen, Selbsteinschätzungen und Weltanschauungen – und das Ganze zur „geselligen Neugier“. Die Franzosen haben sie bereitwillig übernommen und Marcel Proust, der große Marcel Proust, hat einen solchen Fragebogen 1890 voll Esprit ausgefüllt. (Daher die Bezeichnung: der „Proust-Fragebogen“. 1924 tauchte ebendieser wieder auf und 2003 wurde das Manuskript um  über 100.000 Euro versteigert.) Bernard Pivot, der französische Reich-Ranicki, hat die Idee für seine Literatur-Sendung Bouillon de la Culture übernommen, James Lipton für sein TV-Interview-Format Inside the Actors Studio, die FAZ als „Herausforderung an Geist und Witz“ für ihr Magazin.
Die Idee ist also allemal den – leicht adaptierten –  Versuch wert. (bs)
 

© Angelika Krinzinger

 

 

 

 

 

 

Status quo & überhaupt

Wie geht’s, wie steht‘s?
Danke, sehr gut.

Worum geht’s im Leben?
Liebe, Lust und Leidenschaft

Ihre größte Extravaganz?
Hab ich eine?

Ihre Devise?
„Nicht ärgern, nur wundern.“
 
Ihr größter Fehler?
Da gibt’s nicht nur einen.

© Angelika Krinzinger

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lieblinge & Lieblinge

Ihre Lieblingsbeschäftigung offline?
Spazieren

Ihre Lieblingsbeschäftigung online?
Reise buchen

Ihr Lieblingsname?
Jakob

Ihre Lieblingsfarbe und -blume?
Find alle schön

Ihr Lieblingsduft?
Vanille

Ihr Lieblingsessen und -trinken?
Ich mag alles gerne, außer Pilze und Innereien

Ihr Lieblingsbuch?
Florian Langenscheidts Handbuch zum Glück

Ihr Lieblingsbild?
Das hat mein Sohn gemacht und hängt in meinem Wohnzimmer.

Ihr Lieblingsfilm?
Thelma and Louise

Ihr Lieblingsmusikstück?
Bryan Adams: Summer of 69

Ihr/e Lieblingsfotograf/in?
Hiroshi Sugimoto

Ihr/e Lieblingsschauspieler/in?
Susan Sarandon

© Angelika Krinzinger

 

 

 

 

 

 

Präferenzen & Schätzungen

Handke oder Bernhard – oder beide nie gelesen – oder lieber einen von zwei anderen?
Bernhard

Beatles oder Stones – oder gibt‘s ein anderes Gegensatzpaar?
Waren beide sehr wichtig in meiner Jugend

Hofer oder Gaismair – oder Wilhelm Tell?
Hofer

Was schätzen Sie an Ihrem Wohnort (welcher) am meisten/wenigsten?
Ich wohne in Wien an der Alten Donau und schätze meinen Garten und die Nähe zur Stadt

Was schätzen Sie an Tirol am meisten/wenigsten?
die Berge
die Enge

Welchen Fehler entschuldigen Sie am ehesten, welchen nie?
Ungeduld
Gewalt

Welche Eigenschaft schätzen Sie bei einem Mann am meisten?
Humor

Welche Eigenschaft schätzen Sie bei einer Frau am meisten?
Humor

Was schätzen Sie bei Ihren FreundInnen am meisten?
Treue

© Angelika Krinzinger

 

 

 

 

 

 

Historizitäten & Realitäten

Ihre HeldInnen in der Wirklichkeit?
Meine Großmutter, sie hat 12 Söhne geboren!

Ihre HeldInnen in der Weltgeschichte?
Maria Theresia

Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie am meisten?
Adolf Hitler

Welche (anti)militärischen Leistungen bewundern Sie am meisten?
Lysistrate von Aristophanes

Welche Reform bewundern Sie am meisten?
Das allgemeine Wahlrecht

© Angelika Krinzinger

 

 

 

 

 

 

Wunsch- & Antiwunschkonzert

Wo möchten Sie leben?
In Wien
 
Ihr  Traum vom Glück?
Das bleibt geheim, sonst geht er nicht in Erfüllung.

Was wäre für sich das größte Unglück?
Krankheit

Was verabscheuen Sie am meisten?
Neid

Wer oder was wären Sie gern?
Ein Baum

Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?
Singen

Hätten Sie sich gern selber als Chef?
Das bin ich schon...

Die berühmte Fee „kommt geflogen, setzt sich nieder auf Ihr‘ Fuß“, Sie haben drei Wünsche frei. Welche?
Ich wäre gern ein gesunder singender Baum.

Wie möchten Sie sterben?
Ich hätte gern genügend Zeit mich von meinen Liebsten zu verabschieden.

Und was soll einmal auf Ihrem Grabstein stehen?
Bitte keinen Grabstein, und wenn‘s sein muss, dann auf keinen Fall was reinmeißeln.

© Angelika Krinzinger

 

 

 

 

 

 

ANGELIKA KRINZINGER, geboren 1969 in Innsbruck, studierte 1988 bis 1991 Fotografie an der Höheren Graphischen Bundes-Lehr-und Versuchsanstalt Wien. Seit 1991 als Künstlerin und freie Fotografin in Wien tätig. In ihrer Fotoserie „An Hand“, vom 1. April bis 31. Oktober 2014 auf Schloss Ambras zu sehen, setzt sich Angelika Krinzinger mit den Porträts der Habsburger in Schloss Ambras Innsbruck auseinander. „An Hand“ ist im Laufe des Jahres 2013 entstanden und zeigt ausschließlich Hände der Porträtierten. Krinzinger arbeitet immer in Serien, die Beschäftigung mit Oberflächen und Details ist ein wiederkehrendes Motiv in ihrem Werk. Auch bei „An Hand“ bleiben die Gemälde als ganze und ihre Künstler zweitrangig. Der Blick wird auf ein Detail der Malerei gelenkt, das in Porträts gewöhnlich weniger Beachtung findet. Hände können durch Gesten das Gesagte oder den verbalen Ausdruck zur Gänze ersetzen. Gesten unterscheiden sich nicht nur kulturell, sondern auch historisch: Während Handhaltung und Attribute von zeitgenössischen Betrachtern oft noch entschlüsselt werden konnten – als Hinweise auf Jungfräulichkeit, Tugendhaftigkeit, Weisheit oder Macht –, bleiben sie heute vielfach verborgen. Krinzingers Fotografien spielen mit Details, mit der Fähigkeit, ein Ganzes zu imaginieren, auch wenn dieses nicht unmittelbar sichtbar ist. Die Krakelüre, das feine Netz der Risse der Oberfläche der Malerei, tritt dabei besonders deutlich hervor und betont die Ebene der Zeitlichkeit.

Fotos mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin: http://www.galerie-krinzinger.at/artist/angelika_krinzinger

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