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Anton Unterkircher: 74 Gedichte zum 75. Geburtstag

Hans Haid: 74 Ötztaler Dialektgedichte. Innsbruck, Wien: Kyrene 2012

Hans Haid, um 1975Haid zeigte sich Ende der 1960er Jahre überzeugt, dass der Dialekt für die Lyrik besser geeignet sei als die Hochsprache. Damals war diese Übertreibung – vor allem auch in Tirol – noch angebracht. Die Mundartdichtung hatte es bitter nötig, neue Perspektiven zu entwickeln. Inzwischen hat sich die Dialektdichtung längst als – wenn auch kleines Segment – in der kanonisierten Literatur etabliert und unterliegt selbstverständlich denselben Bewertungskriterien. Es geht auch hier um eine gelungene Verbindung von Form und Inhalt, von Rhythmus und Sprachmelodie, um die Ausgewogenheit der Sprachilder usw. Und doch stellen die Gedichte von Haid eine besondere Herausforderung dar. Denn eigentlich kann nur jemand, der im Ötztal aufgewachsen ist, die besonderen Qualitäten dieser Gedichte würdigen. Denn ohne des Ötzalerischen mächtig zu sein, sind die Leseversuche zum kläglichen Scheitern verurteilt. Die Leser tun also gut daran, sich die CD zu besorgen, auf dem diese Gedichte von Haid selbst gelesen und von Toni Burger musikalisch begleitet werden. Aber auch das reicht immer noch nicht aus. Denn jetzt liegen zwar Wortklang und Rhythmus in der Haid’schen Version vor, aber die Bedeutungsebene erschließt sich noch immer nicht. Die beigegebenen ‚Lesehilfen‘ können da nur bedingt weiterhelfen. Denn für bestimmte Ausdrücke gibt es keine Entsprechungen im Hochdeutschen und zudem hat der Dialekt von vornherein eine Tendenz zur Verknappung, die ebenso schwer zu vermitteln ist wie die daraus resultierenden Mehrdeutigkeiten.
Die neue Gedichtauswahl beginnt mit „a darf“:

„a darf
mittlat dinnan
di kircha
zehn glöggen
drpröchne
schollächr
goaße
schtauden
drnoogne rinten
zwoa hennen bein mischte
hintrn paarnen
drei kie
dreißig hennen
dreihundrcht flüigen
a hoon
dreckige kindr
rötzig
vrplearcht
plearate schoof
lienate kie
goggrate hennen
schimpfatr paure
gschtonk
dreck
mischt
a darf
und a haus
höhe parge
schtüibmfoll
jaagar
wildpoch
a darf
sicht nüicht dos ischt olles
a darf“

Die beigegebene Lesehilfe dazu lautet: „ein dorf / in der mitte / die kirche / zehn glocken / zerbrochene schallöcher / ziegen / stauden / zernagte rinden / zwei hennen / beim mist / hinter den barren / drei kühe / dreißig hennen / ein hahn / der knecht / schmutzige kinder / rotzig / verweint / plärrende schafe / muhende kühe / gackernde hennen / ein schimpfender bauer / gestank / dreck / mist / ein dorf / und ein haus / hohe berge / wasserfall / jäger / wildbach / ein dorf / sonst nichts / das ist alles / ein dorf“.

Dieses Gedicht eröffnete einst, vor vierzig Jahren, Haids ersten Gedichtband „Pflüeg und Furcha“ (1973). Es stach damals eindeutig hervor aus der rückwärtsgewandten, verklärenden Heimatliteratur. Besonders die Mundartdichterinnen und -dichter präsentierten ja gern bei Vereinsabenden und Folkloreveranstaltungen zum Gaudium der Touristen das Bild eines urig bäuerlichen und heilen Landes. Immerhin griff Haid in seinem Buch noch Themen auf, die der damaligen Vorstellung von Dialektdichtung durchaus noch entsprachen. Es ging um Brauchtum, die Beschreibung von Arbeitsvorgängen, um die Landschaft im Laufe der Jahreszeiten, um Liebe und Tod. Haids zweiter Gedichtband „An Speekar in dein Schneitztiechlan“, der Ende 1973 erschien, bringt neben Landschafts- und Liebesgedichten in Ötztaler Mundart aber auch kritische Gedichte über den Fremdenverkehr („Auf dem Lande“, S. 23-26) und die Schützen („Schützenkompanie“, S. 27-30). Besonderer Stein des Anstoßes war das Gedicht „fohn vöeroon“ (S. 64, im neuen Band S. 30), von dem sich zuvorderst die Längenfelder Schützen, in der Folge das gesamte Tiroler Schützenwesen, angegriffen und beleidigt fühlten: „foon vöeroon / drhintr / a poor töttle“ („fahne voran / dahinter / ein paar trottel“). Es kann schon sein, dass die besondere Wirkung und Aufregung im Heimattal gerade dadurch entstand, dass die Kritik im eigenen Dialekt zu lesen war. „Wenn Probleme in der eigenen Sprache ausgedrückt werden, glauben die Leute auch, daß es ihre Probleme sind“, gab sich Haid damals überzeugt. Jedenfalls war dieses Gedicht die Ursache für ein großes Rauschen im Blätterwald: Haid wurde in Österreich und darüber hinaus schlagartig als kritischer Mundartdichter bekannt. Bei seinen Landsleuten vermochte Haid mit seinem Erklärungsversuch, er wende sich mit dem Gedicht gegen das blinde Mitmarschieren im Allgemeinen, nicht speziell gegen die Schützen und Musikkapellen, nicht zu überzeugen und es gelang ihm schon gar nicht, eine fruchtbringende Diskussion auslösen. Der ‚Schützenbeschimpfer‘ und ‚Nestbeschmutzer‘ Haid wurde nach ‚guter‘ Tiroler Art tätlich bedroht und vom Ötztaler Heimatverein, dessen Obmann er seit 1966 gewesen war, ausgeschlossen. Seine beruflichen Aussichten, das Ötztaler Freilichtmuseum weiter auszubauen und zu leiten, waren damit dahin.
Freilich hatte Haid schon vorher mit mancher Aktion die Stimmung aufgeheizt. Als besonders publikumswirksam erwies sich das ‚Hörspiel‘ „Wie die Tiroler Tirol wieder zurückerobern können… oder: von der verlogenen Heimatromantik“, das im September 1973 im Rundfunk gesendet worden war. Das war „Piefke-Saga“ pur schon lange vor Felix Mitterer. Das Resümee dieser Sendung war entmutigend: Für Haid schien Tirol schon damals für die Tiroler auf immer verloren. Das städtische Gedränge in den Urlaubsdörfern, Verkehr und Gestank, Umweltverschmutzung und Landschaftszerstörung, die auf „Pseudo-Tyroler-Look“ getrimmten Appartementhäuser und Hotels mit Gletscherblick, das Traditionsdenken, das Beschwören des tapferen Kampfes anno 1809 und die Schützen als Brauchtumsbewahrer und Heimatschützer, ihr Mitmarschieren bei Prozessionen zum Gaudium der Touristen, schnulzige volkstümliche Lieder, all dies kritisierte Haid als Auswüchse der Geschäfts- und Geldgier. Seit der Zeit der „Nationalsänger“ (=Tiroler Volksliedgruppen) werde ein Klischee verbreitet, und jetzt sei es tatsächlich so weit, dass manche Touristen gerade das sehen wollten. Volkskultur werde daher nicht mehr als Kultur angesehen, sondern als Unterhaltung, als Folklore. Tirol sei auch anders, als es im Tiroler Volkskunstmuseum vermittelt werde, dort werde der Feiertag vorgestellt, nicht der Alltag der Tiroler.

 

 Typoskript für eine Regionalsendung im ORF am 23.9.1973,
Brenner-Archiv, Vorlass Hans Haid 

 
 
Von Anfang an aber betonte Haid nicht einseitig den Wert des Alten, er stand und steht auch dem Neuen aufgeschlossen gegenüber, zielt darauf ab, Erhaltenswertes fruchtbringend mit neuen Lebensformen zu verbinden. Sein Kampf richtet sich beispielsweise nicht prinzipiell gegen den Tourismus, sondern gegen dessen Auswüchse und der damit erfolgenden Zerstörung von unwiederbringlichen Ressourcen.
Haid lebte damals in Wien und war gerade dabei sein Volkskundestudium abzuschließen. In seiner Dissertation beschäftigte er sich kritisch mit dem „Brauchtum des Ötztales und seine Wandlung“ (1974 abgeschlossen). Ein maßgeblicher Untersuchungsgegenstand waren eben auch die Tiroler Schützen, denen ihr ursprünglicher Vereinszweck, nämlich der der Landesverteidigung, schon längst abhanden gekommen war. Haids Sicht auf Tirol war also damals gewissermaßen eine von außen und dass er zur Darstellung den Ötztaler Dialekt, die ‚ältesten Sprache Österreichs‘ verwendete, hatte nicht wenig mit seinen engen Kontakten zur Wiener Gruppe zu tun. Jandl und Artmann waren, was die Dialektdichtung anlangt, sein wichtigsten Vorbilder.
In Tirol sah es damals mit Mitstreitern noch sehr mager aus. Zwar hatte Norbert C. Kaser 1969 bei seiner legendären Brixner Rede angekündigt, die heiligen Kühe nun endlich schlachten zu wollen, doch noch 1974 musste Joseph Zoderer mit seinem ersten Buch, einem Lyrikband in Südtiroler Mundart, hausieren gehen, da es die Buchhandlung Athesia nicht in ihr Sortiment aufnahm. Damals war es ungemein schwerer als heute, mit kritischen Texten Gehör zu finden. Gerade auch wegen des unermüdlichen Aufrüttelns von Haid haben es die Jungen heute leichter. Auch für seine eigenen Arbeiten hat er gewissermaßen vorgeholzt, denn das folgende Gedicht verursacht heute keinen Aufreger mehr, obwohl es nicht mit Zeitkritik spart.

„DORFBILD 2009

koa paamen
koa blüama
koa paure
koa sunna
koa moone
koa kircha
koa darfle
koa fearnar
koa freede
olles völl galt
und mittlat
dr töet
dr wompate
töet
wompat & töet
olles völl
nöt
sooget
vrgaltsgött
und geat“

„kein baum / keine blume / kein bauer / keine sonne / kein mond / keine kirche / kein dorf / kein gletscher / keine freude / alles voller geld / und mittendrin / der tod / der vollgefressene / tot / vollgefressen und tot / alles voller / not / sagt / vergeltsgott / und geht“.

War das Dorfbild schon trist, das noch das alte Leben in den Alpen unverblümt darstellte, so ist das neue Leben in den Alpen (zu beiden Themen hat Haid volkskundlich-kritische Bücher in den 1980er Jahren verfasst) um keinen Deut erbaulicher. War also Haids Einsatz vergeblich? Auf keinen Fall, denn es braucht zu allen Zeiten kritische Geister, die das Bestehende hinterfragen. Wenn auch vielfach noch in den Anfängen, so wird doch das Wirtschaften in kleinen Räumen, die enge Zusammenarbeit von Landwirtschaft und Tourismus, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Europaregion Tirol, der sparsame Umgang mit den Ressourcen, zumindest in den Sonntagsreden beschworen. Bis zu einer flächendeckenden Umsetzung wird es wohl noch eine gute Weile dauern. Durch seinen unermüdlichen Einsatz hat Haid immerhin erreicht, dass der Ötztaler Dialekt im Jahr 2010 von der UNESCO zum „immateriellen Kulturerbe“ erklärt wurde und nun wirbt auch der von ihm massiv angegriffene Tourismus im Ötztal mit dieser Errungenschaft. Auch die Schaftriebe in den Ötztaler Alpen wurden auf Haids Initiative und nicht zuletzt wegen seine Buches darüber 2011 in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der Österreichischen UNESCO aufgenommen. Die Literatur war und ist bei Haid immer nur eine, wenn auch wichtige Vermittlungsschiene. In zahlreichen Vorträgen, Rundfunksendungen und Sachbüchern vermittelt er seine Forschungsergebnisse über die Kulte, Mythen und Sagen im Alpenraum. Ein bemerkenswerter literarischer Niederschlag davon ist der Roman „Die Landgeherin“.

Seit Juni 2013 ist es möglich, das Lebenswerk von Haid anhand seines nun fertig geordneten Vorlasses zu erforschen und nachzuprüfen. Haid hat ihn 2010 (mit Nachträgen in den Folgejahren) dem Brenner-Archiv geschenkt. In 93 Kassetten sind die vielfältigen Aktivitäten des Volkskundlers, Mundartdichters, des Querdenkers und Vordenkers zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des alpinen Raumes und dessen Kultur dokumentiert und für die Öffentlichkeit zugänglich. Einen wichtigen Teil dieses Bestandes macht die Sammlung „Biographie“ aus: Seit Mitte der 1960er Jahre hat Haid darin chronologisch alles abgelegt, was mit seinen öffentlichen Auftritten zusammenhängt.

Langsam, aus der Sicht von Haid viel zu langsam, werden doch einige seiner Bemühungen aufgenommen und umgesetzt, doch viel mehr wird noch immer dem Mammon geopfert, sodass Haid die Apokalypse nahen sieht. Aber aufgeben wird und will dieser Einzelkämpfer nicht. Er arbeitet intensiv an mehreren Projekten und deren Ergebnisse werden wieder nicht erfreulich sein. Schon im Juli 2013 soll das „Haid-Lesebuch II“ herauskommen (ein erstes ist 1984 erschienen). In der Verlagsankündigung heißt es dazu: „Mein Lesebuch II ein Abschiednehmen, ein Wutausbruch, ein Verzweiflungsschrei, eine letzte Bergpredigt? Ich weiß es nicht“.

Bio-bibliographische Informationen zu Haid finden sich im „Lexikon Literatur in Tirol“, das Bestandsverzeichnis des Vorlasses von Haid auf der Homepage des Brenner-Archivs (Sammlung Hans Haid).

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Erika Wimmer: Ikarus und kein letzter Versuch: Klaus Mazohls Doppelstücke.


Die Tragikomödie als Doppelstück


Klaus MazohlEs ist gerade in der zeitgenössischen Kunst eine gängige Praxis, ein Ding von zwei unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen bzw. dasselbe Phänomen in Variationen vorzuführen und damit zu signalisieren, dass es nicht nur eine Wahrnehmung, sondern viele, nicht eine einzige Wahrheit, sondern mehrere gibt. Und seit jeher ist es ein Verfahren kritischer, ja gesellschaftskritischer Kunst, Eindimensionalität aufzubrechen und bestehende Scheuklappen abzulegen, mit Möglichkeiten zu spielen oder multiperspektivisch zu arbeiten. Diese Instrumentarien bringen per se schon zum Ausdruck, dass die Dinge nicht so einzementiert sind, wie dies auf Seiten der Macht gerne behauptet wird.
       Wie kaum eine andere Kunstform verfügt das Theater darüber hinaus über eine besondere Unmittelbarkeit: Die Bühnenkunst vollzieht sich prinzipiell zeitgleich mit der spontanen Reaktion auf ebendiese – vorher ist nichts gewesen, nachher wird nichts sein, das Theatergeschehen ereignet sich: jetzt. Ein Zuschauer kann das Geschehen auf der Bühne beeinflussen, er kann ins Licht treten und gegen das, was er sieht, protestieren, kann es durch Zurufe anheizen, es durch Störaktionen unterwandern und damit verändern. Das mag zu Shakespeares Zeiten eine gängige Praxis gewesen sein, heute unterdrückt die bürgerliche Konvention derartiges. Doch abgesehen von Usance und Konvention, das Theater ist von seinem Wesen her Spiel, Möglichkeitsform, Interpretation – nichts Festgelegtes, sondern vielmehr Bewegung, ein Tanz. Es ist vielleicht dieser Umstand, der schon in der Antike die Gattung der Tragikomödie herausgebildet und tragische wie auch komische Elemente zu einer signifikanten Einheit gefügt hat, einer Einheit nämlich, die über einen Mehrwert verfügt. Der Begriff Tragikomödie wurde von Plautus (254-184 v. Chr.) erfunden, um die Verbindung beider Elemente in seinem Amphitruo zu benennen. Das Leben, so lässt sich aus dem Begriff a priori ableiten, ist nun einmal weder das eine noch das andere allein, es existiert nur in einem Wechsel oder in einer Mischung von Trauer und Lust, Freud und Leid.
       Klaus Mazohl (1924 in Meran geboren, 1995 in Bozen gestorben) war als Südtiroler Dramatiker insofern eine singuläre Erscheinung als er sich früher und stärker als andere mit dem modernen Theater als einer Institution auseinandergesetzt hat, die mit dem Schauspiel der Antike in einem noch immer produktiven Dialog steht. Das Volksstück hingegen, das in der Region Tirol und Südtirol eine lange Tradition besitzt und ab den 1960er und 1970er Jahren durchaus einige Innovationen erfuhr, hat ihn offenbar nicht sehr interessiert. Und auch vom politischen Theater eines Bertolt Brecht und seiner Nachfolger wollte er sich absetzen. In einem programmatischen Text mit dem Titel „Ein Vorwort“, als Typoskript im Nachlass (Forschungsinstitut Brenner-Archiv) erhalten und wohl als Beigabe zu einer Manuskripte-Sendung an seinen Bühnenverlag Universal-Edition verfasst, heißt es eingangs: „Was wäre in dieser Stunde lohnender als ein Versuch, mit dem Theaterkarren aufzubrechen? Hier nämlich ist nichts mehr zu erwarten: die Epigonen des Lehrstückeschreibers sind weit entfernt davon, wie er gläubige Utopisten zu sein, was sollen sie uns also lehren […]“. Und obwohl Mazohl, wie einige seiner späteren Stücke beweisen, eine Affinität zum Absurden hatte, hat er offenbar auch dem absurden Theater nicht mehr allzu viel abgewinnen können: „[…] die Absurden haben das letzte Pulver soeben verschossen.“
       Mazohls Interesse für die Antike tritt der Beobachterin schon einmal in Titeln mancher Bühnenstücke entgegen: Ikarus! Ikarus!, Armer Bruder Ödipus, Die Rätsel der Sphinx, Amor vincit omnia lauten seine frühesten Werke. Sein erstes Stück, Ikarus! Ikarus!, hat der ausgebildete Fotograf, der im Brotberuf als Journalist arbeitete, 1961 geschrieben, es ist der tragische Teil eines sogenannten Doppelstücks. Der zweite Teil, die Komödie, trägt den Titel Ein letzter Versuch.
       Der Autor – er hat übrigens bis dahin nichts anderes, keine Gedichte, keine Prosa verfasst – ist demnach mit dem „Theaterkarren“ aufgebrochen, indem er die zeitgenössische Bühne mit dem Konzept des Doppelstücks, hinter dem die antike tragische Komödie steht, bereichern wollte. Der Begriff Doppelstück taucht allerdings auch anderweitig auf, er ist nicht eigentlich Mazohls Erfindung, obwohl nicht mit Gewissheit gesagt werden kann, ob er ihn aus der bestehenden Theaterliteratur übernommen hat. Doppelstück bezeichnet grundsätzlich einmal eine Dublette, ein doppelt existentes Stück oder Artefakt. Aber ohnehin geht es hier nicht um den Begriff, sondern um die Umsetzung der dahinter stehenden Grundidee, die von Mazohl in jenem „Vorwort“ formuliert wurde wie folgt:

Diese Stücke haben eine ungewöhnliche Form: sie wurden konzipiert als Tragikomödien der Art, daß das Thema auf derselben Szene zuerst tragisch, dann komisch durchgeführt wird; welche Form aber das älteste europäische Theater zum Vorbild hat nach der Erkenntnis, daß Lachen und Weinen nur die zwei Seiten eines Ganzen sind und uns zusammen erst als Menschenbild zeigen. Eine solche Form nötigt zu Beschränkungen, doch ist die Beschränkung ja die Wurzel der Fülle des Theaters: im vereinfachten Raum werden die tragischen Gegensätze überdeutlich und also faßbar, und das auf demselben Grund befreite Lachen gewinnt eben aus diesem Grund die tiefere Resonanz.

Die ungewöhnliche Form liegt demnach darin, dass anders als bei der geschlossenen Tragikomödie (auch solche hat der Autor später verfasst) zwei eigenständige Stücke am selben Abend auf die Bühne kommen, bei ein und demselben leicht variierten Bühnenbild. Wie Mazohl seine Theorie im Text umsetzte, mit welchen Verknüpfungen er arbeitete und was er damit beabsichtigte, sei im Folgenden anhand seines ersten Doppelstückes vorgeführt.

Vom richtigen und falschen Leben

Mazohls Erstling Ikarus! Ikarus! / Ein letzter Versuch (datiert auf April-Mai 1961) thematisiert im ersten und tragischen Teil einerseits die Verfolgung einer jungen Frau durch sensationsgierige Boulevardjournalisten, andererseits die unabsehbaren Folgen eines Kriegstraumas. Man darf davon ausgehen, dass der Autor die zeitgenössische Literatur verfolgte und zu einem Gutteil kannte, dass er Dürrenmatt, Frisch, Böll und andere wichtige Vertreter der deutschsprachigen Literatur der 1950-1960er Jahre las, was im Übrigen auch seine in Privatbesitz hinterlassene Bibliothek bezeugt. Bölls Erzählung Die Verlorene Ehre der Katharina Blum ist allerdings erst 1974 erschienen, sie kann Mazohl nicht als Themenvorgabe gedient haben. Man darf im Weiteren davon ausgehen, dass er nicht nur die Regionalpresse konsumierte, sondern auch deutsche und österreichische Zeitungen las, dass er sich als Journalist außerdem mit den Praktiken des Boulevard auskannte und man darf sicher sein, dass er sie zutiefst verabscheute. Interessant ist, dass er das Thema Boulevardpresse relativ früh aufgriff, bevor etwa der mächtige Springer-Konzern und seine Machenschaften im Zuge der 1968-Bewegung eine Zeitlang fast täglich in die Schlagzeilen kamen. Mazohls Kritik an der Presse ist gewiss vom Zeitgeist, vom zunehmenden Unmut gegenüber Machtstrukturen aller Arten und Couleurs beeinflusst gewesen. Dazu kommt, dass er ein Kenner und Anhänger von Karl Kraus war und dessen Pressekritik schätzte. Was die Presse, was überhaupt Geschriebenes und Gesprochenes anrichten kann, wird in der Tragödie wie auch in der Komödie thematisiert.
       Zunächst mutet etwas altmodisch an, dass Mazohl sein Doppelstück sowohl im ersten wie auch im zweiten Teil (teilweise) in adeligen Kreisen ansiedelt, zumal eine konkret festzumachende Auseinandersetzung mit der Aristokratie und seiner speziellen Position nach dem Zweiten Weltkrieg ausbleibt. Unkritisch steht der Autor dem Adel allerdings nicht gegenüber, er ist ihm vielmehr – dies sei vorweggenommen – ein Symbol für ein veraltetes, verkrustetes, rein auf Konvention basierendes und damit ‚falsches‘ Leben, gegen das sich ein wahrhaftiger, vitaler und letztlich auch unschuldiger Lebensversuch erst durchsetzen muss. In der Tragödie scheitert der Drang des Vitalen, in der Komödie siegt er.
       Zum Inhalt: Der Reporter Robert und ein Pressefotograf stürmen die Wohnung einer Komtesse, die, wie sich später herausstellt, soeben den Sohn einer Baronin umgebracht hat. Eine Tragödie, hinter der ein noch größeres Trauerspiel verborgen ist. Die Komtesse ist nicht da, jedoch ihre Ziehmutter Hildegard. Robert und Didi sind mehr als dreist, sie wollen die ersten am Schauplatz des Skandals sein und quetschen Hildegard aus. Sie rechnen mit dem baldigen Auftauchen der Mörderin, die werde wohl einige Sachen holen, um sich danach abzusetzen. Hildegard, von den Eskapaden ihrer Ziehtochter ohnehin schon strapaziert, erzählt den Reportergeiern unter dem Versprechen, dass sie im Gegenzug nichts über den Fall publizieren werden, die ‚ganze Geschichte‘: Kim, die Komtesse, ist als vierjähriges Kind nach der Bombardierung des Guts ihrer Eltern als einzige der Familie übergeblieben und wurde von ihr, Hildegard, der heimlichen Geliebten des Grafen, im ‚Geiste der Aristokratie‘ aufgezogen. Kim, obwohl verarmt, soll wieder standesgemäß leben, also ‚hinauf‘ kommen. Die junge Frau aber drängt ‚nach unten‘, sie wehrt sich gegen die Fremdbestimmung mittels äußerst unangepassten Verhaltens. Sie wird zunächst als hysterisch und gewalttätig geschildert, zeigt sich aber im Weiteren als ein Mensch, der Konventionen ablehnt, sich stattdessen nach Liebe und Freiheit sehnt und danach leben will. Kim taucht tatsächlich auf, Robert, der nicht gewusst hat, dass seine Freundin adeliger Herkunft ist, entpuppt sich als ihr Geliebter. Er ist nun in der Zwickmühle, und er bleibt halbherzig. Kim hat den Mann ermordet, den Hildegard für sie vorgesehen hat, weil er sie erniedrigt und zu vergewaltigen versucht hat. Mit Robert will sie fliehen und so dem Gefängnis entkommen, doch der steht nicht voll und ganz zu ihr. Als Scharen von Reportern eintreffen, nach Bildern und Informationen aus erster Hand gieren, spitzt sich die Handlung zu. Robert versucht seine Kollegen von Kim fernzuhalten, sie aber springt unterdessen aus dem Schlafzimmerfenster. Ihr einziger wirklicher Freund, Anton, kann nichts für sie tun. Soweit der erste Teil.
       Im zweiten Teil will Monique, Gattin eines reichen Fabrikanten, ihre Tochter Margit mit dem verarmten Grafen Treppwitz verheiraten, Frederic, Margits Vater, steht mit seiner nach ‚Höherem‘, nach Adel und Bildung strebenden Frau im Wettstreit – einem Wettstreit, den er als ein im Grunde einfacher Mann, der es mit Fleiß und einem ausgeprägten Materialismus zu etwas gebracht hat, unentwegt verliert. Monique und Treppwitz werden als selbstgefällige, hochnäsige Personen vorgestellt, sie sprechen in Floskeln, die geistreich klingen sollen, aber nichts als lächerlich sind. Frederic ist dagegen ein simples Gemüt, das anfangs die Sympathien des Publikums zu gewinnen vermag.
       Margit, um die es schlussendlich geht, ist frisch, frech und nicht gewillt, irgendwelche Kompromisse einzugehen. Sie liebt Manfred, einen jungen Mann, der nichts hat und darum von Frederic  abgelehnt wird, Graf Treppwitz ist aber nicht weniger arm, auch er ist nicht der richtige Schwiegersohn, zumal Frederic dem Geschwafel des Grafen nichts abgewinnen kann. Die schwärmerische Monique aber will die Eheschließung gegen den Willen von Mann und Tochter durchsetzen.
       Da taucht mit einem Mal die Großmutter auf, sie ist auf Margits Seite und will das Steuer herumdrehen. Sie liest Frederic und Monique, die sich an dieser Stelle als Fritz und Monika entpuppen, einen Brief vor, Margits vermeintlichen Abschiedsbrief. Die Eltern glauben, ihre Tochter habe vor, Selbstmord zu begehen, weil sie nicht in die Ehe mit Treppwitz hineingetrieben werden will. Doch statt die Tochter davon abzuhalten, haben sie nichts Besseres zu tun als sich gegenseitig Schuld zuzuschieben – eine Szene, in der beide gleichermaßen als Witzfiguren dargestellt werden. Am Ende beschämt die Großmutter ihre Tochter Monika: Der Brief stammt nicht von Margit, sondern von der jungen Monika, sie war es, die vor fünfundzwanzig Jahren gedroht hatte, sich das Leben zu nehmen. Warum? Weil sie Fritz und keinen anderen haben wollte. Monika und Fritz erkennen, dass sie ihre Vitalität, das ‚richtige Leben‘ nicht nur zusehends aufgegeben, sondern schlichtweg vergessen haben. Auf dieser Basis heißen sie am Ende Margits Geliebten Manfred willkommen.
       Auf den ersten Blick wirken die Stücke vom Inhalt her etwas altbacken, sie bedienen ein wenig zu offensichtlich das herkömmliche Modell: hier ungewollte Eheschließung, dort ‚wahre Liebe‘. Wiewohl sein Erstling nicht zum Besten gehört, was Mazohl geschrieben hat, erweist sich der Autor aber beim näheren Hinsehen zum einen als kritischer Denker, der einiges vom ‚Geist der 1968er‘ vorwegnimmt und zweitens als durchaus gewitzter Schreiber, der die Traditionen zu nutzen weiß. Das Bühnengeschehen verläuft nicht linear, weder Tragödie noch Komödie sind für den Zuschauer leicht abzusehen. Mazohl führt sein Publikum wiederholt in die Irre und bringt damit zum Ausdruck, dass die Dinge oftmals nicht so sind, wie sie aussehen mögen. Die Wendepunkte, die dem Ganzen Spannung geben, sind von einer Sprache getragen, die Klischees nutzt, um falsche (zu brechende) Erwartungen aufzubauen. Hinter den in Klischees sprechenden Figuren stehen die (‚wahrhaftigen‘) menschlichen Schicksale. Es wird deutlich, dass das Klischee, die Fassade und die Attitüde Strategien eben dieser Menschen sind, um nicht zum wirklichen Leben vordringen zu müssen. Lebensangst hindert die Figuren, aus dem Vollen zu schöpfen und damit auch Risiken einzugehen. Nur die beiden jungen Frauen, Kim und Margit, verfügen über einen direkten Zugang zum Eigenen, Wahrhaftigen. Idealisiert werden sie, wie man an Kim sieht, dennoch nicht.
 

Typoskript von Klaus Mazohl

Typoskript von Klaus Mazohl,
Brenner-Archiv, Nachlass Klaus Mazohl

 

Zwei Seiten derselben Medaille

Die Verknüpfungen der beiden Teile des Doppelstücks sind auf der Ebene der Motivik am eindeutigsten nachzuvollziehen: Stehen in Ikarus! Ikarus! die skrupellosen Journalisten im Mittelpunkt, so ist in Ein letzter Versuch die Presse das Medium, dessen sich der verarmte Treppwitz bedient, um seine pseudogebildeten und eitlen Ergüsse zu verbreiten; die Zuschauer lachen darüber, doch Monika als Monique geht dem in der Zeitung publizierten Geschwafel auf den Leim und betet Treppwitz an. Mit viel Humor zeigt Mazohl, wie sehr man mittels Sprache manipulieren, ja sogar an der Nase herumführen kann.
       Aristokratische Manieren als Metapher für das Falsche, weil Überholte und nicht mehr Authentische, durchziehen beide Stücke. Das Motiv der prinzipiell nichtssagenden, mitunter aber zum Schaden anderer aufgesetzten Maske ist bei Mazohl allgegenwärtig, es spiegelt das Verhalten und die Sprache der zentralen Figuren und kippt nicht selten ins Groteske. Dem aristokratischen Lebensstil – im ersten Stück in der Figur Hildegard über die Zeit hinaus festgehalten, im zweiten als überflüssiger Überbau von vorneherein lächerlich gemacht – wird ein Lebensbedürfnis gegenübergestellt, das sich nicht nach elterlichen oder patriarchalen Vorgaben und gesellschaftlichen Modellen ausrichtet. In beiden Stücken ist die ‚schlechte Mutter‘ der Gegenpart, sie möchte die Tochter an einen ‚Besseren‘ verkaufen, nur scheinbar zu deren Wohl. Dahinter steht in Wahrheit Eigennutz, letztlich aber vor allem die verfehlte Aufarbeitung bzw. Integration eigener (traumatischer) Erfahrungen. Last but not least tritt in beiden Teilen eine weise und gütige Figur auf den Plan. In Ikarus! Ikarus! ist es Anton, der Kim ein wirklicher Freund ist, der zu ihr steht und nichts verlangt. Doch er bleibt zu schwach und kann die Tragödie nicht aufhalten. In Ein letzter Versuch ist es die Großmutter, die ihre Lektion von damals gelernt hat und darum die Zügel in die Hand nimmt. In einer der Schlusssequenzen erweist sich Mazohl als veritabler Moralist, wenn er der Großmutter in den Mund legt: „Adel“ sei kein Stand, kein Gewand oder etwas, das man sich kaufen könne, “Adel“ sei „nicht Form, sondern Inhalt und Form“, der „Inbegriff des Menschseins“.

Die Sprache als Schlüssel

Der Titel des zweiten Stücks Ein letzter Versuch signalisiert, dass die durch die Großmutter geleistete Offenlegung eines alten Familienmusters auch dessen endgültige Auflösung ermöglicht, zumindest potenziell. Insofern ist das Ende des Stücks nicht einfach ein happy end für das Liebespaar Margit und Manfred. Sieht man die Protagonisten beider Stücke als Repräsentanten der noch im Alten verhafteten Gesellschaft der frühen 1960er Jahre, so könnte Mazohl auch eine Lösung auf gesellschaftlicher Ebene im Auge gehabt haben. Es spricht einiges dafür, dass er mit dem Stück der Utopie Ausdruck geben wollte, dass die Geister der (Kriegs-) Vergangenheit vertrieben werden können, wenn sich die Gesellschaft nur ausreichend bewusst macht, wie eben diese am Leben erhalten werden und wie sie funktionieren.
       Für den Stückeschreiber Mazohl waren die Themen seines Erstlings aber nicht abgeschlossen, es war keineswegs sein erster und „letzter Versuch“. Die weiteren Stücke – fasst man sie ganz grob ins Auge – kreisen immer wieder um die von Materialismus und Dünkel zugrunde gerichteten positiven Qualitäten der Menschen und sie nehmen stets ‚das Gesellschaftliche‘ der privaten Beziehungen ins Visier.
       Wenngleich er sie vielfach ironisch einsetzt, ist er in seinem ersten Stück noch stark einer konventionellen Sprache verpflichtet. In den Folgestücken erarbeitet sich Mazohl jedoch mehr und mehr eine Kunstsprache, die gebrochen erscheint und funktional als ‚tragische Ironie‘ gesehen werden kann: Im Sprechen enthüllen die Figuren etwas über sich, das sie selbst nicht erkennen. Mazohl betreibt Sprachkritik, was einerseits die Qualität seiner Stücke, andererseits aber auch deren Schwäche ausmacht, geht sie doch da und dort mit dem Verlust eindringlicher Bühnencharaktere einher. In gewisser Weise verfasste er fortan Sprechstücke. Für ihn selbst, und damit befand er sich in den 1960er Jahren in guter Gesellschaft, war die Sprache der Schlüssel für seine Kritik an einer vom Fortschrittsglauben getriebenen Gesellschaft.
       In dem bereits mehrfach zitierten „Vorwort“ sucht er denn auch mögliche Lektoren darauf zu lenken: „Was gut ist an diesen Stücken, kommt aus der Sprache, die im Dialog zu jeder Replik das Stichwort gab.“ Auf eine Aufführung musste er allerdings noch etliche Jahre und beinahe zehn weitere Stücke warten: Die Tragikomödie Fast ein Hamlet, sein Debüt, wurde in der Spielzeit 1969/70 im Theater an der Josefstadt uraufgeführt.

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