Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung (Roman) |
Kritik: "Die größere Hoffnung" ist keine konkret-realistische Darstellung der Demütigungen, der Angst und der verzweifelten Hoffnung angesichts des nationalsozialistischen Terrors, sondern eine allegorische Dichtung in zehn chronologisch angeordneten Bildern aus der Perspektive eines fünfzehnjährigen Mädchens. ![]() |
||||
Ilse Aichinger: |
||||
Inhalt: Ilse Aichinger erzählt von jüdischen Kindern, die einen Judenstern tragen müssen und nicht mehr im Stadtpark spielen dürfen. Schließlich holt die Gestapo sie ab und deportiert sie in ein Vernichtungslager. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, dem dieses Schicksal erspart bleibt, weil es nicht drei oder vier, sondern nur zwei "falsche" Großeltern hat, wird am Ende von einer Granate zerfetzt. ![]() |
|
|||
Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung |
Die große Hoffnung
Ellen, ein schätzungsweise fünfzehnjähriges Mädchen, hat zwei "falsche" Großeltern. Weil die Mutter deshalb emigrierte und der Vater die Familie verließ, um seine Offizierskarriere nicht zu gefährden, lebt Ellen bei ihrer "falschen" Großmutter und Tante Sonja in einem schäbigen Quartier. "Wer sich nicht selbst das Visum gibt, bleibt immer gefangen. Nur wer sich selbst das Visum gibt, wird frei." (Seite 18) Der Kai
Bibi, Georg, Kurt, Leon, Hanna, Ruth und Herbert haben nicht nur zwei "falsche" Großeltern wie Ellen, sondern drei oder vier. Ihnen ist deshalb fast alles verboten, und sie haben ständig Angst vor der "geheimen Polizei". Seit sieben Wochen sitzen sie am Kai und warten darauf, dass ein Kleinkind ins Wasser fällt, damit sie es retten und zum Bürgermeister bringen können. Der wird sie loben, und dann dürfen sie auch wieder im Stadtpark spielen und auf den Bänken sitzen.
Die Frau wollte Ellen umarmen, aber Ellen stieß sie zurück. "Ich kann nichts dafür", schrie sie verzweifelt, "ich kann nichts dafür! Ich wollte euch rufen, aber ihr wart zu weit weg, ich wollte –" Frustriert und verärgert setzen sich die Kinder trotz des Verbots auf eine Anlagenbank. Kurz darauf knirschen Stiefel im Sand. Drei Soldaten bleiben vor den Kindern stehen. Einer von ihnen ist Offizier – Ellens Vater, "der Mann, der Ellen gebeten hatte, ihn zu vergessen" (Seite 48). Sie streckt die Hand nach ihm aus, er weicht zurück, doch Ellen umklammert ihren Vater, damit die anderen Kinder davonlaufen können. Das heilige Land
Weil die Kinder den Stadtpark nicht betreten dürfen, spielen sie auf dem Friedhof, und statt auf Bänken sitzen sie auf Gräbern. Im Dienst einer fremden MachtWeil Herberts Tasche ein Loch hat, verliert er auf der Straße ein englisches Vokabelheft. Aufgeblättert liegt es im Regen, und die Tinte verläuft. Ein Junge, der eine Uniform trägt, bleibt stehen, hebt das Vokabelheft auf, blättert darin und nimmt es mit. Er betritt dasselbe Haus wie Herbert, doch während dieser fünf Treppen hinauf zur Mansarde geht, gesellt sich der uniformierte Junge zu den anderen in Parterre, die gerade das Lied von den blauen Dragonern singen.
"Wem gehört das Heft?" Die Angst vor der AngstEllen leidet darunter, dass sie nicht zu den anderen Kindern gehört, die drei oder vier "falsche" Großeltern haben und einen Stern auf der Kleidung tragen. Heimlich nimmt sie einen solchen Stern aus der Nähschachtel ihrer Großmutter, steckt ihn ans Kleid und betrachtet sich im Spiegel. Dann läuft sie hinunter auf die Straße, um für Georg eine Torte zu kaufen, denn er hat Geburtstag.
Ellen [...] lief durch die alten, nebligen Gassen, vorbei an Gleichgültigen und Glatten [...] Der Stern an ihrem Mantel beflügelte sie. Laut klapperten ihre Sohlen auf dem harten Pflaster. Sie lief durch die Gassen [...]
Erst die Torte im halbhellen Schaufenster der Konditorei brachte sie zum Stehen. Die Torte war weiß und glänzend, und darauf stand mit rosa Zuckerguss "Herzlicher Glückwunsch". Die Torte war für Georg, sie war der Friede selbst. Rötliche, gefälschte Vorhänge umgeben sie von allen Seiten wie durchschimmernde Hände. Wie oft waren sie hier gestanden und hatten geschaut. Einmal war es eine gelbe Torte gewesen und einmal eine grüne. Aber heute war sie am schönsten. Statt zu Georgs Geburtstagsfeier geht Ellen zu Julia. Obwohl das sechzehnjährige Mädchen vier "falsche" Großeltern hat, spielt es nie mit den anderen Kindern und bleibt immer zu Hause. Julia ist voller Freude, denn einige Stunden vorher hat sie ein Visum erhalten: Sie darf in die USA ausreisen. Ellen beneidet sie darum. Anna kommt hinzu. Sie wohnt im selben Haus und ist etwas älter als die beiden anderen Mädchen. Sie werde auch wegfahren, sagt sie, und Julia jubelt, weil sie glaubt, mit ihr auf einem Schiff zu sein. Aber Anna fügt still hinzu, dass sie in die andere Richtung fahren wird, nach Polen. Das große SpielDie Kinder spielen Maria und Josef, den Engel und die Drei Könige. Es läutet, aber sie öffnen erst, als es wieder aufhört. Draußen steht Ellen.
"Weshalb habt ihr nicht aufgemacht?"
Die Kinder haben Angst, wer ihnen auf den Lastwagen hilft, wenn er zu hoch ist. (Seite 136) Wie eine große tanzende Flamme schlug ihr Spiel über ihnen zusammen. (Seite 159) Der Tod der Großmutter
Tante Sonja ist verschwunden; Ellen weiß nicht, wohin. Eines Nachts erwacht sie und beobachtet, wie ihre Großmutter etwas sucht. Unter einem Kissen zieht sie eine Phiole hervor. Die fällt ihr auf den Boden; weiße Pillen rollen heraus. Ellen springt aus dem Bett, zertritt versehentlich das Glas und beginnt zu bluten.
FlügeltraumDrei Minuten vor der planmäßigen Abfahrt eines Munitionszugs kann der Lokführer sich plötzlich nicht mehr an das Ziel der Fahrt erinnern. Er springt ab, rennt ein Stück auf und ab. Der Stationsvorstand warnt ihn: "Es ist wichtig. Es ist ungeheuer wichtig, hören Sie? Waffen, Waffen, Waffen! Waffen an die Front, das kostet Sie den Kopf!" (Seite 191)
Aber der Lokführer will keine Munition mehr an die Front bringen. Er verliert den Verstand. Wundert euch nichtEllen steigt in einen Keller hinab. Im Dunkeln trifft sie auf zwei Plünderer. Da heult die Sirene: Fliegeralarm! Der Bunker ist auf der anderen Seite, unter dem Lagerhaus: das schaffen sie nicht mehr. Plötzlich werden Ellen und die beiden Männer von einer Druckwelle in eine Ecke geschleudert und verschüttet. Sie haben kaum noch Luft. Um auf sich aufmerksam zu machen, schlagen sie mit einer Schaufel gegen Steine, aber sie wissen: Wenn sie gefunden werden, wird man auch merken, dass sie plündern wollten, und auf Plünderung steht die Todesstrafe. Auch für Ellen sieht es nicht gut aus, denn wie soll sie beweisen, dass sie nicht zu den beiden Plündern gehört. Die größere HoffnungEs gelingt Ellen, aus dem verschütteten Keller zu kriechen. Ein verendendes Pferd liegt vor ihr; es riecht nach Verwesung, und wo das Lager stand, klafft ein riesiger Bombentrichter. Ellen rennt in die Stadt, obwohl dort heftig gekämpft wird. Ein Soldat – er heißt Jan – nimmt sie in seinem Auto mit. Als er in die Schulter getroffen wird, verstecken sie sich in einem leer stehenden Haus. Jan sollte eine Nachricht zu einer Einheit bei der umkämpften Brücke bringen und weil er dazu nicht mehr in der Lage ist, bittet er Ellen, es für ihn zu übernehmen. Bei der Brücke liefert Ellen den Brief einem Posten ab. Eine Frau, die einen blutbespritzten weißen Mantel trägt, warnt Ellen: "Nicht dorthin!" Aber das Mädchen reißt sich los. Die brennenden Augen auf den zersplitterten Rest der Brücke gerichtet, sprang Ellen über eine aus dem Boden gerissene, emporklaffende Straßenbahnschiene und wurde, noch ehe die Schwerkraft sie wieder zur Erde zog, von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen." (Seite 277) |
Buchbesprechung:
Ilse Aichinger erzählt von jüdischen Kindern, die einen Judenstern tragen müssen und nicht mehr im Stadtpark spielen dürfen. Schließlich holt die Gestapo sie ab und deportiert sie in ein Vernichtungslager. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, dem dieses Schicksal erspart bleibt, weil es nicht drei oder vier, sondern nur zwei "falsche" Großeltern hat, wird am Ende von einer Granate zerfetzt. Sein Inhalt, seine Sprache, sein Aufbau machen es dem Leser nicht leicht, er muss die Sätze Aichingers geduldig lesen, ihnen aufmerksam lauschen. Der Text erzählt nicht linear, er ist ein Geflecht aus Traum, Märchen, Mythos und Historie. Monologe wechseln ab mit Dialogen, auktoriales Erzählen mit personalem. (Florian Welle, Süddeutsche Zeitung, 15. September 2007) |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 / 2007
Ilse Aichinger (Kurzbiografie) |