Ivo Andric: Die Brücke über die Drina. Eine Wischegrader Chronik (Roman) |
Kritik: Nicht eine Figur, sondern eine Brücke über die Drina steht im Mittelpunkt dieser Chronik, einer Sammlung von Legenden und realistischen Episoden, in denen sich die Geschichte des Balkans spiegelt. Wir erleben sie aus der Sicht der Bewohner. ![]() |
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Ivo Andric: |
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Inhalt: Im 16. Jahrhundert ließ Mehmet Pascha Sokolis, der Großwesir des Osmanischen Reiches, bei der bosnischen Stadt Wischegrad eine steinerne Brücke über die Drina errichten. Das Bauwerk verband Orient und Okzident. Moslems, Christen und Juden lebten hier lange Zeit friedlich zusammen. Die Sprengung der Brücke im Ersten Weltkrieg war deshalb auch ein Menetekel. ![]() |
Originalausgabe: Na Drini Cuprija |
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Ivo Andric: Die Brücke über die DrinaEine Wischegrader Chronik |
Inhaltsangabe:
Einer der christlichen Knaben, die vom Osmanischen Reich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf dem Balkan für die Janitscharen ausgehoben wurden, brachte es in Konstantinopel zum Großadmiral, Schwiegersohn des Sultans und schließlich zum Großwesir: Mechmed Pascha Sokoli. Er stammte aus Sokolowitschi, einem bosnischen Dorf in der Nähe von Wischegrad. Obwohl er seine Heimat nie wieder sah, vergaß er sie nicht. Als gestandener Mann ordnete der Großwesir den Bau einer steinernen Brücke in Wischegrad an. Es war die einzige Brücke über die Drina, einen rechten Nebenfluss der Sawe. Bisher gab es dort nur eine Fähre, die ihren Betrieb bei Hoch- bzw.Niedrigwasser einstellte. "Meine Vorfahren haben sich nie taufen lassen, also werde auch ich es nicht tun. Ich, Effendi, werde mich weder mit dem Schwaben [damit sind die Christen im Allgemeinen gemeint] taufen lassen noch mit einem Narren in den Krieg ziehen." (Seite 149)
Als die Österreicher anrückten, verließen die meisten Moslems die Stadt. Hussein Effendi hinderten sie jedoch daran, indem sie ihn fesselten und mit dem rechten Ohr an einen Eichenbalken auf der Brücke über die Drina nagelten. So wurde Hussein Effendi am Tag darauf von den Österreichern vorgefunden. Sanitäter befreiten ihn. [...] jetzt verband die Brücke in der Tat nichts anderes denn zwei Teile der Stadt und jenes Dutzend Dörfer zu beiden Seiten der Drina. (Seite 303) 1903 kam es in Serbien zu einem gewaltsamen Umsturz. Fünf Jahre später annektierte Kaiser Franz Joseph Bosnien und die Herzegowina. Weil die Balkanstaaten sich nicht über die Aufteilung ihrer Eroberungen einigen konnten, kam es 1913 zum Krieg zwischen den bisherigen Bündnispartnern. [mehr über die Entwicklung auf dem Balkan von 1903 bis 1914] Noch ehe sich die Schreibkundigen in den widersprechenden Zeitungsnachrichten zurechtfanden, war der Krieg zwischen der Türkei und den vier Balkanstaaten schon ausgebrochen und zog seinen uralten Weg über den Balkan. Noch ehe aber das Volk Sinn und Umfang des Krieges recht erfasst hatte, war er bereits durch den Sieg der serbischen und christlichen Waffen beendet. Alles dies geschah fern von hier [...] Wie beim Geld und im Handel, verlief auch bei diesen größten Dingen alles in der Ferne und unfassbar schnell. (Seite 301f)
Das Hotel der jüdischen Familie Zahler gehörte zu den größten Gebäuden in Wischegrad. Es lag unmittelbar in der Nähe der Brücke über die Drina. Inoffiziell nannte man es "Lottikas Hotel", weil nicht der phlegmatische Zahler, sondern dessen verwitwete Schwägerin Lottika den Ton angab. 1885 hatte es seinen Höhepunkt erlebt. Nach der Abholzung des Waldes von Wischegrad waren die Holzfäller weitergezogen. Inzwischen stand "Lottikas Hotel" zumeist leer, zumal ein neues Konkurrenzunternehmen mehr Zuspruch fand, weil man sich dort Prostituierte aufs Zimmer bestellen konnte. Dazu kamen familiäre Sorgen. Eine davon betraf Lottikas Neffen Albert. Trotz eines hervorragenden Schul- und Universitätsabschlusses erhielt er wegen seiner jüdischen Herkunft nicht den kaiserlichen Ring. Seine Tante hoffte, er werde sich wenigstens als angesehener Rechtsanwalt in Wien oder Lemberg etablieren, aber er wurde Journalist und trat der Sozialistischen Partei bei. Schließlich wurde Dr. Albert Apfelmaier in Wien als Aufwiegler zu zwanzig Tagen Haft verurteilt und aus Wien ausgewiesen. Er emigrierte nach Buenos Aires. Die richtige Hetze gegen die Serben und alle, die mit ihnen in Verbindung standen, begann erst jetzt. Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger. Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, die Dämme weggeräumt. Wie oft in der menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub, ja auch der Mord, stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, dass sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt wurden. (Seite 378) Als die Österreicher Männer in Wischegrad ausheben wollten, meinte Alihodscha im Gespräch mit anderen Moslems: "Schon lange kümmert sich niemand um uns und unsere Meinung. Der Schwabe ist nach Bosnien gekommen, und weder Sultan noch Kaiser haben uns gefragt: 'Ist es gestattet, ihr Begs und türkischen Herren?' Dann haben sich Serbien und Montenegro, bis gestern noch Raja, erhoben und das halbe Türkische Reich fortgenommen, und uns hat niemand auch nur eines Blickes gewürdigt. Und jetzt bekriegt der Kaiser von Österreich Serbien, und wiederum fragt uns niemand. Man will uns einfach ein paar Gewehre und schwäbische Uniformen geben, damit wir für die Schwaben Zutreiber spielen. Sie wollen uns die Ehre erweisen, dass wir für sie die Serben verfolgen, damit sie sich nicht selbst in den Bergen herumschlagen müssen." (Seite 381f) Die Brücke über die Drina wurde zehn Tage lang mit Haubitzen beschossen. Sie hielt stand. Doch bevor die Österreicher vor den Serben wichen, sprengten sie den siebten Pfeiler, und die Brücke über die Drina brach zwischen dem sechsten und achten Pfeiler zusammen. |
Buchbesprechung:Ivo Andric (1892 – 1975), ein serbischer Schriftsteller bosnischer Herkunft, der 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, stellt in diesem Roman nicht eine Figur, sondern "die Brücke über die Drina" ins Zentrum und schildert in vierundzwanzig Kapiteln Legenden und Episoden, die auf der Brücke oder in der unmittelbaren Umgebung spielen. Dabei wechselt Ivo Andric zwischen ernsten und humoristischen Begebenheiten und lässt etwa eine Groteske mit skurrilen Figuren auf eine grausame realistische Szene wie die Pfählung eines Bauern folgen. Der Roman "Die Brücke über die Drina" ist eine Chronik vom Bau der Brücke im 16. Jahrhundert bis zu ihrer Sprengung im Ersten Weltkrieg. In den konkreten Ereignissen spiegelt sich die Geschichte des Balkans. Wir erleben sie aus der Sicht der Bewohner Wischegrads und der umliegenden Dörfer. "Die Brücke über die Drina" verband das Morgen- mit dem Abendland; lange Zeit lebten hier Moslems, Christen und Juden friedlich zusammen. Die Zerstörung der Brücke war deshalb auch ein Menetekel. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 |