Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte (Roman) |
Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte |
Inhaltsangabe:Anthony ("Tony") Webster besucht eine Schule im Zentrum von London. Als Adrian Finn neu in die Klasse kommt, erweitert sich die aus Tony, Colin und Alex bestehende Clique um einen vierten Schüler. Adrian ist in seiner persönlichen Entwicklung schon weiter als die anderen, denn die Mutter hatte ihn, seinen Vater und seine Schwester vor Jahren verlassen. Der große schüchterne Junge beeindruckt durch seine Bildung und seine Intelligenz gleichermaßen. Beispielsweise zitiert er im Unterricht Patrick Lagrange: Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen. Auch Tony liest viel, gesteht sich aber ein, dass Adrian ihm geistig klar überlegen ist.
Vorerst waren wir bücherhungrig, sexhungrig, leistungsorientiert und anarchistisch. Alle politischen und gesellschaftlichen Systeme erschienen uns korrupt, doch als Alternative ließen wir nichts als hedonistisches Chaos gelten. Adrian aber trieb uns dazu, an die Anwendung des Denkens auf das Leben zu glauben, an die Vorstellung, dass Handeln von Prinzipien geleitet sein sollte.
Der 15-jährige Mitschüler Robson erhängt sich, nachdem er seine Freundin geschwängert hat. Das schockiert auch Tony. Das Leben sei ein Geschenk, um das niemand gebeten habe; der denkende Mensch habe eine philosophische Pflicht, das Wesen des Lebens wie auch die damit einhergehenden Bedingungen zu erforschen und wenn dieser Mensch sich entscheide, dieses Geschenk, um das niemand gebeten habe, zurückzuweisen, sei es seine moralische und menschliche Pflicht, den Konsequenzen dieser Entscheidung gemäß zu handeln. Tonys Mutter fragt: "Glaubst du, das kommt daher, weil er zu intelligent war?" Und später konstatiert sie: Er war tatsächlich zu intelligent. Wer so intelligent ist, der kann sich in alles Mögliche hineinargumentieren. Der vergisst einfach den gesunden Menschenverstand. Seine Intelligenz hat ihn aus der Bahn geworfen, darum hat er das getan.
Tony verlässt das Elternhaus und wird Trainee bei der Kulturverwaltung. Unwillkürlich verglich ich mein Leben mit dem Adrians. Die Fähigkeit, sich selbst zu sehen und prüfend zu betrachten; die Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln; der geistige und körperliche Mut seines Selbstmords. "Er hat sich das Leben genommen", lautet die gängige Formel; aber Adrian hatte auch die Verantwortung für sein Leben, die Herrschaft über sein Leben übernommen, er hatte es selbst in die Hand genommen – und dann fallen lassen. Bei einer Verabredung auf der Fußgängerbrücke über die Themse zwischen St. Paul's Cathedral und Tate Gallery of Modern Art behauptet Veronica, sie könne ihm das Tagebuch nicht aushändigen, weil sie es verbrannt habe. Aber sie gibt ihm ein Kuvert mit. Es enthält eine Fotokopie des Briefes, mit dem Tony damals Adrians Frage beantwortete, ob er mit einer Beziehung seines Freundes mit Veronica zustimme. Der Brief, an den Tony sich kaum noch erinnerte, ist voller Gehässigkeiten. Ich hoffe so halbwegs, ihr kriegt ein Kind, ich halte sehr viel von der Rache der Zeit, möge sie die Missetaten der Väter heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied.
Er entschuldigt sich in einer E-Mail an Veronica für den Brief. Sie reagiert darauf mit dem Satz: "Du kapierst wohl gar nichts, was? Hast du ja nie."
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Tony möchte herausfinden, was es mit den Behinderten auf sich hat. Um die Gruppe wiederzusehen, hält er sich immer wieder in einem Laden oder in einer Kneipe in der Gegend im Norden Londons auf, wo er sie zum ersten Mal sah. Nach Wochen taucht die Gruppe mit einer Betreuerin auf. Aus der Nähe fällt Tony die Ähnlichkeit eines schlaksigen jungen Mannes mit Adrian Finn auf. Er ist nun überzeugt, dessen Sohn vor sich zu haben. Im Vorbeigehen raunt er ihm zu, er sei ein Freund von Mary. Das versetzt den jungen Mann in Panik. "Glaubst du, das kommt daher, weil er zu intelligent war?", hatte meine Mutter zu meinem Ärger gefragt. Nein, mit Intelligenz hatte das nichts zu tun und mit moralischer Tapferkeit schon gar nicht. Er hatte nicht mit großer Geste ein existenzielles Geschenk zurückgewiesen; er hatte sich vor einem Kinderwagen im Flur gefürchtet.
Tony schickt Veronica eine weitere E-Mail, in der er sich entschuldigt und seinen Verzicht auf das Tagebuch erklärt. Die Antwort lautet erneut: "Du kapierst wohl gar nichts, was? Hast du ja nie." |
Buchbesprechung:"Vom Ende einer Geschichte" beginnt wie ein Coming-of-Age-Roman, aber im zweiten Teil beschäftigt sich Julian Barnes vor allem mit der Frage nach der Zuverlässigkeit von Erinnerungen. Am Ende ist das, was man in Erinnerung behält, nicht immer dasselbe wie das, was man beobachtet hat. Der Protagonist hat Erinnerungen an sein hässliches Verhalten verdrängt, wird jedoch im Alter noch einmal damit konfrontiert und erkennt zumindest einen Teil seiner Lebenslügen. Eng verbunden mit der Einsicht in eigene Schuld ist der Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können. Als Metapher dafür verwendet Julian Barnes ein seltenes Naturschauspiel: Der weltweit zweitstärkste Tidenhub führt an der Mündung des Severn dazu, dass eine Gezeitenwelle (Severn Bore) stromaufwärts fließt. Die Zeit sollte das Maß der Geschichte sein, oder nicht? Doch wenn wir die Zeit nicht verstehen, die Mysterien ihres Fortgangs und Fortschritts nicht begreifen können, wie soll das erst bei der Geschichte sein – und sei es nur unserem eigenen kleinen, persönlichen, weitgehend undokumentierten Anteil daran?
Julian Barnes gliedert seinen leisen Roman in zwei Teile. Als der zweite Teil beginnt, hat der Protagonist längst Schuld auf sich geladen; er weiß es nur noch nicht. "Das Ende einer Geschichte" reißt nicht durch eine aktionsreiche Handlung mit, sondern fesselt den Leser durch Tiefgang und Nachdenklichkeit. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Julian Barnes: Flauberts Papagei |