Jurek Becker: Amanda herzlos (Roman) |
Jurek Becker: Amanda herzlos |
Die Scheidung
Der Ostberliner Sportreporter Ludwig Weniger schreibt einen Brief an seinen Scheidungsanwalt, um ihm Argumente für die bevorstehende Verhandlung zu liefern. Nach meiner Überzeugung handelt es sich um kaltblütig herbeigeführte Arbeitslosigkeit; nicht allein das Beharren auf Prinzipien steckt dahinter, sondern auch Faulheit. Ich habe gelesen, dass sich manche Männer im Krieg eigenhändig verstümmelten, um nicht eingezogen zu werden – etwa so sollte man sich Amandas Radikalisierung erklären. (Seite 32)
Sehr zum Missfallen ihres Ehemanns schrieb Amanda an einem Roman und stand offenbar über eine Kontaktperson namens Katharina Mangold mit einem westdeutschen Verlag in Verbindung. Als Ludwig vom Redaktionsspitzel der Stasi darauf angesprochen wurde, lud er ihn zum Abendessen ein, damit er Amanda ins Gewissen reden konnte. Dabei erfuhr Ludwig auch, dass seine Frau heimlich ein Konto in Hamburg hatte.
Sagt Ihnen der Name Fritz Hetmann etwas? An einem Nachmittag komme ich von der Arbeit, wer sitzt in meinem Wohnzimmer? Fritz Hetmann. In meinen Augen ist er einer jener Schriftsteller, die aus ihrer Feindseligkeit gegenüber unserem Staat einen Beruf gemacht haben, und zwar einen einträglichen [...] Amanda stellte uns auch noch mit einem Gesicht vor, als müsste ich glücklich sein über so hohen Besuch. Sebastian saß auf Hetmanns Schoß und spielte mit seiner seidenen Krawatte, ich bitte Sie, was hat mein Sohn auf dem Schoß dieses Menschen zu suchen? Auf dem Tisch lag eine wichtigtuerische Pralinenschachtel, natürlich aus dem Westen. Mir ist bis heute nicht klar, warum ein bekannter Schriftsteller, nennen wir ihn so der Einfachheit halber, der sich bereit erklärt, mit einer jungen Frau über deren Texte zu reden, Pralinen mitbringt. Dazu gleich einen halben Zentner [...]
Im Lauf der Zeit wurde ihm Amanda immer fremder, und schließlich warf sie ihm vor, er habe sie noch kein einziges Mal zum Orgasmus gebracht. Ein heikler Punkt ist das Kind. Ich will offen zu Ihnen sein: Ich will den Jungen nicht haben. Ich kann ihn nicht nehmen. Wie sollte ein alleinstehender Mann, dazu in meinem Beruf, mit einem Kind leben? Dass ich bereit bin, meinen gesetzlichen Pflichten nachzukommen, versteht sich von selbst [...] Das Peinliche besteht nun darin, dass ich zu Amanda gesagt habe, ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Jungen zu behalten. Was heißt gesagt, ich habe es ihr ins Gesicht geschrien, mehr als nur einmal [...] Und nun verlässt sie mich, und ich will nicht klein beigeben. Mein Bedarf an Demütigungen ist gedeckt. Mit einem Wort – ich möchte vor Gericht so tun, als wollte ich Sebastian um alles in der Welt behalten, gleichzeitig müsste aber gewährleistet sein, dass wir uns damit nicht durchsetzen. Das wäre dann Ihre Aufgabe. (Seite 10f) Inzwischen hat Ludwig eine Affäre mit Lucie Capurso begonnen. Als er zum ersten Mal mit ihr im Bett lag, fragte er sie über Amanda aus, und Lucie erklärte ihm, dass Amanda über seine Seitensprünge Bescheid gewusst habe, aber Ludwig glaubte ihr das nicht. Plötzlich kam ihm der Verdacht, dass Lucie versuchen könnte, ihn auszuhorchen, um für Amandas Scheidungsanwalt Material gegen ihn zu sammeln. "Ich behaupte nicht, sie hätte dich beauftragt, mit mir ins Bett zu gehen, das kann auch deine Idee gewesen sein. Du hast vielleicht gedacht, du könntest das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden." (Seite 73) Jedenfalls scheiterte der Beischlaf an Ludwigs Erektionsstörung.
Ein Thema, mit dem sie mich in Schwierigkeiten bringen könnte, sind Frauen. Es ist wahr, dass ich von Zeit zu Zeit so genannte Ehebrüche begangen habe, ich sage das nicht mit Stolz, aber auch nicht zerknirscht. Ich bin von Versuchungen umzingelt, in der Redaktion, auf Reisen, in Lokalen, ich brauche meine Kraft für etwas anderes, als mich immerzu gegen das Lächeln hübscher Frauen zur Wehr zu setzen. (Seite 18f) Die verlorene GeschichteSieben Jahre lang lebte Amanda in wilder Ehe mit dem zwanzig Jahre älteren Schriftsteller Fritz Hetmann zusammen, den sie bei einer ungenehmigten Autorenlesung kennengelernt hatte. Über die gemeinsame Zeit mit Amanda schrieb Fritz Hetmann die Novelle "Der Feminist", doch als er sie kürzlich von der Diskette in den Computer laden wollte, war die Datei gelöscht. Ich bin sicher, der kleine Dreckskerl Sebastian war es. (Seite 111)
Fritz argwöhnt, dass Amanda ihren inzwischen zehnjährigen Sohn losgeschickt hatte, die autobiografische Novelle zu zerstören, bevor sie veröffentlicht werden konnte. Sie habe es skrupellos ausgenutzt, vermutet Fritz, dass er den Jungen hin und wieder einlud. Wenn ich richtig gezählt habe, saß er fünfmal im Gefängnis, nie länger als ein paar Wochen. Inzwischen ist er reich, es arbeiten drei Anwälte für ihn, und er geht nicht einen Schritt ohne Leibwache aus dem Haus. (Seite 137f) Fritz Hetmanns Erinnerungen reichen bis in die Kindheit zurück. Nachdem sein Vater kurz vor Kriegsende gefallen war, ließ seine Mutter Claire sich mit einem russischen Offizier ein: Arkadij Rodionowitsch Pugatschow aus Charkow. Anfangs verbrachte er halbe Nächte in unserer Wohnung, dann komplette Nächte, dann Abende und Nächte, bis er schließlich, so kann man es sagen, bei uns wohnte. Er schleppte gewaltige Mengen von Lebensmitteln an, Wurstringe, Fischbüchsen, eingelegte Gurken, aber auch andere Wertgegenstände wie Stoffballen oder Kinderschuhe. Einmal stand meine beglückte Mutter vor einem Karton mit Seifenpulver und flüsterte: Welch eine Liebe! (217f)
Claire bekam zwei Töchter von ihm – Laura und Selma –, aber die Beziehung endete nach dem Aufstand am 17. Juni 1953. Während Arkadij Rodionowitsch damals tagelang fortblieb, wurde Claire von den Nachbarn als Russenhure beschimpft. Als er zurückkam, stritt Claire mit ihm und warf ihn dann hinaus. An einer Stelle sagt er, der Unterschied zwischen Sozialismus und real existierendem Sozialismus sei derselbe wie zwischen Firmengründung und Bankrott. (Seite 323)
Bevor Fritz Amanda kennen lernte, war er zweimal verheiratet.
Als Sebastian freiwillig auf meinen Schoß kam, vielleicht um den Pralinen näher zu sein, fiel die Wohnungstür ins Schloss [...]
Nach der Scheidung zog Amanda mit ihrem Sohn zu Fritz. Als ihr Ex-Mann die Hälfte des von Amanda in Hamburg angelegten Geldes verlangte, traf Fritz sich mit ihm in einer Kneipe und drohte ihm mit einer Anzeige. Er habe Zeugen, behauptete Fritz, die aussagen würden, dass Amanda von Ludwig Weniger um Geld erpresst worden sei, und zwar mit der Drohung, im Scheidungsverfahren ihr Hamburger Konto zu erwähnen. Und die größte Pleite das Schreiben. Sie leide an einer äußerst seltenen Krankheit: Ehrgeizig zu sein und zugleich die eigenen Fähigkeiten realistisch einschätzen zu können. Ein Mensch, dem diese Krankheit erspart geblieben sei, könne sich keine Vorstellung von den Qualen machen, die die betroffene Person zu erdulden habe. Das eigentliche Unglück bestehe weniger in der Erkenntnis, dass man unfähig sei, den eigenen Ansprüchen zu genügen, als vielmehr darin, dass diese Ansprüche nun mal da seien. (Seite 236) Schließlich begann Amanda, sich in einer regimekritischen Gruppe zu engagieren, die sich regelmäßig in einer Kirche versammelte. Was jetzt vor ihr lag, war das Sichfügen in die Normalität, in eine Existenz als originelle, intelligente Person, in deren Macht es leider nicht steht, aufsehenerregende Leistungen zu vollbringen. (Seite 201) Als ein Reporter einer österreichischen Zeitung mit Namen Hunsicker ein Interview mit Rudolf machen will, stellt dieser eine Gegenforderung: Der Journalist soll ihm als Geburtstagsgeschenk für Louise einen schwarzen Kaschmirmantel aus Westberlin mitbringen. In Wahrheit gab es das Interview nicht. Ich kannte den jungen Mann schon lange, er war kein Österreicher, er arbeitete für den Norddeutschen Rundfunk und hatte mir schon oft einen Gefallen getan. Und es war kein schwarzer Kaschmirmantel, sondern eine rote Seidenbluse, obwohl ich eine lavendelfarbene hatte haben wollen. Und zu allem Unglück hatte Doll, so hieß er, sich auch noch um einen vollen Tag geirrt. (Seite 204) Der AntragAls Stanislaus Doll, ein westdeutscher Korrespondent in Ostberlin, dem Schriftsteller Fritz Hetmann im September 1987 die Seidenbluse bringt, die dieser seiner Lebensgefährtin zum Geburtstag schenken will, sieht er Amanda Weniger zum ersten Mal – und es ist Liebe auf den ersten Blick. Er schreibt in sein Tagebuch: Es könnte sein, dass ich mich heute verliebt habe, ich werde der Sache nachgehen. (Seite 259)
Um Amanda wiederzusehen, denkt er sich Vorwände aus. Glauben Sie mir, sagt er, diese Leute sind für ein Leben in freier Wildbahn verdorben. Sie sind es gewohnt, in Gehegen zu existieren, alles Unerwartete versetzt sie in Panik. Sie haben etwas Kuhiges, sie malmen ihr Gras, glotzen den Horizont an und wollen pünktlich gemolken werden [...] Ich habe vergessen zu erwähnen, dass diese Menschen kein Erbarmen kennen. In der Schule hat man ihnen eingebläut, dass Mitgefühl im Kapitalismus den sicheren Tod bedeutet, und diese Lehre ist ihnen als einzige im Gedächtnis geblieben. (Seite 299)
Nachdem Amanda einen Antrag auf Heirats- und einen weiteren auf Ausreiseerlaubnis gestellt hat, wird Stanislaus von einem Unbekannten angesprochen, der sich mit dem Namen "Klausner" vorstellt, aber keinen Zweifel daran lässt, dass er nicht so heißt. Er erklärt dem westdeutschen Journalisten, dass es für die Bewilligung der Anträge von Amanda Weniger förderlich sei, wenn er sich bereit erkläre, mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten und gibt ihm ein paar Tage Bedenkzeit. Beim nächsten Treffen zeigt Stanislaus dem Stasi-Mitarbeiter ein Mini-Diktiergerät, das er sich am Vortag kaufte und behauptet, er habe das Anwerbungsgespräch aufgenommen. Wenn Amandas Anträge abgelehnt würden, droht er, werde er die Aufnahme mit einem entsprechenden Kommentar im NDR senden. Daraufhin lässt "Klausner" ihn stehen und entfernt sich grußlos. |
Buchbesprechung:
Das Besondere an dem Roman "Amanda herzlos" ist neben dem kunstvollen Aufbau, dass wir die Titelfigur Amanda nur durch die Äußerungen ihrer drei Lebenspartner kennen lernen. Dementsprechend hat Jurek Becker "Amanda herzlos" in drei Teile gegliedert. Beim ersten Teil – "Die Scheidung"– handelt es sich um einen Brief von Amandas erstem Ehemann (Ludwig Weniger) an seinen
Bei Rudolf war Louise allein zu Haus, bei mir legte Amanda, kaum hatte sie die Tür geöffnet, einen Finger auf den Mund und flüsterte, ihr Sohn schlafe. Rudolf brachte ihr zwei Bücher von sich mit, ein verbotenes und ein erlaubtes, ich, wie gesagt, die Pralinen. Bei Rudolf trug sie eine schwarze Bluse, die neu gekauft war; er hätte geschworen, dass sie sie zum erstenmal trug, er sah am Kragen noch Fäden vom abgetrennten Firmenschild. Ich dagegen habe vergessen, was sie anhatte. Bei Rudolf kam sie nicht mehr auf das Manuskript zu sprechen, bei mir lag es groß und breit auf dem Tisch. Ich nahm mir vor, es so lange wie möglich zu ignorieren, um nicht Neugier vorzutäuschen. Das machte mich geschwätziger, als ich normalerweise bin. (Seite 136) Die originelle Konstruktion nutzt Jurek Becker auch, um die eine oder andere Szene aus verschiedenen Perspektiven zu schildern. Obwohl er den drei Männern keine unterschiedlichen Sprachen gegeben hat, lassen sich aus ihren Äußerungen drei verschiedene Charaktere erkennen. Im Mittelpunkt steht allerdings Amanda. Der ganze Roman ist eine Liebeserklärung an die angeblich herzlose Amanda. Sie ist nicht nur schön und unwiderstehlich, sie ist auch, was beim Autor genausoviel gilt, intelligent, kreativ, schlagfertig, spöttisch und den Männern, in deren Betten sie liegt, ohne sich auf- oder hinzugeben, haushoch überlegen. (Günter de Bruyn, "Der Spiegel" 32/1992)
Nebenbei erfahren wir in "Amanda herzlos" einiges über den Alltag in der DDR in den Achtzigerjahren, über die Spießigkeit und den Bürokratismus, die Stasi und die Angst, ins Blickfeld der Staatsorgane zu geraten. Sarkastisch ist, dass Amanda Anfang 1989 endlich in die Bundesrepublik ausreisen darf – zehn Monate vor der Öffnung der Grenzen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Jurek Becker (Kurzbiografie) |