Frédéric Beigbeder: 39,90. Neununddreißigneunzig (Roman) |
Frédéric Beigbeder:
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Inhaltsangabe:Octave Parango arbeitet in Paris als Texter für die französische Tochtergesellschaft der 1947 in New York von Ed Rosserys und John Witchcraft gegründeten Werbeagentur Rosserys & Witchcraft. Seine Lebensgefährtin Sophie hat ihn gerade verlassen, und zwar wegen seiner garstigen Reaktion auf ihre Mitteilung, sie sei schwanger. Einige Zeit später schickt sie ihm eine Ultraschallaufnahme des Embyros und schreibt dazu: "Das ist das erste und das letzte Mal, dass du deine Tochter siehst." (Seite 83) Octave verabscheut die von der Werbeindustrie beherrschte Welt, in der Konsumzwang herrscht, alles von Wirtschaftsinteressen bestimmt wird und jeder Mensch – auch Octave – käuflich ist.
Früher brauchten Küken drei Monate, um aufzuwachsen, heute liegen zwischen dem Ei und dem abgepackten Huhn im Supermarkt 42 Tage unter grauenhaften Bedingungen. (Seite 70) In seinem Job kommt Octave sich vor wie ein Journalist, der seine Artikel vor der Veröffentlichung von allen möglichen qualifizierten und unqualifizierten Leuten überprüfen lassen muss.
Wenn wir den Vergleich mit dem Journalisten fortsetzen, wäre das so, als würde sein Artikel erst vom stellvertretenden Chefredakteur, dann vom Chefredakteur und dann vom Textchef überarbeitet, danach von allen in seinem Artikel erwähnten Personen überprüft und geändert, anschließend einer repräsentativen Auswahl von Figaro-Käufern laut vorgelesen, dann müsste er ihn noch einmal umschreiben, und am Ende würde der Artikel mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit ohnehin nicht gedruckt. (Seite 41) Am liebsten würde Octave seinen gut bezahlten Job hinwerfen, aber er legt es darauf an, gekündigt zu werden, um eine Abfindung erstreiten zu können. Ich würde am liebsten alles stehen lassen und verschwinden, mit dem heimlich Ersparten, dem Gift [Kokain] und den Nutten, auf eine blöde einsame Insel. (Dann könnte ich den ganzen Tag Soraya und Tamara auf die Finger schauen, wenn sie auf meiner Panflöte spielen.) Aber ich habe Schiss zu gehen. Deshalb schreibe ich dieses Buch. Wenn sie mir kündigen, kann ich dem goldenen Käfig entfliehen [...] Sie schieben mir hundert Eier rüber und ich mach die Fliege. (Seite 18) Bei einem Meeting über das Treatment einer geplanten Werbekampagne für den Null-Fett-Joghurt Maigrelette von Madone, einem der größten Nahrungsmittelkonzerne der Welt, schwirren Anglizismen über den Tisch des Konferenzraumes: Copy Strategy, Treatment, Storyboard, Consumer Benefit, Double Insight, Sound Branding ... Die Bedenken des vorsichtigen Marketingdirektors Alfred Duler nerven Octave so, dass er in der Toilette Kokain schnupft, weil er es sonst nicht länger erträgt. Gutes Kokain kostet 100 Euro pro Gramm. Der hohe Preis ist Absicht: Nur die Reichen sollen in Form bleiben, während die Armen weiter am Ricard verblöden. (Seite 89)
Von dem Kokain kriegt Octave jedoch Nasenbluten, und statt in den Konferenzraum zurückzukehren, schmiert er mit dem Blut das Wort "Pigs" an die Wände. Selbstverständlich beschwert Duler sich darüber bei Philippe Enjevin, dem Chef der Agentur, aber der wirft Octave nicht hinaus, weil er dessen Arbeit schätzt. Natürlich funktioniert der Recorder nicht, wie immer bei solchen Veranstaltungen, und keiner kennt sich damit aus. Man muss einen Techniker rufen, weil die vierzehn anwesenden Personen, die es zusammen auf ein jährliches Einkommen von 6 720 000 Francs (das heißt: über eine Million Euro) bringen, nicht in der Lage sind, ein Gerät zu bedienen, das ein sechsjähriges Kind mit links und verbundenen Augen zum Laufen brächte. (Seite 93f)
Schließlich einigen sich Madone und Rosserys & Witchcraft auf das Konzept für einen Spot, der von Enrique Baducul in Florida gedreht werden soll. Als Model drückt Octave das von ihm bevorzugte Callgirl Tamara durch. "Ich kenne viele Ekel, die auf nett machen, aber du bist ein seltener Vogel: ein Netter, der auf Ekel macht." (Seite 177) Sie erzählt ihm, sie habe ihre kleine Tochter bei ihrer Mutter in Marokko gelassen, wolle jedoch von dem Maigrelette-Honorar ein Haus in Marokko kaufen und mit den beiden zusammenzuziehen. Sie rät Octave, sich mit Sophie zu versöhnen und sich ebenfalls um sein Kind zu kümmern, doch der will nichts davon hören: "Scheiße, was habt ihr eigentlich alle? Kaum fühlt man sich wohl mit euch, müsst ihr von Babys reden. Statt die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten, reproduziert ihr lieber das Problem." (Seite 181) Innerhalb von drei Drehtagen verpulvern die Film- und Werbeleute eine halbe Million Euro. Zum Abschluss drehen sie noch eine Trash-Version des Spot für Cannes: Tamara bekleckert ihre Brüste mit Maigrelette-Joghurt, wälzt sich im für die Filmaufnahmen gefärbten Gras, leckt einen Spritzer Joghurt auf und stöhnt: "Mmmmmhh ... Maigrelette. It's so good when it comes in your mouth." (Seite 186) Octave und Charlie ärgern sich über die amerikanischen Rentner in Miami, die von Pensionsfonds bezahlt werden, denen auf der ganzen Welt Firmen gehören, die im Interesse der alten Leute die Gewinne durch Massenentlassungen maximieren. [...] mischen sich in Miami Rentner (Anleger bei Pensionsfonds, für die alle Angestellten der westlichen Welt das ganze Jahr über arbeiten) mit Militärangehörigen (die sie beschützen) und Kubanern (die sie mit Drogen versorgen). (Seite 166) Um dagegen zu protestieren, dass anderswo Leute ihre Lebensgrundlage verlieren, damit in Miami höhere Renten gezahlt werden können, verschaffen Charlie, Octave und Tamara sich unter einem Vorwand Zugang zu einer willkürlich herausgegriffenen Villa. Die Tür geht auf, und wir stehen vor einer Mumie. Einem Wesen, das vor sehr sehr langer Zeit einmal eine Frau gewesen sein muss [...] Nase, Mund, Augen, Stirn, Wangen sind vollgepumpt mit Collagen. Der Rest des Körpers gleicht einer schrumpeligen Kartoffel. (Seite 188) Sie werfen die Greisin auf die Couch und knebeln sie, als sie um Hilfe schreien will. Charlie hält ihr einen Vortrag:
"Die Aktionäre der amerikanischen Pensionsfonds sollten sich im Klaren sein, dass sie nicht ungestraft das Leben Millionen Unschuldiger zerstören können [...]
Da deutet die alte Frau auf das Schwarz-Weiß-Foto eines amerikanischen Soldaten. "Mmfhghmfphh!!!", zetert sie, und als Octave ihr den Knebel herauszieht, weist sie empört darauf hin, dass ihr Ehemann 1944 bei der Invasion in der Normandie gefallen sei. Charlie, dessen Vater sich nach seiner Entlassung das Leben nahm, dreht daraufhin durch. Er schlägt der Rentnerin das Gebiss heraus und prügelt blindwütig auf sie ein, bis sie tot ist.
Ihr erkennt, dass Chefsein nicht vorm Buckeln schützt. Ein Creative Director ist wie ein Tischler, der von seinem Kunden den Auftrag bekommt, einen wackligen Tisch herzustellen. (Seite 209)
In Cannes wird Rosserys & Witchcraft France für "Maigrelette. The Nymphomaniac" prämiert. Mein Buch ist fertig, es kostet DM 39,90. (Seite 260) |
Kritik:
"39,90. Neununddreißigneunzig" ist ein grelles, sarkastisches Pamphlet von Frédéric Beigbeder (*1965) gegen eine von der Werbung geprägte Welt des menschenverachtenden Konsumzwangs, in der alles käuflich zu sein scheint. Sprüche wie "Grosso merdo wird man bis vierzig bezahlt; danach bezahlt man, so ist das – das Tribunal der leiblichen Schönheit lässt keinen Einspruch zu" (Seite 168f) könnten von Michel Houellebecq sein, aber Frédéric Beigbeder ist nur ein Epigone des Skandalautors, der zur Promotion seines Buches wie sein Vorbild bewusst auf Provokationen setzt – nicht zuletzt durch absurde Obszönitäten und Perversionen wie "Aidophilie" (Orgasmus beim heimlichen Beobachten von Frauen, die gerade erfahren, dass sie sich bei einem ungeschützten Geschlechtsverkehr mit Aids infizierten).
39,90 – Originaltitel: 99 Francs – Regie: Jan Kounen – Drehbuch: Jan Kounen, Nicolas & Bruno – Kamera: David Ungaro – Schnitt: Anny Danche – Musik: Jean-Jacques Hertz, Erin O'Hara, François Roy – Darsteller: Jean Dujardin, Jocelyn Quivrin, Patrick Mille, Vahina Giocante, Elisa Tovati, Nicolas Marié, Dominique Bettenfeld, Antoine Basler, Fosco Perinti, Cendrine Orcier, Dan Herzberg, Arsène Mosca, Niels Dubost, Aurélie Boquien, Mathis Jamet u.a. – 2007; 100 Minuten |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 |