Albert Camus: Der erste Mensch (Roman) |
Albert Camus: Der erste Mensch |
Inhaltsangabe: ... sanft, höflich, verbindlich, sogar passiv und dennoch von nichts und niemand eingenommen, isoliert in ihrer Halbtaubheit, mit ihren Sprachschwierigkeiten, zwar schön, aber nahezu unzugänglich, und desto unzugänglicher, je freundlicher sie war und je stärker sein Herz zu ihr hindrängte -- ja, sein Leben lang hatte sie den gleichen furchtsamen, ergebenen und doch zurückhaltenden Ausdruck gehabt, den gleichen Blick, mit dem sie ... zuvor ohne einzugreifen mit ansah, wie ihre Mutter Jacques mit der Peitsche schlug, sie, die ihre Kinder nie angerührt, sie nie wirklich ausgeschimpft hatte, sie, bei der man keine Zweifel haben konnte, dass diese Schläge auch ihr furchtbar weh taten, sie, die es aber -- wegen ihrer Müdigkeit, ihrer Schwäche im Ausdruck und der ihrer Mutter schuldigen Achtung vom Eingreifen abgehalten -- geschehen ließ, es tagelang und jahrelang erduldete, das Schlagen ihrer Kinder erduldete, wie sie selbst den harten Arbeitstag im Dienste anderer erduldete, die auf Knien gescheuerten Parkettböden, das Leben ohne Mann und ohne Trost zwischen den fettigen Speiseresten und der schmutzigen Wäsche anderer, die langen Tage des Schuftens, die sich aneinanderfügten, um ein Leben zu bilden, das dadurch, dass es ohne Hoffnung war, auch ein Leben ohne jeden Groll wurde, ein unwissendes, eigensinniges und schließlich in alle Leiden, ihre eigenen und die anderer, ergebenes Leben.
Sie lässt es auch geschehen, dass ihre Mutter einen an ihr interessierten Mann vor die Türe setzt. Ein Eindringling würde die eingeschworene Wohngemeinschaft nur stören. Eigentlich hatte niemand dem Kind beigebracht, was gut oder was böse war. Manche Dinge waren verboten, und Verstöße wurden hart bestraft. Andere nicht. Einmal fällt Jacques durch einen Riss in der Hosentasche ein 2-Franc-Stück auf die Erde. Er findet es wieder, und versteckt es. Mit der Ausrede, die Münze sei ihm beim Herunterlassen der Hose in das Loch des Aborts gefallen, erklärt er der Großmutter des Fehlen des Geldes. (Es gab tatsächlich nur einen Abtritt auf dem Vorplatz der Etage.) Sie glaubt ihm nicht. Nach mehrmaligem Nachfragen nimmt sie die Suche selbst in die Hand. Und voller Entsetzen sah Jacques sie den rechten Ärmel hochkrempeln, ihren knotigen weißen Arm entblößen und auf den Vorplatz hinausgehen. Er stürzte, dem Erbrechen nahe, ins Esszimmer. Als sie ihn rief, fand er sie, den rechten Arm voll grauer Seife, vor dem Ausguss, wo sie sich mit viel Wasser abspülte. "Da war nichts drin", sagte sie. "Du bist ein Lügner." Er stotterte: "Aber es kann weggespült worden sein." Sie zögerte. "Vielleicht. Aber wenn du gelogen hast, wirst du keine Freude daran haben."
Ein wenig Abwechslung bringt der behinderte Bruder seiner Mutter, der mit seinem stinkenden Hund ebenfalls im Haushalt wohnt, in das eintönige, arbeitsreiche Leben des Jungen. Der Onkel kann zwar fast nicht sprechen, dennoch ist er der Einzige in der Familie, der sich Zerstreuung gönnt. Auf einen sonntäglichen Jagdausflug nimmt er Jacques mit oder er zeigt ihm die Pferdeställe eines Fuhrunternehmers. Zuerst hatte er "Hausfrau" hingeschrieben, während Pierre "Postangestellte" geschrieben hatte. Aber Pierre erläuterte ihm, Hausfrau sei kein Beruf, sondern meine eine Frau, die das Haus verwahrt und ihren Haushalt macht. "Nein", sagte Jacques, "sie macht den Haushalt der anderen und vor allem den des Kurzwarenhändlers gegenüber." - "Tja", sagte Pierre zögernd, "ich glaube, du musst Hausbedienstete hinschreiben." Zur Abschlussfeier des Schuljahres kommen auch seine Mutter und Großmutter, die sich fein herausgeputzt haben. Trotz der stundenlangen Prozedur der Preisverleihung in drückender Hitze verlieren sie nicht die Geduld, obwohl sie doch gar nicht verstehen können, was vor sich geht. Bei einer Familie, in der wenig gesprochen, in der weder gelesen noch geschrieben wurde, bei einer unglücklichen, geistesabwesenden Mutter, wer hätte ihn über [seinen] jungen, bemitleidenswerten Vater informieren sollen? Niemand hatte ihn gekannt, außer seiner Mutter, die ihn vergessen hatte. Auf einem Kriegsgräberfriedhof besucht Jacques das Grab seines Vaters. Als er darauf die Jahreszahlen 1885 - 1914 liest, kommt ihm erst richtig zum Bewusstsein, dass dieser mit 29 Jahren gestorben ist. Und er, Jacques, ist jetzt 40. Der unter dieser Steinplatte begrabene Mann, der sein Vater gewesen war, war jünger als er. Und die Welle von Zärtlichkeit und Mitleid, die auf einmal sein Herz überflutete, war nicht die Gemütsregung, die den Sohn bei der Erinnerung an den verstorbenen Vater überkommt, sondern das verstörte Mitgefühl, das ein erwachsener Mann für das ungerecht hingemordete Kind empfindet -- etwas entsprach hier nicht der natürlichen Ordnung, und eigentlich herrschte hier, wo der Sohn älter war als der Vater, nicht Ordnung, sondern nur Irrsinn und Chaos.
Die erschütternde Erkenntnis, dass Jacques über seinen Vater und auch über die Familie nichts mehr erfahren wird, macht ihn zum "ersten Menschen", der nach seinen Wurzeln sucht. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2003
Albert Camus (Kurzbiografie / Bibliografie) |