Rafael Chirbes: Am Ufer (Roman) |
Rafael Chirbes: Am Ufer |
Inhaltsangabe:
Esteban wuchs in Olba auf, einem Fischerdorf an der spanischen Mittelmeerküste 50 Kilometer südlich von Benidorm. Dort lebt er auch jetzt noch, im Dezember 2010, als 70 Jahre alter Mann. Wie konnten diese beiden Männer Brüder sein, hier dieser sinnliche Mensch, der in seinem Alter die Lust des Fleisches im bloßen Anblick suchte und mit dem Leben rang, weil er es so sehr liebte, und mein Vater, diese düstere Fledermaus, der ganze Wochen nicht aus dem Haus ging. Aber der lebensbejahende Bruder starb, und Estebans inzwischen über 90 Jahre alter, dementer Vater lebt noch. Derjenige, der über sechzig Jahre lang sein Desinteresse am Leben gezeigt hat, fault lebendig vor sich hin und steckt mit seiner Bitterkeit alles an. Esteban und sein älterer Bruder Germán waren so verschieden wie ihr Vater und Onkel Ramón. Germán hatte eine Autowerkstatt in Misent betrieben, bis er an Lungenkrebs starb, obwohl er nicht geraucht hatte. Seine Witwe Laura sorgte dafür, dass sie alles erbte und ihr Schwiegervater auf alle Forderungen verzichtete. Wegen der Kinder, rechtfertigte sie sich. Am Ende gehörten ihr die Werkstatt und das Haus, die mein Bruder mit dem väterlichen Geld aufgebaut hatte. Mehrere Jahre lang musste mein Vater noch die fälligen Wechsel zahlen.
Sobald Estebans Vater die von ihr vorgelegten Papiere unterschrieben hatte, brach sie den Kontakt zur Familie ihres verstorbenen Mannes ab und ließ nicht einmal ihre Kinder an der Beerdigung der Großmutter teilnehmen. Vor einigen Jahren verkaufte Laura sowohl das Haus als auch die Werkstatt in Misent und zog mit einem neuen Lebensgefährten nach Madrid. Ich. Ich wollte weder Romane schreiben noch bildhauern und wollte um nichts in der Welt Schreiner werden, schon gar nicht im Haus meines Vaters. Ich wollte leben, und wusste nicht, was das war, leben, für mich war das bis zum Gehtnichtmehr mit Leonor zu vögeln, sie zu besitzen, über sie zu verfügen.
Aber Leonor bevorzugte seinen Freund Francisco Marsal. Der stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus. Dass er seinen faschistischen Vater verachtete, hielt ihn nicht davon ab, dessen Geld zu nehmen. Damit ermöglichte er es Leonor, dem Mief der Provinz zu entkommen und in Madrid ein Gourmet-Restaurant zu eröffnen. Inzwischen ist sie tot: Sie erlag 2003 einer Krebserkrankung. Seltsamerweise hatte sie sich gewünscht, auf dem Friedhof von Olba begraben zu werden. Zur Beerdigung reisten Journalisten, Küchenchefs mit Michelin-Sternen und Politiker an. Ihr Grab ist eines der vier oder fünf Prunkmonumente, was dem in Olba lange Zeit gepflegten und erst im letzten Jahrzehnt zerstörten Egalitarismus widerspricht. Auch ihr Witwer lebt jetzt wieder hier. Mein Vater hat sich immer geweigert, die Schreinerei zu vergrößern. Wir nehmen die Aufträge an, die wir erledigen können. Nicht mehr. Wir leben nicht von der Arbeit anderer, sondern von unserer eigenen. Wir beuten niemanden aus. Nur Álvaro. Aber Álvaro gehört zu uns, sagte er, sein Vater hat mir geholfen, als ich mit ihm im Gefängnis war, und er war solidarisch, als ich entlassen wurde. Álvaro war für meinen Vater ein Sohn, ein Grad von Verwandtschaft, mit dem ich mich nicht unbedingt brüsten konnte. Vor etlichen Jahren musste der Greis die Schreinerei seinem Sohn Esteban überlassen. Der vergrößerte den Betrieb und stellte Arbeiter ein, um mehr Geld zu verdienen.
Ich wollte dieses schmale Kapital, das er so viele Jahre zusammengehalten hatte, fetter werden sehen. Während des Baubooms übernahm Esteban die gesamten Schreinerarbeiten für den 20 Jahre jüngeren erfolgreichen Bauunternehmer Tomás Pedrós, der mit seiner Frau Amparo eine mit Designer-Möbeln ausgestattete Luxusvilla an der Steilküste bewohnte. Allein der über dem Meer hängende Pool muss ein Vermögen gekostet haben, vom Rest ganz zu schweigen. Er hat Geld ausgegeben, weil er welches hatte, aber vor allem, weil es sich für seine Geschäfte auszahlte. Für jeden Euro, den er hinauswarf, hat er zehn eingesackt. Sagen wir mal so, er hat mit dem Geld Öffentlichkeitsarbeit gemacht; so hat er sich sein Leben zurechtgezimmert, hat die Nase in fremde Geschäfte gesteckt und die Millionäre in seine Geschäfte hineingezogen. Warum lud er denn eine Legion von alten Knackern auf seine Jacht ein? Um ihnen Geld aus der Nase zu ziehen.
Vor zwei Jahren nahm Esteban zusätzliche Hypotheken auf und verwendete nicht nur dieses Geld, sondern das gesamte von seinem Vater angesparte Vermögen, um sich mit 50 Prozent an Tomás Pedrós' neuen Bauprojekten zu beteiligen. Die Schließung der Werkstatt, die Entlassungen, die präventive Beschlagnahmung vor der Insolvenzerklärung, das war alles nicht vorgesehen und das verzeiht er mir nicht – keiner von ihnen verzeiht es –, als sei es von mir nur eine Laune, sie mit der Schließung auf die Straße zu setzen. Sie hassen mich. Esteban kann Liliana, die langjährige kolumbianische Pflegerin seines Vaters, nicht mehr bezahlen. Eigentlich nahm er an, dass sie auch so bleiben würde, denn das hatte sie mehrmals versprochen. Aber, Don Esteban, Sie wissen doch, auch wenn ich keinen Cent dafür bekäme, ich würde Ihnen beiden immer Gesellschaft leisten. Sie haben ja gesehen, dass mir das alles nichts ausmacht: Ich kann ihn waschen, ihn füttern, was auch immer kann ich für Ihren Vater tun, und das gilt auch für Sie. Solange ich lebe, werden Sie immer eine Pflegerin, besser gesagt, wenn Sie erlauben, eine Freundin haben. Wissen Sie, ich hab das gerne, wenn Sie mich Tochter nennen. Doch nun erklärt Sie: Ich muss mich schließlich durchschlagen, ich kann nicht hierherkommen, wenn ich nicht bezahlt werde. Und sie droht Esteban sogar:
Seien Sie froh, dass ich nicht meinem Mann erzähle, wie sie mich befummeln und küssen wollten. Notgedrungen kümmert Estaban sich allein um seinen über 90 Jahre alten dementen Vater, der nicht mehr sprechen kann, seit ihm ein Tumor aus der Luftröhre entfernt wurde. Dazu gehört auch das Wechseln der Windeln und das Waschen. Esteban benutzt Einweghandschuhe und schmiert sich Menthol-Gel in die Nasenlöcher, um den Gestank zu ertragen. Trotz allem, der Geruch geht den ganzen Tag nicht aus dem Haus, auch mit noch so viel Lauge und Chlor. Er setzt sich in Wänden, Möbeln, in der Kleidung fest. Der Gestank nach Altenwindel.
Am 14. Dezember 2010 setzt Esteban seinen Vater in einen tiefen Sessel vor dem Fernsehgerät und bindet ihn mit einem Laken fest. Nachdem er den Käfig mit dem Distelfinken auf die Terrasse gebracht und geöffnet hat, fährt er mit seinem Geländewagen zum Sumpfgebiet El Marjal unweit von Olba, in den ihn sein Onkel Ramón zweimal pro Woche mitgenommen hatte, als er noch ein Kind war. Onkel Ramón ging dort auf die Jagd, schoss ein Blässhuhn, eine Schnepfe, eine Rouen- oder eine Moschusente. Der der Hund ist Teil der Familie. Ich würde ihn nie allein zurücklassen. Die letzten zehn Meter wird er seinen Vater tragen müssen, denn der Rollstuhl bliebe im Sand stecken. Morgen werde ich ihn aufs Klosett setzen, bis er gekotet hat, und dann werde ich ihn gründlich waschen. Sauberkeit muss sein, Vater. Ich möchte nicht, dass die Reise von solchen unangenehmen Begleitumständen wie Schmutz und schlechten Gerüchen beeinträchtigt wird. – – – Tomás Pedrós sitzt unbehelligt im Wartebereich des Flughafens und erinnert sich an die Zeit in Olba: Um den Tisch sitzen Maurer, die zu Bauunternehmern geworden sind, und die Besitzer von prosperierenden Geschäften – wie ich –, Glasereien, Klempnereien, Schreinereien, Möbelgeschäften, Depots für Baumaterialien, Geschäften für Farben, Transportunternehmen, dazu die Rentiers verschiedener Anlagefonds. Die Zeiten haben sich geändert.
Offensichtlich leben wir weniger verhurt, haben das Gaunerhafte abgelegt, aber vielleicht noch einen Kater davon. Neue Werte liegen in der Luft, franziskanische Tugenden: Man schätzt wieder die Langsamkeit, den geruhsamen Abendspaziergang, der auch gut fürs Herz ist, selbst das Armselige sieht man mit anderen Augen: Ich wage sogar zu behaupten, dass es Mode ist, arm zu sein und mit gepfändetem Haus und Wagen dazustehen. Da klopft ihm seine Frau Amparo auf die Schulter: Tomás Pedrós, du bist eingenickt, du schnarchst und sabberst. Dann fragt sie: Was haben sie dort für eine Währung? – – – Am 26. Dezember 2010 lässt sich der Marokkaner Ahmed Ouallahi, einer der arbeitslosen früheren Beschäftigten der Schreinerei, von seinem als Küchenhilfe Geld verdienenden Freund Raschid an Bauruinen und osteuropäischen Straßenmädchen vorbei zum Sumpf fahren, um dort zu angeln. Jemand, der Arbeit sucht, ist zum lästigen Insekt geworden. ALLE STELLEN FÜR GÄRTNER- UND INSTANDHALTUNGSARBEITEN BESETZT. WIR SUCHEN KEIN PERSONAL. ANFRAGEN UNERWÜNSCHT steht auf dem Schild an dem Apartmentgebäude neben dem Restaurant. Allenthalben die roten oder schwarzen Lettern: ZU VERMIETEN ZU VERKAUFEN FREI ZU VERMIETEN MIT KAUFOPTION EINMALIGE GELEGENHEIT VIERZIG PROZENT RABATT.
Seine Geschwister leben in Belgien und Frankreich. Als er noch in der Schreinerei arbeitete, wollte er seinen verwitweten, allein in Marokko lebenden Vater zu sich holen, aber ohne Einkommen lässt sich der Plan nicht verwirklichen. |
Buchbesprechung:
Die Handlung – sofern man überhaupt von einer Handlung im engeren Sinne sprechen kann – spielt sich im Verlauf weniger Stunden im Dezember 2010 ab: Esteban bereitet für den folgenden Tag einen erweiterten Suizid vor. Was Rafael Chirbes in seinem Roman "Am Ufer" eigentlich zu erzählen hat, kleidet er in Erinnerungen, innere Monologe, Dialoge und unvollständige Notizen in einem Kalender. Zumeist hören wir Esteban. Zwischendurch kommen aber auch andere Figuren zu Wort, und diese Abschnitte sind in dem Buch "Am Ufer" kursiv gesetzt. Außerdem belauschen wir das Debattieren und Schwadronieren einiger Dorfbewohner in einer Bar. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Rafael Chirbes: Die schöne Schrift |