John M. Coetzee: Elizabeth Costello. Acht Lehrstücke |
John M. Coetzee: Elizabeth Costello |
Inhaltsangabe:
Elizabeth Costello wurde 1928 in Melbourne geboren. Mit einer Unterbrechung von 1951 bis 1963, wo sie in England und Frankreich war, hat sie immer in ihrer Heimatstadt gelebt. Aus jeder ihrer beiden Ehen stammt ein Kind. Unter ihrem Mädchennamen Elizabeth Costello veröffentlichte die inzwischen sechsundsechzig Jahre alte Australierin neun Romane, zwei Gedichtbände, ein Vogelbuch und zahlreiche journalistische Arbeiten. Weltbekannt wurde sie 1969 durch den Roman "The House on Eccles Street". Dessen Protagonistin ist Marion, die Ehefrau des jüdischen Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom in Dublin, einer der drei Hauptfiguren in "Ulysses" (1922) von James Joyce. Sie [Elizabeth Costello] kann mit ihrem intakten wahren Ich heimkehren und lässt ein Bild zurück, das, wie alle Bilder, falsch ist. (Seite 42)
Ein emeritierter Professor der Universität von Queensland, der jetzt auf Kreuzfahrtschiffen Filmklassiker vorführt, verschafft ihr eine Einladung von Scandia Lines, Stockholm, für eine fünfzehntägige Kreuzfahrt auf der "Northern Lights" von Christchurch zum Ross-Schelfeis und weiter nach Kapstadt. Kabine, Freiflüge und ein Honorar werden ihr für einen Vortrag über "Die Zukunft des Romans" angeboten. "Der englische Roman", sagt sie [Elizabeth Costello], "wird in erster Linie von Engländern für Engländer geschrieben. Das macht ihn zum englischen Roman. Der russische Roman wird von Russen für Russen geschrieben. Aber der afrikanische Roman wird nicht von Afrikanern für Afrikaner geschrieben. Afrikanische Romanautoren mögen über Afrika, über afrikanische Erfahrungen schreiben, aber ich habe den Eindruck, dass sie dabei die ganze Zeit auf die Ausländer schielen, die sie lesen werden. Sie haben, ob es ihnen nun gefällt oder nicht, die Rolle des Interpreten akzeptiert, der seinen Lesern Afrika interpretiert. Aber wie kann man eine Welt in allen ihren Tiefen erforschen, wenn man sie gleichzeitig Außenstehenden erklären muss?" (Seite 66f)
Zwei Jahre nach der Verleihung des Stowe-Preises fliegt Elizabeth Costello erneut in die USA, diesmal, um die Gates-Vorlesung am Appleton College in Massachusetts zu halten. Ihren an diesem College dozierenden Sohn John hat sie seit damals nicht mehr gesehen. Er ist inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, mit Norma, einer promovierten Philosophin. Elizabeth wohnt drei Tage lang bei der Familie ihres Sohnes im Vorort Waltham, obwohl sie und Norma sich nicht ausstehen können. "Ich sage, was ich meine. Ich bin eine alte Frau. Ich habe keine Zeit mehr, zu sagen, was ich nicht meine." (Seite 81) Die Vegetarierin spricht von dem Leid der Tiere auf zu "Produktionsstätten" verkommenen Bauernhöfen, in Schlachthöfen ("Todesfabriken"), auf Fischtrawlern, in Versuchslabors, und beschuldigt ihre Mitbürger, nichts gegen dieses mitten in der Gesellschaft stattfindende "Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes" (Seite 146) zu unternehmen, sondern wegzusehen. Sie versteigt sich zu einem Vergleich von Schlachthöfen und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.
"Ich will es deutlich sagen: Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war [...]" (Seite 85) Die Zeugen der Judenvernichtung fühlten kein Mitleid, weil sie die Opfer nicht für ihresgleichen hielten. Der gleiche Mechanismus, so führt Elizabeth Costello aus, funktioniere angesichts der Tierquälerei: Die Opfer gehören nicht zu uns. Das Tier hat beispielsweise kein Ichbewusstsein.
"Kein Bewusstsein, das wir als solches erkennen würden. Kein historisches Ichbewusstsein, soweit wir das feststellen können. Was mir nicht gefällt, ist, was sich oft daran anschließt. Sie haben kein Bewusstsein, also. Also was? Also steht es uns frei, sie für unsere eigenen Zwecke zu nutzen? Also steht es uns frei, sie zu töten? Warum? Was ist so Besonderes an der Bewusstseinsform, die wir kennen, dass es ein Verbrechen ist, den Träger eines solchen Bewusstseins zu töten, während das Töten eines Tieres straflos bleibt? Es gibt Augenblicke ..." Auf die Frage, was sie veranlasst habe, Vegetarierin zu werden, beruft Elizabeth Costello sich auf Plutarch, den sie aus dem Gedächtnis zitiert: "Du fragst mich, warum ich kein Fleisch essen will. Ich für mein Teil bin erstaunt, dass du den Leichnam des toten Tieres in den Mund nehmen kannst und es nicht ekelhaft findest, gehacktes Fleisch zu kauen und die Körpersäfte von tödlichen Wunden hinunterzuschlucken." (Seite 107) Einige Stunden später, nachdem Elizabeth Costello zu Bett gegangen ist, äußert Norma sich missbilligend über den Vortrag ihrer Schwiegermutter. John fasst zusammen, was er verstanden hat: "Vermutlich wollte sie etwas über die Natur des rationalen Denkens sagen. Dass rationale Interpretationen lediglich durch die Struktur des menschlichen Gehirns bedingt sind; dass Tiere ihre eigenen Interpretationen haben, die mit der Struktur ihrer Gehirne harmonieren, zu denen wir keinen Zugang haben, weil wir keine gemeinsame Sprache haben." (Seite 117) Norma hält diese Auffassung für naiv, leichtfertig und oberflächlich; wollte man jedes Weltbild achten, würde das zu geistiger Lähmung führen. "Man verbringt so viel Zeit damit, vor allem und jedem Achtung zu haben, dass keine Zeit zum Denken übrig bleibt." (Seite 118)
Der Dichter Abraham Stern verwahrt sich in einem Brief an Elizabeth Costello dagegen, das Schlachten von Tieren mit dem Holocaust zu vergleichen. "Meine Botschaft ist, dass Sie sich schon lange verirrt haben, vielleicht schon vor fünfhundert Jahren. Die Handvoll Männer, von denen die Bewegung ausging, deren traurige Nachzügler Sie, so fürchte ich, sind – jene Männer wurden, zumindest anfangs, vom Vorhaben beseelt, das Wahre Wort zu finden, worunter sie damals das Wort des Erlösers verstanden, wie ich es auch heute tue." (Seite 157)
Obwohl Elizabeth Costello noch immer wegen ihres skandalösen Holocaust-Schlachthof-Vergleichs angegriffen wird und besser daran tun würde, vorerst nicht öffentlich aufzutreten, nimmt sie eine Einladung an, auf einer Konferenz in Amsterdam einen Vortrag über das Böse mit dem Titel "Zeugnis, Schweigen und Zensur" zu halten.
Insbesondere ist sie nicht mehr überzeugt, dass die Menschen durch das, was sie lesen, immer besser werden. Außerdem ist sie nicht überzeugt, dass Schriftsteller, die sich in die eher düsteren Gefilde der Seele vorwagen, stets unversehrt zurückkehren. Sie fragt sich allmählich, ob es einen Wert an sich darstellt, dass man schreiben kann, was man will, und lesen kann, was man will. (Seite 202) In ihrem Vortrag sagt sie: "Das ist heute meine These: Dass es nicht gut ist, bestimmte Dinge zu lesen oder zu schreiben. Anders formuliert: Ich nehme die Behauptung ernst, dass der Künstler viel riskiert, wenn er zu verbotenen Orten vordringt – dass er insbesondere sich selbst riskiert, vielleicht alles riskiert." (Seite 218) Schließlich steht sie mit ihrem Koffer "vor dem Tor". Natürlich hat sie Franz Kafkas Parabel gelesen und ahnt, dass dieses Tor nur für sie bestimmt ist. Der Pförtner fordert sie auf, ihre Aussage zu machen und reicht ihr ein Stück Papier, auf dem sie ihre Überzeugung formulieren soll. Sie schreibt: "Ich bin Schriftstellerin, ich handle mit Fiktionen. Ich lege mir Überzeugungen nur vorläufig zu: Feste Überzeugungen wären mir im Wege. Ich wechsle die Überzeugungen, wie ich meine Wohnung oder meine Kleidung wechsle, je nach Bedarf." (Seite 243) Nachdem der Pförtner den Text überflogen hat, wirft er das Blatt Papier weg und gibt ihr ein neues. Sie soll es noch einmal versuchen. In einer kafkaesken Gerichtsverhandlung sagt Elizabeth Costello:
"Ich bin Schriftstellerin, und ich schreibe, was ich höre. Ich bin eine Sekretärin des Unsichtbaren, eine von vielen Sekretären im Laufe der Jahrhunderte. Das ist mein Beruf: Texte nach Diktat zu schreiben. Es ist nicht an mir, Fragen zu stellen, zu beurteilen, was mir geliefert wird." (Seite 249) Vom Gericht gefragt, ob sie eine Ungläubige sei, antwortet sie:
"Nein. Unglauben ist ein Glauben. Eine Nicht-Gläubige, wenn sie die Unterscheidung akzeptieren, obwohl ich manchmal das Gefühl habe, dass Nicht-Glauben auch zum Credo wird." (Seite 251) |
Buchbesprechung:
Die Romanfigur "Elizabeth Costello" führte John M. Coetzee nicht erst in seinem gleichnamigen Roman ein, sondern bereits fünf Jahre früher, in den "Tanner Lectures" (1997/98) an der Princeton Universität,
Es folgt eine Szene im Restaurant, hauptsächlich Gespräche, die wir überspringen. (Seite 14) Zwischendurch reflektiert er darüber: Es ist nicht gut, wenn man den Erzählfluss zu oft unterbricht, weil das Geschichtenerzählen dadurch funktioniert, dass es den Leser oder Zuhörer in einen traumähnlichen Zustand versetzt, in dem Zeit und Raum der realen Welt verblassen und von Zeit und Raum der Fiktion abgelöst werden. Wenn man in den Traum einbricht, wird die Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit der Geschichte gelenkt und die Illusion von Wirklichkeit empfindlich gestört. Wenn wir aber nicht gewisse Szenen überspringen, sitzen wir den ganzen Nachmittag hier. Die Sprünge gehören nicht zum Text, sie gehören zur Darbietung. (Seite 25)
Auch das achte Lehrstück enthält ein ironisches Element: Elizabeth Costello ärgert sich über die "Kafka-Masche", der sie "vor dem Tor" ausgesetzt ist, etwa wenn sie ein Geständnis schreiben soll oder sich vor einem nicht recht greifbaren (Jüngsten) Gericht verantworten muss. "Kafka, auf eine Parodie reduziert und verflacht", schimpft sie (Seite 261).
"Retten Sie mich, lieber Herr, retten Sie meinen Mann! Schreiben Sie! Sagen Sie ihm, dass die Zeit noch nicht gekommen ist, die Zeit der Giganten, die Zeit der Engel. Sagen Sie ihm, dass wir uns noch in der Zeit der Flöhe befinden. Worte erreichen ihn nicht mehr, sie zerschellen und zersplittern [...] Aber Flöhe wird er verstehen [...] Unterschrieben ist der Brief mit "Elizabeth C." Das könnte auch Elizabeth Costello heißen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
J. M. Coetzee (kurze Biografie / Bibliografie) |