Jonathan Safran Foer: Alles ist erleuchtet (Roman) |
Jonathan Safran Foer: Alles ist erleuchtet |
Inhaltsangabe:Odessa 1997: Der zwanzigjährige Ukrainer Alexander ("Alex") Perchow prahlt mit seinen vielen Freundinnen, mit denen er in den Nachtklubs seiner Heimatstadt sehr viel Geld "verbreitet". Er behauptet, größer zu sein als alle Frauen – abgesehen von ein paar Lesben. Er liebt seinen sechs Jahre jüngeren Bruder Klein-Igor und spart Geld in einer Keksdose, um später mit ihm nach Amerika auszuwandern. Die Mutter arbeitet als Bedienung in einem Café. Mutter ist eine bescheidene Frau. Sehr, sehr beschejden. Sie schuftet in einem kleinen Café in einer Stunde Entfernung von unserem Haus. Sie gibt den Leuten Essen und Trinken, und sie sagt: "Ich steige für eine Stunde in den Autobus und arbeite den ganzenTag, indem ich Dinge tue, die ich hasse. Und willst du wissen, warum? Für dich, Alexi-nerv-mich-nicht! Eines Tages wirst du für mich Dinge tun, die du hasst. Das bedeutet es, eine Familie zu sein." Aber sie betrachtet nicht, dass ich schon jetzt Dinge für sie tue, die ich hasse. Ich höre ihr zu, wenn sie mit mir spricht. Ich weigere mich, über mein winziges Taschengeld zu klagen. Und habe ich erwähnt, dass ich sie nicht so viel nerve, wie ich es mir wünsche? Aber ich tue diese Dinge nicht, weil wir eine Familie sind. Ich tue sie, weil sie normaler Anstand sind. Das ist ein Ausdruck, den mir der Held beigebracht hat. Ich tue sie, weil ich kein Scheißarschloch bin. Das ist noch ein Ausdruck, den mir der Held beigebracht hat. (Seite 11)
Der Vater – der auch Alexander heißt – betreibt seit den Fünfzigerjahren das Reisebüro Heritage Touring in Odessa, das sich darauf spezialisiert hat, Reisen für jüdisch-amerikanische Individualtouristen zu organisieren, die in der Ukraine nach ihren Vorfahren und deren Heimatorten suchen.
Mit ihrem schrottreifen Auto holen Alex und sein Großvater den Amerikaner vom Bahnhof in Lwow ab. Jonathan Safran Foer erschrickt, als er Sammy Davis jr. jr. auf dem Rücksitz erblickt, denn er fürchtet sich vor Hunden. Aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich neben das Tier zu setzen. Reiseziel ist Trachimbrod,
Großvater ist zuerst Großvater und dann erst Fahrer. (Seite 86)
Als Jonathan darum bittet, die Klimaanlage anzustellen, bringt er die beiden Ukrainer in Verlegenheit, denn über so etwas verfügt ihr Auto nicht. Sie können auch kein Fenster herunterkurbeln, weil Sammy Davis jr. jr. dann hinausspringen würde.
"Nur eins", sagte der Held. "Was?" "Sie müssen wissen ..." "Ja?" "Ich bin ...Wie soll ich sagen ...?" "Was?" "Ich bin ..." "Sie sind sehr hungrig, nicht?" "Ich bin Vegetarier." "Ich verstehe nicht." "Ich esse kein Fleisch." "Warum nicht?" "Ich esse es eben nicht." "Wieso essen Sie kein Fleisch?" "Ich esse es eben nicht." "Er isst kein Fleisch", informierte ich Großvater. "Natürlich isst er Fleisch", sagte Großvater. "Natürlich essen Sie Fleisch", informierte ich den Helden. "Nein. Tu ich nicht." "Warum nicht?", erkundigte ich mich noch einmal. "Ich esse es eben nicht. Kein Fleisch." "Schweinefleisch?" "Nein." "Fleisch?" "Kein Fleisch." "Steak?" "Nein." "Huhn?" "Nein." "Essen Sie Kalb?" "Um Gottes Willen, nein. Absolut kein Kalbfleisch." "Was ist mit Wurst?" "Auch keine Wurst." Ich sagte es zu Großvater, und er schenkte mir einen sehr genervten Blick. "Was ist los mit ihm?", fragte er. "Was ist los mit Ihnen?", fragte ich den Helden. "So bin ich eben.", sagte er. "Hamburger?" "Nein." "Zunge?" "Was hat er gesagt, das mit ihm los ist?", fragte Großvater. "So ist er eben." "Isst er Wurst?" "Nein." "Keine Wurst!" "Nein. Er sagt, er isst keine Wurst." "Wirklich?" "Das sagt er." "Aber Wurst ist ..." "Ich weiß. Sie essen wirklich keine Wurst?" "Keine Wurst." "Keine Wurst", sagte ich zu Großvater. Er schloss die Augen [...] Am nächsten Morgen brechen der Großvater, Alex und Jonathan früh auf. Alex fragt überall nach Trachimbrod, aber von dem Ort scheint niemand etwas gehört zu haben – bis sie auf eine Greisin treffen, die behauptet: "Ich bin Trachimbrod." Ihre Haare waren [...] lang und weiß. Die Enden bewegten sich über den Boden und nahmen Staub und Schmutz mit. (Seite 211)
In dem abgeschiedenen alten Haus, das sie bewohnt, stapeln sich Schachteln, in denen sie Erinnerungen aufbewahrt. Alex meint, sie hätten Augustine gefunden, aber die Frau schüttelt den Kopf: Sie heißt nicht Augustine, sondern Lista, und kennt das Mädchen auf dem Foto nicht. An Jonathans Großvater Safran kann sie sich jedoch erinnern: Er war der Erste, den sie geküsst hatte. Und sie gehörte zu den Gästen seiner Hochzeit mit Zoscha. In einer der Schachteln findet sie sogar ein Foto von sich und Safran. Sie konnte nicht schneller gehen als langsam. (Seite 209)
Es dauert einige Zeit, dann gelangen sie zu einem Denkmal, auf dem steht, dass am 18. März 1942 an dieser Stelle 1204 Trachimbroder von den Deutschen getötet wurden. Und mehr gibt es tatsächlich nicht mehr von Trachimbrod.
Lieber Jonathan,
In seinen Briefen äußerst Alex sich besorgt über seinen "ungesunden" Großvater, und am 26. Januar 1998 teilt er Jonathan mit, sein Großvater habe sich vor vier Tagen in der Badewanne die Pulsadern geöffnet und sei verblutet.
Jankel!, rief sie, als sie die Tür öffnete. Jankel, ich bin wieder da [...]
Am nächsten Morgen fand man Sofiowka: Er baumelte mit abgeschnittenen Händen an der Brücke über den Brod. Sie liebten ihn, und er vögelte sie. (Seite 275)
Sieben Jahre lang, von 1934 bis 1941, war Safran mit einer jungen Zigeunerin zusammen. Dann wurde er siebzehn und musste ihr sagen, dass seine Eltern eine Heirat für ihn arrangiert hatten. Zoscha, die Tochter des reichen Menachem und dessen Ehefrau Tova, war zwei Jahre jünger als Safran. Sieben Wochen vor der Eheschließung, die am 18. Juni 1941 in Trachimbrod stattfand, hatte Safran zum letzten Mal mit der Zigeunerin geschlafen. An seinem Hochzeitstag schnitt sich das Mädchen die Pulsadern auf und nahm sich das Leben. Ein entferntes KABUMM! Näher kommend: KABUMM! KABUUUMM! [...] Zoscha schrie vor Angst, Angst vor der körperlichen Liebe, vor dem Krieg, vor der nicht-körperlichen Liebe, vor dem Sterben, während mein Großvater erfüllt war von einer gewaltigen koitalen Energie, und als die sich entlud – KA-BUUUUUUUUMM! KA-UUUUUUUUUUUUUUUUUUUUMM! KA-KA-KA-KA-KA-KA-BUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUMM! –, als er am Rand des zivilisierten Menschseins in den Abgrund, in den freien Fall unverfälschter animalischer Verzückung stürzte und in sieben endlosen Sekunden die mittlerweile über 2700 bedeutungslosen Liebesakte mehr als wettmachte, als er sich in einer unaufhaltsamen Flutwelle in Zoscha ergoss und ein Licht ins Universum sandte, das stark genug war, um die Deutschen, wäre es nicht gestreut und verschwendet, sondern gebündelt und genutzt worden, vernichtend zu schlagen, fragte er sich, ob eine der deutschen Bomben vielleicht das Ehebett getroffen, sich wie ein Keil zwischen den benenden Körper seiner frisch angetrauten Frau und seinen eigenen gezwängt und Trachimbrod ausgelöscht hatte. Doch als er auf den Felsen am Grund der Schlucht aufschlug, als die sieben Sekunden des Bombardements vorüber waren und er seinen Kopf auf das von Zoschas Tränen und seinem Samen feuchte Kissen sinken ließ, begriff er, dass er nicht tot, sondern verliebt war. (Seite 358f) Die Bomben schlugen allerdings nicht in Trachimbrod, sondern in Rowno ein. Es dauerte noch neun Monate, bis die Deutschen ins Schtetl kamen. Das geschah am 18. März 1942, als die Trachimbroder wieder ihr jährliches Fest feierten, an dem selbstverständlich auch Safran und Zoscha teilnahmen.
OH!, kicherte Zoscha laut, unfähig, ihre Stimme zu dämpfen. ES HAT MICH GERADE GETRETEN! In diesem Augenblick bombardierten die Deutschen das Schtetl. Der Traum vom Ende der Welt: bomben stürzten aus dem himmel und explodierten in trachimbrod in kaskaden aus licht und hitze [...] mein safran trug seine frau wie ein frisch verheirateter zum wasser wo es wegen der umstürzenden bäume und der knallenden krachenden explosionen am sichersten zu sein schien [...] mein safran verlor seine frau aus den augen [...] die lautlosen schreie wurden in blasen an meine oberfläche getragen wo sie zerplatzten BITTE BITTE BITTE BITTE das treten in zoschas bauch wurde stärker und stärker BITTE BITTE das baby wollte nicht sterben BITTE die bomben kamen herab gackernd und sengend herab und meinem safran gelang es sich von der masse der menschen zu lösen und sich stromabwärts über den kleinen wasserfall in ruhigeres wasser treiben zu lassen aber zoscha wurde hinabgezogen BITTE und das baby das nicht sterben wollte wurde hinauf- und aus ihrem körper herausgezogen und färbte das wasser rings um sie her rot und es war ein mädchen und wurde wie eine luftblase an meine oberfläche getragen zum licht zum sauerstoff zum leben zum leben WAAA WAAA WAAA WAAA schrie es und es war vollkommen gesund und hätte überlebt wenn die nabelschnur es nicht wieder unter wasser zu seiner mutter gezogen hätte [...] (Seite 378f) Wer bei dem Bombardement nicht getötet worden war, musste vor den Deutschen antreten. Ein Offizier zwang die Männer, auf die am Boden liegende Thora zu spucken, indem er ihren Frauen oder Kindern seine Pistole an den Kopf hielt oder in den Mund schob. Als die Reihe an Listas Vater war, weigerte er sich, obwohl die Deutschen vor seinen Augen zuerst seine Frau und dann seine vierjährige Tochter erschossen. Als Nächstes rissen sie seiner älteren Tochter das Kleid und die Unterwäsche herunter. Sie war hochschwanger, und ihr Mann, der auch in der Reihe stand, musste zusehen. Der Offizier drückte ihr den Lauf seiner Mündung in die Genitalien, und als ihr Vater sich noch immer weigerte, auf die Thora zu spucken, drückte er ab. Die junge Frau brach zusammen, und weil sie ihre Beine nicht mehr bewegen konnte, zog sie sich mit den Händen fort, wobei sie eine Blutspur hinterließ. Die Soldaten lachten und drohten dem Vater der schwer Verletzten nun, sie nicht zu erschießen, aber er beugte sich erst, als ihm selbst die Pistole an die Schläfe gehalten wurde. – Lista klopfte später an alle Türen, aber niemand öffnete ihr. Sie verkroch sich im Wald. Das Kind in ihrem Leib war tot, aber sie überlebte. Als sie zurückkam, waren die Deutschen bereits nach Kolki marschiert. Lista sammelte alles ein, was sie in Trachimbrod finden konnte und zog damit in das einzige unzerstörte Haus. |
Buchbesprechung:Als ich neunzehn war, fuhr ich für drei Tage in die Ukraine. Ich hatte ein Foto meines Großvaters mit einer Frau dabei, die laut unserer Familiengeschichte meinen Großvater vor den Nazis gerettet hat. Ich blieb drei Tage, am vierten fuhr ich nach Prag, wo ich zwei Monate lebte. Während dieses Sommers, in diesen zwei Monaten schrieb ich die erste Fassung des Buches. Und dann verbrachte ich die nächsten zwei Jahre damit, es in eine druckfertige Fassung zu bringen. (Jonathan Safran Foer)
Den Roman "Alles ist erleuchtet" hat Jonathan Safran Foer aus drei Teilen komponiert: Da ist zum einen der zwanzigjährige amerikanische Jude Jonathan Safran Foer, der sich auf eine Reise in die Vergangenheit begibt und danach einen surrealen Roman über das Leben in einem Schtetl und seine Familiengeschichte schreibt, dessen Stil an den magischen Realismus von Gabriel García Márquez erinnert.
[...] weil humorvoll die einzige wahrheitliche Art ist, eine traurige Geschichte zu erzählen (Seite 81) Während der schelmische Ukrainer Alex von einer schrägen, aberwitzigen Reise berichtet und dabei auch ungewollt durch seine rührenden Fehler im Gebrauch der amerikanischen Sprache für Vergnügen sorgt, entwickelt der amerikanische Schriftsteller Jonathan, der begriffen hat, dass nur noch erfundene Geschichten die Erinnerung an den Reichtum des jüdischen Lebens in Osteuropa bewahren können, seine fantastischen Vorstellungen über die teilweise recht skurrilen Menschen in einem Schtetl, das als Mikrokosmos für das Ganze steht. Der Roman geht sehr respektlos, spielerisch und experimentell mit dem Material um [...] Die provokanteste Idee war für mich die, dass eine liebvoll ausgedachte Vergangenheit ebenso wertvoll ist wie eine, an die man sich genau erinnert. (Liev Schreiber in einem Interview, "Süddeutsche Zeitung", 14. Dezember 2005) Jonathan Safran Foer (*1977), studierte in Princeton Philosophie und Literatur. "Alles ist erleuchtet", sein von Liev Schreiber ("Alles ist erleuchtet", 2005) verfilmter Debütroman, wurde ein Welterfolg. Unter dem Titel "Extrem laut und unglaublich nah" ("Extremely Loud and Incredibly Close") erschien 2005 der zweite Roman von Jonathan Safran Foer. Außerdem schrieb Jonathan Safran Foer inzwischen das Libretto für die Oper "Seven Attempted Escapes from Silence". |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Liev Schreiber: Alles ist erleuchtet |