Max Frisch: Stiller (Roman) |
Max Frisch: Stiller |
Inhaltsangabe:Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab's ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat, und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwatzen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich zu sein bis zur Grobheit, ich sage: da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin ...
So beginnt der Roman. Meine Zelle ... ist klein wie alles in diesem Land, sauber, sodass man kaum atmen kann vor Hygiene, und beklemmend gerade dadurch, dass alles recht, angemessen und genügend ist. Nicht weniger und nicht mehr! ... Sogar die Gitterstäbe werden hierzulande abgestaubt. Der Häftling, der versichert, nicht Stiller zu sein, beschwert sich bei seinem Verteidiger Dr. Bohnenblust über das Glockenläuten. "Ich habe mich bemüht", sagt mein amtlicher Verteidiger, "Ihre hoffentlich kurze Zeit in der Untersuchungshaft so angenehm wie möglich zu gestalten – Whisky ist nicht gestattet! – Sie haben die beste Zelle im ganzen Haus, glauben Sie mir, nicht die größte, aber die einzige mit Morgensonne; Sie haben diesen Blick in die alten Kastanien. Was das Geläute vom Münster betrifft - es ist sehr laut, ich gebe es zu; aber was erwarten Sie denn von mir! Ich kann doch das Münster nicht anderswohin stellen!"
Der Verteidiger nennt den Häftling unbeirrt "Stiller"; nur der gutmütige Wachbeamte Knobel spricht ihn mit dem Namen "White" an und hört sich gebannt an, was dieser ihm erzählt. White behauptet, seine Frau ermordet zu haben, dann einen Direktor namens Schmitz im Dschungel auf Jamaika und schließlich den eifersüchtigen Mann einer Mulattin, die seine Geliebte war. Wir leben in einem Zeitalter der Reproduktion. Das allermeiste in unserem persönlichen Weltbild haben wir nie mit eigenen Augen erfahren, genauer: wohl mit eigenen Augen, doch nicht an Ort und Stelle; wir sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser.
Bohnenblust holt Auskünfte ein und findet heraus, dass auf der angegebenen mexikanischen Hazienda nie ein Schweizer Staatsbürger beschäftigt war. "Bitte", sagt White, "da haben Sie es ja!" Er kann also nicht der gesuchte Stiller sein!
"Herr Doktor", sage ich, "ich habe nichts gegen den Besuch von Damen, ich wiederhole nur meine Warnung von neulich: ich bin ein sinnlicher Mensch, hemmungslos, wie gesagt, vor allem in dieser Jahreszeit." Er findet Julika Stiller-Tschudy sehr attraktiv. Ihre fixe Idee, dass ich ihr verschollener Mann sei, ist durchaus nicht gespielt. Er bleibt aber dabei, nicht Stiller zu sein, und sie stöhnt über seine "Hirngespinste": Sie dreht den Spieß einfach um – tut, als läge die fixe Idee bei mir.
Ein paar Tage später erscheint der Verteidiger triumphierend mit einem Familienalbum, das er von Stillers Bruder Wilfried erhalten hat, und der Angeklagte muss zugeben, dass zwischen ihm und diesem Stiller eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Schon schwirren die Motorroller links und rechts an uns vorbei, ein Taxi hupt mich an, dann überdröhnt uns ein Lastwagen mit Anhänger, und Julika ist bleich wie Kreide, obzwar wir nun wieder das grüne Licht haben. Ein fremder Fußgänger, dem ich nichts getan habe, beschimpft mich mit Ausdrücken moralischer Entrüstung, als wäre es in einem Land, das sich täglich seiner Freiheiten rühmt, nicht statthaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.
In Schreibheften, die man dem Häftling zur Verfügung stellt, soll er Auskunft über seinen Lebensweg geben. Er folgt der Aufforderung, argwöhnt jedoch, der Verteidiger hoffe, mit den Heften "sozusagen mein Leben in seine Aktenmappe stecken" zu können. Zum Zeitvertreib beginnt er seine Aufzeichnungen damit, sich aufgrund von Julikas Erzählungen ihr Leben mit Stiller vorzustellen. Wie ein Meertier, das nur unter Wasser zu seinem Farbwunder gelangt, hatte auch Julika ihre geisterhafte Schönheit nur im Tanz, vor allem im Tanz; nachher war sie müde. Julika und Stiller heirateten nach einem Jahr. Sie brauchten einander von ihrer Angst her. Ob zu Recht oder Unrecht, jedenfalls hatte die schöne Julika eine heimliche Angst, keine Frau zu sein. Und auch Stiller, scheint es, stand damals unter einer steten Angst, in irgendeinem Sinn nicht zu genügen ...
Weil Stiller nur hin und wieder etwas von seinen Kunstwerken verkaufte, lebten sie im Wesentlichen von Julikas Gage. In dieser finanziellen Lage kamen Kinder für sie nicht in Frage. Stiller kümmerte sich rührend um seine Frau: Wenn während einer Ballettprobe das Wetter umschlug, wartete er am Bühnenausgang mit Schal, Mantel und Schirm auf sie. Aber er kam sich in ihrer Gegenwart immer vor "wie ein öliger, verschwitzter, stinkiger Fischer mit einer kristallenen Wasserfee".
"Eine gewöhnliche Geliebte zu haben, verstehst du, so ein gesundes und durchschnittliches Mädchen, das umarmt sein will und selber umarmen kann, nein, davor hatte ich Angst. Überhaupt war ich ja voll Angst! Ich machte dich zu meiner Bewährungsprobe. Und darum konnte ich dich auch nicht verlassen. Dich zum Blühen zu bringen, eine Aufgabe, die niemand sonst übernommen hatte, das war mein schlichter Wahnsinn. Dich zum Blühen zu bringen! Dafür machte ich mich verantwortlich – und dich machte ich krank, versteht sich, denn wozu solltest du gesund werden mit einem solchen Mann; die Angst, dass du an meiner Seite umglücklich würdest, fesselte mich ja stärker als irgendeine Art von Glück, die du zu geben hast." ...
Stiller ließ seine Frau im Sanatorium zurück und verschwand. "Wahrscheinlich hat es den Mann, den sie sucht, gar nicht gegeben", räsoniert der Häftling. Seine Mutter war ordentlich streng, scheint es, meine ja gar nicht. ... Es ist komisch, wie verschieden Mütter sein können! Bei einem Lokaltermin in Stillers Atelier sind außer dem Angeklagten dessen Verteidiger, der Staatsanwalt, der Wachbeamte Knobel und Julika zugegen. Plötzlich wird Stillers seniler Stiefvater hereingeführt, den man für die Gegenüberstellung eigens aus dem Altersheim holte. Ich rechne es Julika hoch an, dass sie in dem Augenblick, als man das Greislein aus dem Altersasyl hereinführt, wenigstens errötet wie eine Gattin, wenn die bestellten Irrenwärter mit der Zwangsjacke in die Wohnung kommen.
Stiller fällt kurz aus der Rolle: "Ich weine, als ich ihn erkenne." Dann aber leugnet er, den alten Mann zu kennen und fängt an, die Einrichtung des Ateliers zu zerschlagen und die Bronzebüsten aus dem Fenster zu werfen; sie poltern auf das Wellblechdach der Werkstatt darunter. "Diese Frau hat dich nie zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Nur du hast so etwas aus ihr gemacht, glaube ich, von allem Anfang an. Du als ihr Erlöser, ich sagte es schon, du wolltest es sein, der ihr das Leben gibt und die Freude. Du! In diesem Sinn hast du sie geliebt, gewiss, bis zum eignen Verbluten. Sie als dein Geschöpf."
Julika starb am nächsten Tag. |
Buchbesprechung:Unstimmigkeit unserer Existenz durch irgendeine Art von Selbstüberforderung, die zur Selbstentfremdung führt und schließlich zur Sterilität, weil es uns nicht gelingt, uns selbst anzunehmen ..."
So fasst Max Frisch selbst das Thema seines Romans "Stiller" zusammen. Dass die Selbstannahme mit dem Alter von selber komme, ist nicht wahr. ... Es braucht die höchste Lebenskraft, um sich selbst anzunehmen ... Solange ich die Umwelt überzeugen will, dass ich niemand anders als ich selbst bin, habe ich notwendigerweise Angst vor Missdeutung, bleibe ihr Gefangener kraft dieser Angst ... Die Selbsterkenntnis, die einen Menschen langsam oder jählings seinem bisherigen Leben entfremdet, ist ja bloß der erste, unerlässliche, doch keineswegs genügende Schritt. ... Nichts ist schwerer, als sich selbst anzunehmen! Eigentlich gelingt es ja nur den naiven Menschen ... Stiller versucht vergeblich, unter dem bezeichnenden Namen White (unbeschriebenes Blatt) ein neues Leben anzufangen. Er schreibt: Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, dass ich mich wandle ... Für das, was jemand auf einer unerwarteten Wellenlänge aussendet, haben seine Gesprächspartner zumeist keine Antenne, oder sie stellen sie nicht ein; jedenfalls kommt es zu keinem störungsfreien Empfang. Freundschaft, klagt Stiller, sei "eine Mechanik in den menschlichen Beziehungen", die alles Lebendige und Gegenwärtige ausschließe: Es funktioniert alles wie ein Automat: oben fällt der Name hinein, der vermeintliche, und unten kommt schon die dazugehörige Umgangsart heraus, fix und fertig, ready for use, das Klischee einer menschlichen Beziehung ...
In "Stiller" taucht bereits das Problem auf, das Max Frisch später in "Andorra" wieder aufnimmt: Die Gesellschaft erwartet, dass der Einzelne so ist, wie die anderen ihn sehen. In "Andorra" ist dieses Bild objektiv falsch, in "Stiller" ist es objektiv richtig, obwohl der Betroffene diese Identität nicht akzeptiert.
Stiller blickte sie an wie ein Hund, der die menschliche Sprache nicht versteht, und es fehlte wenig, dass Sibylle ihn gestreichelt hätte wie einen Hund.
Obwohl die Ehe von Anatol und Julika Stiller tragisch endet und es Max Frisch um ernste Themen geht, ist die Lektüre des Romans aufgrund der Fabulierlaune des Autors und seiner hintergründig witzigen Erzählweise auch ein außergewöhnliches Vergnügen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Max Frisch (Kurzbiografie) |