Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf (Roman) |
Gaito Gasdanow:
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Inhaltsangabe:Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe. Mit diesem Satz beginnt Gaito Gasdanow seinen Roman "Das Phantom des Alexander Wolf". Der Ich-Erzähler, ein 31-jähriger unverheirateter Exilrusse, dessen Namen wir nicht erfahren, lebt 1936 in Paris. 15 Jahre zuvor verlor er im Bürgerkrieg im Süden Russlands den Anschluss an seine Kameraden und blieb allein zurück. Während der Weißgardist übermüdet weiterritt, brach die dunkle Stute plötzlich unter ihm zusammen, und er stürzte, kam aber rasch wieder auf die Beine. Ein feindlicher Reiter auf einem weißen Hengst sprengte ihm entgegen und legte mit dem Gewehr auf den 16-Jährigen an. Der kam ihm mit seiner Pistole zuvor. Nachdem der Schuss den Angreifer vom Pferd geworfen hatte, ging der Erzähler 50 oder 60 Meter weit zu ihm. Es war ein Mann von vielleicht zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren; seine Mütze war fortgeflogen, sein blonder Kopf lag zur Seite geneigt, auf dem staubigen Weg. Er war ein recht gut aussehender Mann. Ich beugte mich über ihn und sah, dass er im Sterben lag; zwischen seinen Lippen sprudelten rosa Schaumblasen und platzten. Er öffnete seine trüben Augen, sagte nichts und schloss sie wieder. Ich stand über ihn gebeugt und schaute ihm ins Gesicht [...]
Als er Pferdegetrappel hörte, floh er auf dem weißen Pferd des Anderen, einem edlen Tier, das er später zu einem guten Preis verkaufen konnte. Mir schien, als könnte es keinen größeren Kontrast geben wie den zwischen meinem Seelenleben und meinem Aussehen, und manchmal schien mir, als steckte ich in jemandes fremder und beinahe verhasster Hülle.
Einerseits hat er eine Vorliebe für Kunst und Kultur, andererseits fasziniert ihn der Sport und er gibt sich mit Frauen ab, die nur seine animalischen Triebe befriedigen.
In meinem gesamten seelischen Erfahrungsschatz fand ich nichts, was an meinen jetzigen Zustand erinnert hätte. Erst nach verhältnismäßig langer Zeit erzählt ihm Jelena, dass sie vor zwei Jahren in London eine Affäre mit einem Mann begonnen habe, dem sie bei einer Abendgesellschaft begegnet war. Es handelte sich um einen Freund des Gastgebers und Liebhaber von dessen Frau, die 20 Jahre jünger als ihr Ehemann war. Als der Geliebte diese Dame wegen Jelena verließ, vergiftete sie sich und hinterließ ihrem Mann einen Abschiedsbrief, in dem sie alles gestand. Jelena fand bald heraus, dass ihr Liebhaber morphiumsüchtig war. Sie versuchte, ihn davon abzubringen, aber es gelang ihr nicht. Seit er einmal beinahe totgeschossen worden war, berührte ihn nichts mehr wirklich; er war zum Zyniker geworden. Über jedem Menschen, über jedem Leben schwebt ständig die Gefahr des Todes in all ihrer unendlichen Vielgestaltigkeit: Katastrophen, ein Zugunglück, Erdbeben, Sturm, Krieg, Krankheit, ein Unfall – all das sind Erscheinungsformen einer blinden und erbarmungslosen Gewalt [...] Und da erhält einer von uns [...] auf einmal die Möglichkeit, für kurze Zeit stärker zu werden als Schicksal und Zufall, Erdbeben und Sturm, und genau zu wissen, er würde in einem bestimmten Moment jene komplizierte und langwierige Evolution von Gefühlen, Gedanken und Existenzen aufhalten, jene Bewegung eines vielgestaltigen Lebens, die ihn hätte zertreten müssen in ihrem unaufhaltsamen Vorwärtslauf. Liebe, Hass, Angst, Bedauern, Reue, freier Wille, Leidenschaft – jedes Gefühl und jeder Gefühlskomplex, jedes Gesetz und jeder Gesetzeskomplex, alles ist ohnmächtig vor diesem kurzen Machtmoment des Tötens. Mir gehört diese Macht, ich kann auch ihr Opfer werden, und wenn ich ihre Anziehungskraft empfunden habe, wird mir alles, was sich außerhalb dieser Vorstellung befindet, als phantomhaft, unwesentlich und unbedeutend erscheinen, und schon kann ich nicht mehr das Interesse an den zahllosen unwichtigen Dingen teilen, die für Millionen Menschen den Sinn des Lebens bilden.
Er erzählte Jelena von einem Juden aus Polen, der tapfer im Krieg gekämpft hatte, verwundet wurde und in Gefangenschaft geriet, aber dann in England seinen Traum verwirklichte und das Schneiderhandwerk erlernte. Zehn Tage nachdem er seinen ersten Auftrag bekommen hatte, starb er an Lungenentzündung. Zum Schah kam einmal sein Gärtner, in höchster Aufregung, und sagte zu ihm: Gib mir dein schnellstes Pferd, ich möchte so weit wie möglich fortreiten, nach Isfahan. Gerade als ich im Garten arbeitete, habe ich meinen Tod gesehen. Der Schah gab ihm das Pferd, und der Gärtner sprengte nach Isfahan. Der Schah ging in den Garten; dort stand der Tod. Er sagte zum Tod: Weshalb hast du meinen Gärtner so erschreckt, weshalb bist du ihm erschienen? Der Tod erwiderte dem Schah: ich habe das nicht gewollt. Ich war erstaunt, deinen Gärtner hier zu sehen. In meinem Buch steht geschrieben, ich würde ihn heute Nacht weit von hier begegnen, in Isfahan.
Als der Liebhaber Jelena erklärte, er werde sie niemals wieder loslassen, packte sie hastig ihre Sachen und reiste nach Paris, ohne eine Adresse zu hinterlassen. |
Buchbesprechung:
Der namenlose Ich-Erzähler und Alexander Wolf irren sich: Seit sie einander vor 15 Jahre begegneten, haben sie sich gegenseitig für tot gehalten, aber sie leben beide noch und sehen sich zufällig wieder. Am Ende schießt einer von ihnen erneut auf den anderen. Der Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" dreht sich um die Liebe, vor allem aber um den Tod, die Unausweichlichkeit des Schicksals, die Sinnlosigkeit des Daseins und um Begegnungen, die ein Leben für immer verändern. Außerdem beschäftigt sich Gaito Gasdanow in "Das Phantom des Alexander Wolf" mit dem Gegensatz zwischen Natur und Kultur, geistigen Anlagen und animalischen Trieben. Es ist ein kunstvolles Spiegelkabinett, das Gasdanow da geschaffen hat. Jede Szene und jede Figurenkonstellation findet ein Pendant, das die vorherige in neuem Licht erscheinen lässt. Wie auch in anderen Werken Gasdanows, hält der Gedanke des Todes alles in seinem Bann. [...] Über Gasdanows Roman gebeugt, konnte die Übersetzerin gar nicht anders, als stets erneut seine meisterhafte Komposition zu bewundern. Schon den Zeitgenossen fiel von Anfang an Gasdanows ungewöhnliche Stilistik auf. Der Magie seiner meditativen, weit schwingenden Satzbögen im Phantom des Alexander Wolf kann man sich kaum entziehen. Aber als wollte der Autor allzu viel Schönheit vermeiden oder allzu viel Seelenentblößung verhindern, wird der Leser durch spröde, frostig bürokratische Einsprengsel immer wieder dem Sog der Syntax entrissen. Selbst die Sprache ist geprägt von der Disharmonie dieser Welt. (Rosemarie Tietze im Nachwort zu "Das Phantom des Alexander Wolf") Leider wurde "Das Phantom des Alexander Wolf" nicht sorgfältig lektoriert. Hier einige Beispiele:
Ich blieb unbeweglich stehen, wo ich stand, neben dem Leichnam meines Pferdes, zwei oder drei Minuten. Noch genauso wollte ich schlafen, ich empfand weiterhin die gleiche zermürbende Müdigkeit. (S. 10 – Bei einem toten Tier spricht man von Kadaver oder Leiche, aber nicht von einem Leichnam, und der zweite Satz ist verkorkst.) Den Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" von Gaito Gasdanow gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sebastian Blomberg, Helmut Krauss und Gerd Wameling (Bearbeitung: Klaus Schmitz, München 2014, 80 Minuten, ISBN 978-3-8445-1170-3). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Gaito Gasdanow (kurze Biografie) |