Arno Geiger: Es geht uns gut (Roman) |
Arno Geiger: Es geht uns gut |
Inhaltsangabe:
1929 lernen sich der neunundzwanzigjährige Verwaltungsjurist Richard Sterk und die sieben Jahre jüngere Studentin Alma Arthofer in Wien kennen. Sie werden ein Paar, heiraten, und Alma bricht ihr Studium ab. 1931 bringt sie den Sohn Otto zur Welt, fünf Jahre später die Tochter Ingrid. Richard hält es für selbstverständlich, dass seine Frau sich unterordnet und ansonsten den Haushalt führt und die Kinder umsorgt. Zu spät wird Alma begreifen, dass sie nicht von Anfang alles hätte erdulden sollen.
Jetzt dreht sich der T 34 quer zur Straße und wühlt sich mühsam, eine ächzend verendende Stahlkröte, über das holprige Kopfsteinpflaster zu einem Haustor auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Haustor ist mit LSR, Luftschutzraum, beschriftet [...] Dann stirbt der Motor ab. Drei- oder viermal kracht der Anlasser, schwarzer Dieselqualm spuckt bis in die Mitte der Straße und verzieht sich nur langsam. Treibstoff fließt unter dem Heck hervor. Der Fähnleinführer wirft eine Handgranate, es kracht und staubt, dann brennt das Heck des Panzers [...] Peter wird von einem Schuss in den rechten Arm getroffen. Dem Fähnleinführer wird er halbe Kopf weggerissen. Ein Vierzehnjähriger lehnt an einer zerschossenen Mauer. Peter ist überrascht, wie der Bub dasteht: Das Bauchfell scheint aufgerissen, zwischen den Fetzen der blutigen Uniform kann man die ebenfalls blutigen Eingeweide sehen, die der Bub mit den Händen am weiteren Austreten hindert [...] Nach einiger Zeit unternimmt der Bub den Versuch, auf Peter zuzugehen [...] Aber die Kraft reicht nicht. Weiterhin das linke Auge auf Peter gerichtet, sinkt der Bub plötzlich weg in einer unglaublich weichen Bewegung, wie ein fallendes Stoffband. Die Knie berühren den Boden, rutschen nach hinten, das Gesicht schlägt widerstandslos auf das Straßenpflaster, die Schulterblätter brechen seltsam ein. Der Bub zuckt noch einmal [...], dann liegt er ganz ruhig [...] (Seite 114f)
Mit einem anderen Hitlerjungen zusammen schlägt Peter sich nach Kahlenbergerdorf durch, wo sein Onkel Johann, ein Bruder seines Vaters, mit seiner Frau Susanne und der sechsjährigen Tochter Trude wohnt. Peter hofft, dort bleiben zu können, aber die Verwandten wollen keine verwundeten Hitlerjungen bei sich haben, wenn die Rotarmisten kommen und schicken sie deshalb weiter. Auf dem stromaufwärts fahrenden rumänischen Frachter "Alba Julia" verlassen Peter und sein Kamerad Wien. Beim ersten Mal hätte sie auch nicht gedacht, dass Peter unvorsichtig war, und dann war er's doch, und die Folgen wären längst sichtbar, wenn nicht, ja, wenn nicht, da hatte sie Glück oder Pech (das kommt auf die Ansprüche an), denn die Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt. Das war schrecklich. Sie hat den Vorfall noch immer nicht ganz verdaut, obwohl seither ein halbes Jahr vergangen ist. Dieses embryonale Würmchen in der Klomuschel liegen zu sehen und es hinunterspülen zu müssen, weil ihr Vater gegen die Tür klopfte, wie lange sie noch gedenke, das Bad zu blockieren. (Seite 135f) Peter schiebt sein Auto in das Lager seiner Firma "Fröhliches Wohnzimmer" und richtet es als Liebesnest her, bevor sie sich ausziehen.
Wenn es nach ihr ginge, würde sie zuerst noch eine Weile schmusen und sich umarmen lassen. Aber Peter löst sich von ihr und gibt ihr zu verstehen, dass sie sich auf den Rücken legen soll. mal wieder nicht grad die Zärtlichkeit in Person. Doch weil Peter an diesem Tag schon genug Kritik hat einstecken müssen, fügt Ingrid sich in seine Anweisungen und lässt ihn in sich eindringen. Nicht so ungestüm, würde sie gerne sagen [...] Aber sie waren mehrere Tage getrennt, da hat es ihn meistens, da kann er nicht mehr warten [...] Und der Morris schaukelt, Ingrid kann die Federung hören, das Ding knarrt und scheppert wie ein alter Kinderwagen, wie beim Dosenschießen. Wenn bloß nicht wieder ein Stoppel aus der Luftmatratze fliegt [...] Sie spreizt die Beine so weit sie kann, streckt die Füße in die Höhe und ermahnt sich dabei aufzupassen, dass sie sich an den von Eisentraversen zusammengehaltenen Holzrippen der Seitenverkleidung nicht wieder einen Span einzieht. Ja, das ist Liebe, Gottes höchst eigener Wille. Ihr entschlüpfen mehrere gepresste Stöhnlaute, und als ihr einfällt, dass sie nicht im elterlichen Garten liegt, sondern im Magazin, werden die Stöhnlaute zu kleinen Schreien, die aber rasch ausklingen, als Peter kommt.
Ingrid lässt sich nicht davon abbringen, Peter 1958 zu heiraten und überwirft sich deshalb mit ihrem Vater. Ende 1960, als sie wieder schwanger ist, verkauft Peter die Lizenzen für seine Spiele und fängt beim Kuratorium für Verkehrssicherheit zu arbeiten an, während Ingrid weiter Medizin studiert. Richard lenkt schließlich ein und kauft ihnen im Sommer 1962 ein Haus. Vier Wochen nach dem Einzug kommt Ingrid mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter Sissi zu den Eltern, um Möbel abzuholen.
[...] weil die Jungen sich einbilden, sie seien John F. Kennedy. Diese Armleuchter. Es wäre zum Kranklachen, wenn einem nicht gleichzeitig das kalte Kotzen käme. Alles, was recht ist. Von politischem Charme und der Höhe der Zeit faseln, aber nicht wahrhaben wollen, dass die wichtigsten Grundlagen im Leben Verantwortungsgefühl, Sorgfalt und Respekt sind. Dr. Klaus? Das soll der kommende Mann sein? Sieht der so aus? [...] Es sind schon bittere Pillen, zu sehen, wie man den Sozialisten die Wähler in die Hände treibt. Diese unfassliche Dummheit. Hohlköpfe samt und sonders. (Seite 198) An Silvester 1970 denkt Ingrid, die inzwischen als Ärztin in einem Krankenhaus tätig ist und außer der neunjährigen Tochter einen fünfjährigen Sohn hat, über ihre Ehe nach.
Die Probleme begannen in den Jahren des zweiten Studienabschnitts, als Ingrid bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs schuftete und von Peter keine Unterstützung bekam. (Seite 259)
Nach einem Venedig-Urlaub mit ihrer Familie im Sommer 1974 nutzt Ingrid den letzten Sonntag vor ihrem Dienstantritt dazu, mit den Kindern zu einer jüngeren Kollegin zu fahren, deren Ehemann ein Motorboot besitzt. Zusammen machen sie einen Ausflug. Vergnügt springt Ingrid vom Boot aus ins Wasser – und kommt nicht mehr an die Oberfläche. Vergeblich taucht der Mann der Kollegin nach ihr. Die Kollegin feuert Leuchtmunition ab. Sissi schreit nach ihrer Mutter, während ihr Bruder Philipp glaubt, die Mutter wolle ihnen nur einen Schreck einjagen und werde gleich wieder auftauchen. Ingrid ist jedoch tot. Sie ertrank, weil sie sich mit einem Armband in einem halb in den Kiesgrund eingeschwemmten Fahrrad verhakte und es ihr nicht gelang, wieder freizukommen.
– Sie wollen damit sagen, der Herr Doktor ist deppert.
Im Sommer 1986 befolgt Alma den Rat Dr. Wenzels und bringt ihren Mann in ein Pflegeheim. Gut drei Jahre später, am 9. Oktober 1989, sitzt sie an seinem Krankenbett. Vier Tage zuvor fand man Hofrat Dr. Sindelka, den Zimmernachbarn, in seinem Bett vor, und Richard lag mit gebrochenem Oberschenkel auf dem Fußboden. Offenbar hatte sich Dr. Sindelka in der Tür geirrt und Dr. Sterk mit einem Kleiderbügel aus dem Bett geprügelt. Wegen einer Anämie benötigt Richard Blutinfusionen, bevor er operiert werden kann. Einige Zeit später stirbt er. Schon bei seiner Ankunft am Samstag war ihm aufgefallen, dass am Fenster unter dem westseitigen Giebel der Glaseinsatz fehlt. Dort fliegen regelmäßig Tauben aus und ein. Nach einigem Zögern warf er sich mit der Schulter gegen die Dachbodentür, sie gab unter den Stößen jedesmal ein paar Zentimeter nach. Gleichzeitig wurde das Flattern und Fiepen dahinter lauter. Nach einem kurzen und grellen Aufkreischen der Angel, das im Dachboden ein wildes Gestöber auslöste, stand die Tür so weit offen, dass Philipp den Kopf ein Stück durch den Spalt stecken konnte. Obwohl das Licht nicht das allerbeste war, erfasste er mit dem ersten Blick die ganze Spannweite des Horrors. Dutzende Tauben, die sich hier eingenistet und alles knöchel- und knietief mit Dreck überzogen hatten, Schicht auf Schicht wie Zins und Zinseszins, Kot, Knochen, Maden, Mäuse, Parasiten, Krankheitserreger (Tbc? Salmonellen?). Er zog den Kopf sofort wieder zurück, die Tür krachend hinterher, sich mehrmals vergewissernd, dass die Verriegelung fest eingeklinkt war. (Seite 7)
Unentschlossen setzt Philipp sich auf die Vortreppe und bemüht sich erfolglos, die Erinnerungen an die Familiengeschichte fernzuhalten.
– Ich beschäftige mich mit meiner Familie in genau dem Maß, wie ich finde, dass es für mich bekömmlich ist. Seit zehn Jahren sind Philipp und Johanna liiert, aber die Meteorologin, die im Fernsehen Wetterprognosen erläutert, ist verheiratet und hat eine Tochter. Er ahnt schon, dass Johanna wieder am Boden der Wirklichkeit angelangt ist mitsamt der Erkenntnis, dass er, Philipp Erlach, nicht der Mann ist, der Johanna Haug aus ihrer kaputten Ehe reißt. (Seite 98)
Sie schlafen miteinander. Mitten in der Nacht klingelt Johannas Handy. Ihr Mann Franz fragt, wo sie sei, und sie lügt, sie habe sich übergeben müssen, leide unter heftigem Durchfall und übernachte deshalb bei einer Freundin.
Und Philipp hinterher. Einfach drauflos. Aus so vielen Gründen, von denen einer den andern so unklar macht, dass Philipp am Ende nicht weiß weshalb. Er arbeitet sich von Schneehaken zu Schneehaken, er will bis ganz hinauf, soviel steht fest, er will bis hinauf zum Giebel und und – – die unter ihm wankende Stadt gründlich auspfeifen! |
Buchbesprechung:
Unter dem sarkastischen Titel "Es geht uns gut" erzählt Arno Geiger von drei Generationen einer Wiener Familie und veranschaulicht dabei zugleich politische und gesellschaftliche Wandlungen. Die einundzwanzig Kapitel des Romans sind mit Wochentagen und Daten überschrieben, von "Samstag, 6. August 1938" bis "Mittwoch, 20. Juni 2001". Arno Geiger hat sie jedoch nicht chronologisch angeordnet, sondern springt zwischen den Zeitebenen hin und her. Zwischendurch erzählt er immer wieder von den Entrümpelungsarbeiten, die Philipp Erlach von April bis Juni 2001 in der Villa der verstorbenen Großmutter Alma Sterk durchführen lässt. Mehr als einmal sehen wir ihn auf der Vortreppe sitzen. Diese in der Gegenwart spielenden Szenen mit Philipp Erlach als Protagonisten bilden in "Es geht uns gut" einen Rahmen für die eigentliche Familiengeschichte. Arno Geiger: Bibliografie (Auswahl)
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2009
Arno Geiger: Irrlichterloh |