Günter Grass: Das Treffen in Telgte (Erzählung) |
Günter Grass: Das Treffen in Telgte |
Inhaltsangabe:Im Sommer 1647, ein Jahr vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, lädt der Dichter Simon Dach aus Königsberg mehr als zwanzig deutsche Poeten und Schriftsteller zu einem Literaturtreffen nach Oesede bei Osnabrück.
Lauremberg und Geflinger kamen von Jütland hoch, von Regensburg runter zu Fuß, die anderen beritten oder in Planwagen. Wie einige flussab segelten, nahm der alte Weckherlin von London nach Bremen den Schiffsweg. Sie reisten von nah und fern, aus allen Gegenden an. Ein Kaufmann, dem Frist und Datum geläufig wie Gewinn und Verlust sind, hätte erstaunen können über den pünktlichen Eifer der Männer des bloßen Wortgeschehens, zumal die Städte und Ländereien noch immer oder schon wieder verwüstet, mit Nesseln und Disteln verkrautet, von Pestilenz zersiedelt und alle Wege unsicher waren. Weil sich in dem von Simon Dach als Tagungsort vorgesehenen Gasthof "Zum Rappenhof" in Oesede inzwischen der Stab des schwedischen Kriegsrates Erskein einquartiert hat, droht die Versammlung schon vor dem Beginn zu platzen. Verzagt wollen einige der Angereisten sich auf den Rückweg machen. Doch "ein rotbärtiger Kerl, der sich Christoffel Gelnhausen nannte" und mit Georg Philipp Harsdörffer, dessen Verleger Wolfgang Endter und Sigmund von Birken aus Nürnberg kam, weiß Rat. Mit der von ihm geführten Einheit kaiserlicher Reiter und Musketiere requiriert er kurzerhand vier Gespanne und bringt die Poeten nach Telgte östlich von Münster. Offenbar kennt er Libuschka, die angejahrte Wirtin des Brückenhofes – er nennt sie Courage –, aber auch dieses Gasthaus ist belegt, wenn auch nicht mit Soldaten, sondern mit Kaufleuten. Bevor Dach protestieren kann, vertreibt Gelnhausen die Gäste.
Daraufhin machte Gelnhausen mit seinen Kaiserlichen vor dem Stall, vor dem Brückenhof, in dessen Diele, die Stiegen hoch und vor allen Kammern dergestalt Lärm, dass sich die angeketteten Hofhunde schier erwürgten, und gab nicht Ruhe, bis alle Gäste mit ihren Fuhrknechten aus dem Schlaf gerissen waren. Kaum hatten sich die Herren – es waren hansische Kaufleute, die von Lemgo her weiter nach Bremen wollten – vor dem Wirtshaus versammelt, befahl ihnen Gelnhausen, den Brückenhof zu räumen. Er förderte seinen Befehl mit dem Hinweis: Wer sein Leben liebe, der halte Distanz. Es seien unter den matten, wie man ja sehe, hinfälligen Gestalten auf und vor den Fuhrwerken etliche von der Beulenpest befallene Leichenstrohkandidaten. Er geleite mit seinem Kommando ein Malheur, das, um die Friedensverhandlungen nicht zu stören, beiseite geschafft werden müsse, weshalb er, als Leib-Medicus des päpstlichen Nuntius Chigi, nicht nur kaiserliche, sondern obendrein schwedische Order habe, den morbiden Haufen in Quarantäne zu bringen. Und zwar sofort und ohne Widerrede, sonst zwinge man ihn, die Fuhrwerke der Kaufleute samt Stapelware am Emsufer zu verbrennen. Die Pest – das wisse jeder und das sage er als Arzt, der mit allen Weisheiten Saturns geschlagen sei – schone den Reichtum nicht, raffe vielmehr mit Vorbedacht Kostbarkeiten und bedenke Herren in Brabanter Tuch besonders gerne mit ihrem Fieberatem. Nach der Begrüßungsrede Dachs diskutieren die Dichter über die Sprache, darüber, was sie zerstört habe und woran sie gesunden könne. Einige der Anwesenden verdammen Mundarten in der Literatur und plädieren dafür, nur hochdeutsch zu schreiben. Einzig das Hochdeutsche sollte zum immer feineren Instrument verbessert werden, damit es – was mit Schwert und Spieß nicht gelungen sei – das Vaterland leerfege von fremder Herrschaft. (Seite 40)
Andreas Gryphius verkündet den Tod der Literatur und preist die Ordnung schaffende Vernunft. Was die Wirtin von ihren Mägden auftragen ließ, war so mager nicht: in tiefen Kummen dampfender Hirsebrei mit ausgelassenem Schweineflom und Speckspirkeln übergossen. Dazu gab es Brühwürste und grobes Brot. Außerdem hatte ihr Garten, der hinterm Haus, von Wildnis umzäunt, geschützt lag (und den die fouragierenden Kroaten übersehen haben mochten), Zwiebeln, Mohrrüben und Rettich hergegeben, was alles roh auf den Tisch kam und zum Braunbier schmeckte. (Seite 42)
Als Gelnhausen am Abend mit der Wirtin in Streit gerät und sie sich von ihm beleidigt fühlt, springt sie auf den Tisch, hebt alle ihre Röcke, lässt die Pluderhosen fallen, dreht ihm den Arsch zu und furzt. In der Befürchtung, dass die Unterhaltung jetzt derber wird, zieht Paul Gerhardt sich in seine Kammer zurück. Tatsächlich geben die Dichter nun Zoten und deftige Anekdoten zum Besten. Die Wirtin erzählt von ihrer Zeit als Marketenderin im Lager vor Mantua und prahlt damit, wie sie sich während der Erstürmung Magdeburgs 1631 durch Tilly bereicherte. Körbeweise habe sie den getöteten Magdeburgerinnen Goldketten vom Hals geschnitten, behauptet sie. Danach wurden (wieder von Rist, dann von Moscherosch) etliche Forderungen gereiht, darunter die Stärkung der Stände, der Verbleib Pommerns und des Elsaß beim Reich, die kurpfälzische Wiedergeburt, die Erneuerung des böhmischen Wahlkönigtums und – natürlich – die Freiheit jeglicher Konfession, die calvinistische mitgenannt. (Das hatten die Straßburger sich ausbedungen. (Seite 92)
Zur Überraschung der Dichter gibt es an diesem Tag üppig zu essen: fünf Gänse, ein Ferkel, ein Hammel und dazu Würste. Bei der Tischdecke scheint es sich um ein Altartuch zu handeln, und die Kerzenleuchter könnten ebenfalls aus einer
Woher ich das alles weiß? Ich saß dazwischen, war dabei. Mir blieb nicht verborgen, dass die Wirtin Libuschka eine ihrer Mägde in die Stadt schickte, etliche Dirnen für die Nacht anzuwerben. Wer ich gewesen bin? Weder Logau noch Gelnhausen. Es hätten ja noch andere geladen sein können; Neumark etwa, der aber in Königsberg blieb. Oder Tscherning, den besonders Buchner vermisste. (Seite 114f)
Nach dem Mittagessen am dritten Tag besprechen die Dichter erneut den Friedensaufruf. Ganz ohne Rists Donnerworte kam der neue Text aus. Keine letzte Wahrheit wurde verkündet. Schlicht las sich die Bitte der versammelten Poeten, gerichtet an alle den Frieden suchenden Parteien, die Sorgen der zwar ohnmächtigen, aber doch der Unsterblichkeit verdingten Poeten nicht gering zu achten. Ohne den Schwed, den Franzos als Landräuber haftbar zu machen, ohne den bayrischen Landschacher zu verklagen und ohne Nennung auch nur einer der zerstrittenen Konfessionen wurden mögliche Gefahren und Friedenslasten mit Blick in die Zukunft kundgegeben: Es könnten sich in das ersehnte Friedenspapier Anlässe für künftige Kriege schleichen; es werde, bei fehlender Toleranz, der so heiß ersehnte Religionsfrieden nur weiteren Glaubenszwist zur Folge haben; es solle doch, bitte, mit der Erneuerung der alten Ordnung, so sehr deren Segen erwünscht sei, das altgewohnte Unrecht nicht miterneuert werden; und schließlich die Sorge der versammelten Dichter als Patrioten: Es drohe dem Reich Zerstückelung dergestalt, dass niemand mehr in ihm sein Vaterland, das einstmals deutsch geheißen, erkennen werde. (Seite 173)
In seiner Abschlussrede meint Simon Dach, der Aufwand habe sich gelohnt. Noch während er redet, schreit die Wirtin: "Feurio!" Der Brand breitet sich vom schadhaften Reetdach her aus und zerstört den Brückenhof samt dem dazu gehörenden Stall. Das Manifest! rief Rist. Wo ist? Wer hat? Dach stand mit leeren Händen. Zwischen den Gräten des Fischgerichtes war auf dem langen Tisch der Friedensaufruf der deutschen Poeten vergessen worden. (Seite 180) In drei Planwagen fahren die Poeten nach Osnabrück. Von dort aus kehren sie einzeln oder in Gruppen in ihre Heimatorte zurück. |
Buchbesprechung:
1647, genau dreihundert Jahre vor der ersten Tagung der "Gruppe 47" in Herrlingen bei Ulm, findet ein (fiktives) Literatur-Treffen in Telgte östlich von Münster statt. Ein Jahr vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges – inmitten der Not, der Zerstörung und des moralischen Verfalls – wollen sich rund zwanzig Barock-Dichter gegen den kulturellen Niedergang stemmen. Dabei werden sie jedoch selbst zu Nutznießern des Krieges, denn ein kaiserlicher Offizier requiriert für sie gewaltsam Kost und Logis. Als ihnen vorgegaukelt wird, die in Münster versammelten Politiker würden sich für ihr Treffen in Telgte interessieren, glauben sie, ihre Machtlosigkeit überwunden zu haben. In literarischen wie konfessionellen Fragen heillos zerstritten, debattieren sie in Telgte und verfassen am Ende sogar einen Friedensappell. Weil sie das Papier dann aber auf dem Tisch liegen lassen, als sie wegen eines Feuers aus dem Gasthaus fliehen, geht das Manifest verloren und die Poeten reisen ab, ohne etwas erreicht zu haben. Wer ich gewesen bin? Weder Logau noch Gelnhausen. (Seite 115)
Bei Libuschka, der Wirtin des Brückenhofs in Telgte, handelt es sich um die Protagonistin des um 1669 von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen veröffentlichten Schelmenromans "Trutz Simplex oder Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche [...] Von der Courasche eigener Person dem weit und breitbekannten Simplicissimo zum Verdruß und Widerwillen dem Autori in die Feder dictirt, der sich vor dißmal nennet Philarchus Grossus von Trommenheim". Die Marketenderin lieferte auch das Vorbild für die Hauptfigur in dem 1941 uraufgeführten Drama "Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg" von Bertolt Brecht.
Die 23 Kapitel der Originalausgabe von "Das Treffen von Telgte" wurden in der Ausgabe des Rowohlt-Taschenbuchverlags von 1981 um "dreiundvierzig Gedichte aus dem Barock" erweitert. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Gruppe 47 |