Judith Hermann: Alice (Erzählungen) |
Judith Hermann: Alice |
InhaltsangabeMicha
Micha liegt aus irgendwelchen Gründen nicht an seinem Wohnort Berlin, sondern in Zweibrücken im Krankenhaus. Er leidet unter Krebs im Endstadium. Die Ärzte geben ihm nur noch Morphium gegen die Schmerzen. Vor zehn Tagen flog seine Frau Maja mit dem Kind zu ihm. Als sie begriff, dass Micha hier sterben würde, rief sie Alice an, und diese kam mit dem Zug aus Berlin. Aber Micha starb nicht. Nicht in der Nacht vom Montag zum Dienstag, auch nicht in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch, möglicherweise würde er am Mittwochabend sterben oder in der Nacht zum Donnerstag. Alice glaubte, gehört zu haben, die meisten Leute stürben nachts. (Seite 5)
Um 4 Uhr morgens weckt Maja Alice. Sie erhielt gerade einen Anruf aus dem Krankenhaus: Micha war zwei Stunden zuvor gestorben. Conrad
Alice fährt von Berlin zum Gardasee, um dort das siebzig Jahre alte Ehepaar Conrad und Lotte zu besuchen. Zwei Personen, die weder Lotte noch Conrad kennen, begleiten sie: Anna sitzt im Fond, und der Rumäne, dessen Namen wir nicht erfahren, am Steuer. (Judith Hermann klärt uns auch nicht über die Beziehungen der Figuren auf.) Richard
Richard liegt in seiner Wohnung in Berlin im Sterben. Seine Frau Margaret betreut ihn, und ein Pfleger kommt täglich vorbei, um ihm Morphium zu spritzen. Margaret ruft Alice an und sagt, sie brauche Wasser und Zigaretten. Obwohl es ihr arbeitsfreier Tag ist, fährt Alice hin. Ihr Ehemann oder Lebensgefährte Raymond liest gleichgültig weiter in einem Buch.
Margaret, sagte Alice. Am Sonntag fahren Alice und Raymond zu einem Picknick hinaus aus der Stadt. Am Abend geht Raymond in den Dienst. Alice setzt sich mit einem Buch in die Küche und legt das Telefon vor sich auf den Tisch. Malte
Als Malte vor fast vierzig Jahren eine tödliche Dosis Schlaftabletten schluckte, war seine Nichte Alice noch nicht auf der Welt. Sie wurde erst einen Monat später geboren. Raymond
Nach Raymonds Tod ist Alice dabei, seine Sachen auszusortieren und wegzuschaffen. Einzelne Kleidungsstücke sind mit Erinnerungen assoziiert, die sich ihr aufdrängen. Das Auto verschenkt sie, nachdem sie alle persönlichen Gegenstände herausgenommen und weggeworfen hat: Sie kann es sich nicht leisten und benötigt es auch nicht.
Sie redeten nicht über Raymond. Der Rumäne fragte nicht nach Raymond, und Alice sagte nichts darüber. Raymond hatte von dem Rumänen nicht viel gehalten, vielleicht war er eifersüchtig gewesen, hatte was gewusst oder geahnt oder einen Verdacht gehabt. Die Letzten werden die Ersten sein? Oder die Ersten werden die Letzten sein? Aber es gab nichts zu wissen. Würde es auch nicht. |
Buchbesprechung:
Unter dem Titel "Alice" hat Judith Hermann fünf Geschichten zusammengestellt. Fünfmal wird die Berlinerin Alice mit dem Thema Tod konfrontiert. Der Verlag gibt nicht an, ob es sich bei "Alice" um einen Roman oder einen Band mit Erzählungen handeln soll, aber es ist wohl eher letzteres der Fall, auch wenn alle fünf Geschichten aus Alices Perspektive erzählt werden und chronologisch angeordnet sind. Maja hatte gekocht, sie kochte absolut salzarm, ohne jeden Hokuspokus, eine Art biblisches Essen, man konnte es fade oder pur finden. (Seite 27) Was Judith Hermann über Majas Art zu kochen schreibt, gilt auch für "Alice": Die Darstellung ist radikal reduziert, schlicht, herb und nüchtern. Die lakonische Sprache besteht aus einfachen Wörtern und kurzen Sätzen. Das kann man fade oder pur finden. Ist das nicht ein Übermaß an Tragödienstoff und Krisenpotenzial? Keineswegs, wenn der Mehltau des Hermann-Tons darüber liegt, dieser zarte Frosthauch einer Grundmelancholie, die gegen veritable Erschütterungen resistent bleibt. Die dazugehörige Erzähltechnik besteht in einem wie beiläufigen, doch ostentativ empfindsamen Aufsammeln und Anordnen von Alltagspartikeln, Beobachtungen, Bildausschnitten, Gesprächsfragmenten. Das ist zuweilen banal und flach, dann wieder etwas unbeholfen mit Bedeutung aufgeladen, aber an manchen Stellen führt es zu atmosphärischen Verdichtungen von poetischer Kraft [...] (Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 5. Mai 2009)
Bei Conrad dachte Judith Hermann möglicherweise an den Schriftsteller und Literaturkritiker Reinhard Baumgart, der am 2. Juli 2003 im Alter von vierundsiebzig Jahren am Gardasee starb. Und der Name Raymond könnte sich auf ihr Vorbild Raymond Carver beziehen. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Judith Hermann: Sommerhaus, später |