Manuel Karasek: Mirabels Entscheidung (Roman) |
Manuel Karasek: Mirabels Entscheidung |
Inhaltsangabe:Der 46 Jahre alte Jorge Mendoza, der in Caracas eine Schneiderei betreibt, und die 28-jährige Immigrantentochter Blanca Cruz heiraten 1926. Er begriff das als seine letzte Chance, eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Und da die Schneiderei gut lief und er Blanca, die als Teilzeitangestellte in seinem Betrieb arbeitete, schon etwas besser kannte, lag es nahe, die Verbindung zu vertiefen. Beide schlossen im Grunde ein gutes Geschäft ab: Blanca wollte nicht als Hure enden, Jorge Mendoza fürchtete sich vor dem Junggesellendasein im fortgeschrittenen Alter.
Bis 1940 zeugt das Ehepaar zwölf Kinder, von denen acht überleben: die älteren Töchter Elvira, Flora und Amalia, die jüngeren Töchter Lidia, Isabel und Mirabel sowie die beiden 1928 bzw. 1938 geborenen Söhne Jorge Manuel und Juan Daniel. Nur die Söhne dürfen studieren. Jorge Manuel wird Rechtsanwalt, Juan Daniel Geologe.
Er war verliebt in sich selbst und seine Klugheit, weil das junge und attraktive Mädchen ihn bewunderte. Das ging nicht lange gut. Anfang März 1963 fliegt Mirabel mit dem kleinen Sohn Jorge nach Venezuela. Sie ist ihres untreuen Ehemanns ebenso überdrüssig wie des fremden, kalten Landes. Gut ein halbes Jahr verbringt Mirabel in Caracas, dann kehrt sie mit Jorge zu Hanns zurück.
Eines Abends kehrte Hanns früher heim als vorgesehen und erwischte seine Frau in flagranti. Ausgerechnet ein Kollege hatte es sich im Bett von Mirabel bequem gemacht. Es war eine unangenehme Szene. Der Kollege, der seine Kleidung vom Boden auflas, das schlechte Gewissen Mirabels, Hanns' Fassungslosigkeit, das Ringen um Worte. Hanns hatte nicht damit gerechnet, dass ihm das mal passieren würde. Er war verletzt, und es dauerte, bis er den Vorfall überwunden hatte. [...]
Im Herbst 1967 wird der zweite Sohn geboren: Javier. Hanns, der bei der Stuttgarter Zeitung zum Ressortleiter aufstieg, wechselt zu einem Wochenblatt. Weil der Egozentriker sein Geld regelrecht verschleudert, sucht er ständig nach neuen Einnahmequellen. Dem reichen und mächtigen Verleger wurden die Forderungen der 68er zu radikal. Er sei auch nur ein rücksichtsloser Kapitalist, hieß es. Den Verlust an Popularität empfand er fast wie einen Drogenentzug. So fasste er um 1973 herum einen folgenreichen Entschluss. Die Mitarbeiter des Magazins waren fortan an der Hälfte des vom Magazin erwirtschafteten Gewinns beteiligt.
Rainer Fels überredet Hanns Torzek, zu kündigen und überträgt ihm das Kulturressort II. Hanns Torzeks neue Chefs, die beiden Chefredakteure, heißen Erich Sern und Hermann Dolorit. Anfang 1977 mietet er eine kleine Wohnung in Hamburg-Eppendorf. Es war eine eindrucksvolle Zusammenstellung, und einige der Frauen kannte Mirabel. Es gab für sie keinen Zweifel, dass sie ein offenes Dokument der von ihm in letzter Zeit begangenen Ehebrüche in den Händen hielt. Aber statt ihm die Liste vor die Nase zu halten – was keinen Sinn gehabt hätte, da Hanns meisterlich darin war, Ausflüchte zu finden –, warf sie die Liste in den Mülleimer. In ihr reifte der Entschluss, ein eigenes, von Hanns unabhängiges Leben zu führen. Als sie in den Osterferien mit Jorge und Javier in der Schweiz beim Skifahren ist, begegnet sie Yves … Er fuhr einen Alfa Romeo und hatte einen halsbrecherisch sicheren Fahrstil wie ein Formel-1-Rennfahrer. Yves war in die Geschäfte seiner Eltern eingestiegen, die in Straßburg lebten und seit Jahrzehnten mit Inneneinrichtungen wie Gardinen oder Stehlampen handelten. Sie waren nicht sonderlich glücklich über diese Verbindung. Was wollte ihr Sohn mit einer verheirateten Frau aus Südamerika?
Hanns beginnt ein Liebesverhältnis mit Luise Brähmer. Die 23-Jährige, die in ihrer Heimatstadt Köln Literaturwissenschaften studiert, ist nach Hamburg gekommen, um als Hospitantin bei einer "Peer Gynt"-Produktion des Regisseurs Hajo Gies mitzuwirken. Ihr Lebensgefährte Rolf war kurz zuvor auf der Autobahn bei Bremen mit einem Lastwagen kollidiert und in seinem Wagen verbrannt. Um die Angelegenheit einigermaßen vernünftig zu regeln, hatte er Mirabel gebeten, sobald Jorge, der bald die Schule beendet haben und ausziehen würde, mit Javier in eine preiswertere Wohnung zu ziehen. Wie zu erwarten, hatte Mirabel erbost reagiert.
Sigismund Winter, einer der zwei Chefredakteure einer führenden Wochenzeitung, wirbt Hanns Torzek mit einem höheren Gehalt vom "Magazin" ab. Javier konnte sich bei seiner extravaganten Mutter bedanken. Zwei volle Monate befreite ihn Mirabel, die künstlerische Leiterin seines Lebens, vom Schuldienst.
Für die letzte Reiseetappe von der Insel Margarita nach Carcas benutzen Mirabel und Javier ein Flugzeug. Sie ziehen zur Mutter bzw. Großmutter Blanca. Die 79-jährige Witwe wohnt seit 1968 mit der Tochter Isabel in einem Hochhaus. Mirabels Schwester Flora lebt ebenfalls wieder in Venezuela. Von ihrem deutschen Ehemann Jürgen hat sie sich scheiden lassen. Dass die meisten der Schulkameraden ihn für schwul hielten, erwies sich als gravierendes Problem. Er muss eine Klasse wiederholen.
Durch die Wiederholung des Schulstoffs wurden seine Zensuren deutlich besser, was seine Stimmung hob, doch Mirabel entging nicht, dass er die Humboldt-Schule nicht ausstehen konnte. Javier hatte noch immer so gut wie keine Freunde auf dieser Schule.
In den Sommerferien 1980 kommt der beim Vater in Deutschland gebliebene Jorge zu Besuch nach Caracas. Danach wird Mirabel krank und muss operiert werden. Das venezolanische Experiment war gescheitert.
Mitte April 1981 fängt Javier ein Tagebuch an. |
Buchbesprechung:
Vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte in Deutschland und Venezuela erzählt Manuel Karasek in seinem Roman "Mirabels Entscheidung" von einer konfliktreichen, mehrmals zerbrochenen und gekitteten, nach 20 Jahren endgültig gescheiterten Ehe. Hanns Torzek flüchtete als Kind mit seinen Eltern aus Schlesien und im Alter von 18 Jahren aus der DDR in die Bundesrepublik. Mirabel Mendoza stammt aus Venezuela. Mehrmals kehrt sie verzweifelt nach Caracas zurück, aber in dem sich rasch verändernden Land fühlt sie sich kaum weniger fremd als in Deutschland. Umso mehr gilt das für ihren jüngeren Sohn Javier, der zwar in zwei Kulturen wurzelt, aber sowohl in Hamburg als auch in Caracas als Außenseiter gesehen wird. Doch als glücklichen Mann begriff sich Hanns nicht. Er empfand die bürgerliche Ordnung als ein System von Zwängen.
"Mirabels Entscheidung" setzt 1979 ein und endet 1981, aber die eigentliche Handlung beginnt sehr viel früher, und Manuel Karasek führt uns denn auch nicht chronologisch durch die Familiengeschichte, sondern springt zeitlich vor und zurück. Obwohl Javier nicht als Ich-Erzähler auftritt und in manchen Kapiteln gar nicht vorkommt, stimmt die Perspektive weitgehend mit seiner überein. Statt zu inszenieren schildert und erzählt Manuel Karasek. Dialoge oder wörtliche Rede sucht man nahezu vergeblich in dem Roman. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Hellmuth Karasek (kurze Biografie) |