Marie Luise Kaschnitz: Lange Schatten (Erzählung) |
Marie Luise Kaschnitz: Lange Schatten |
Inhaltsangabe: Eine Familie ist eine Plage, warum kann man nicht erwachsen auf die Welt kommen und gleich seiner Wege gehen. Ich gehe meiner Wege, sagt Rosie eines Tages nach dem Mittagessen und setzt vorsichtshalber hinzu, in den Ort, Postkarten kaufen, Ansichtskarten, die an die Schulfreundinnen geschrieben werden sollen, als ob sie daran dächte, diesen dummen Gören aus ihrer Klasse Kärtchen zu schicken [...] Sie wandert in den Ort, genießt das Alleinsein, füttert einen Hund mit dem halben Brötchen, das sie noch vom zweiten Frühstück in der Hosentasche hat, durchquert den Ort, und während der zwölfjährige Junge, dem der Hund gehört, ihr folgt und sich nicht abweisen lässt, geht Rosie weiter bergauf, folgt schließlich einem Pfad, der von der Straße abzweigt und zwischen Felsen und Macchia steil bergab führt. Er kann nicht wie die Großen herrisch auftreten, lustig winken und schreien, ah, bella [...] Sein Glück, er weiß nicht, was das ist, ein Gerede und Geraune der Großen, oder weiß er es doch plötzlich, als Rosie vor ihm zurückweicht, seine Hand wegstößt und sich, ganz weiß im Gesicht, an die Felswand drückt? [...] Der kleine Pan, flehend, stammelnd, glühend, will seine Nymphe haben, er reißt sich das Hemd ab, auch die Hose, er steht plötzlich nackt in der grellheißen Steinmulde vor dem gelben Strauch und schweigt erschrocken [...] Rosie starrt den nackten Jungen an. Eigentlich gefällt er ihr, doch plötzlich kommt er ihr wie ein Wolf vor, und sie erinnert sich, was ihr Vater gesagt hat: Vor einem wilden Tier darf man nicht weglaufen, sondern man muss es anstarren. Rosie, die zusammengesunken wie ein Häufchen Unglück an der Felswand kauert, richtet sich auf, wächst, wächst aus ihren Kinderschultern und sieht dem Jungen zornig und starr in die Augen [...]
Beschämt weicht der Junge zurück und zieht sich wieder an. Er weint wie das Mädchen, das zum Strand hinunterstolpert. |
Buchbesprechung:
[...] meine Figuren [...] stehen alle unter der Einwirkung rationalistisch nicht zu erklärender Mächte, gegen die sie ankämpfen oder denen sie sich beugen oder an denen sie zugrunde gehen.
Marie Luise von Holzing-Berstett wurde am 31. Januar 1901 als Tochter eines Offiziers in Karlsruhe geboren.
|
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003 Textauszüge: © Claassen Verlag Seitenanfang |
Marie Luise Kaschnitz: Das dicke Kind Marie Luise Kaschnitz: Der Strohhalm Marie Luise Kaschnitz: April |